Ein Auszug aus - kassiber 34 - Februar 98

Editorial


"Wir treiben erheblichen Aufwand, um Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, jeden Monat kompetente Entscheidungshilfen zu geben", schreibt der Chefredakteur, Werner W. Klingberg, von der Zeitschrift plus, bei der es sich wahrscheinlich um das B-Team von Stiftung Warentest handelt. Sein Ziel, "daß sich jedes Heft für Sie bezahlt macht", haben wir ebenfalls auf unsere Fahnen geschrieben. Wenn Sie auf leicht durchschaubare Werbetricks und -strategien hereinfallen, wie etwa: "Spiegel-Leser wissen mehr", "Wer Weser-Kurier liest urteilt besser" usw., dann sind Sie bei uns an der richtigen Adresse: Denn kassiber-LeserInnen wissen noch mehr und urteilen noch besser! Damit Sie sich darüber vergewissern können, daß Sie tatsächlich das, was Sie bei uns sparen, woanders ausgeben können, folgt ein essayistischer Themenüberblick.

Helmut Maucher, Präsident des Verwaltungsrats von Nestlé, hat es geschafft. Sein Neologismus "Wohlstandsmüll" belegt Platz eins der Unwörter des Jahres. Gemeint ist damit nicht etwa der neue Elfenbeinrückenkratzer von Mr. Burns [buuh'örns], sondern Leute, die "entweder keinen Antrieb haben, halb krank oder müde sind, [und] das System einfach ausnutzen". Mauchers raffinierte Wortkreation, die die Jury als "hoffentlich letzten Gipfel in der zynischen Bewertung von Menschen ausschließlich nach ihrem Marktwert" bezeichnet, chrakterisiert merkwürdigerweise gerade in Verbindung mit dem 'wirklichen' Wort des Jahres, "Reformstau" (ermittelt von der Gesellschaft für deutsche Sprache), die geistige Verfasstheit der BundesbürgerInnen. Davor ist nicht einmal die deutsche Möchte-gern-Elite, die StudentInnen, gefeit. Mit einfallsreichen Ideen, wie Blut spenden, Schuhe putzen, in der Weser baden gehen usw., beeindruckten sie die kritische Öffentlichkeit und hofierten bei den Politikern. Am generellen Reformwillen "finden sie gut", wie Margaret Wirth in ihrem Artikel Hochschulreform und Studentenstreik. Die Bildungsreform entlässt ihre Kinder feststellt, "daß Studenten sich nicht - wie andere, in der letzten Zeit in die Schlagzeilen geratene Jugendliche - politikverdrossen dem 'Hedonismus hingeben', ausflippen, 'null Bock' haben oder sich der Jugendgewalt-Szene zuordnen". Warum allerdings die BildungspolitikerInnen weder einen Grund sehen, "die gültige bildungspolitische Linie infragezustellen" noch sich von "Parolen wie 'Bildungsklau' beeindrucken lassen" und vor allem, warum am studentischen Urteil über die angebliche Misere leider gar nichts stimmt, wird dort überzeugend dargestellt. In einem weiteren Artikel zum Schwerpunkt Unistreik analysiert Georg Fülberth, Eine Bewegung in der Falle ihrer neuen Freunde?, mit einem historischen Ansatz, warum antagonistische Kooperationen möglich sind, "bei denen selbst Protestbewegungen mehr im Interesse der tatsächlichen Machthaber funktionieren, als dies auf den ersten Blick erscheint". Auch Brians Beitrag zum Unistreik, sozusagen aus der Mitte der StudentInnenbewegung bzw. von deren linken Rand (Internationaler Block), Wir leben nur von unserem Wissen und Können, der die Auseinandersetzung mit dem studentischen Protest vervollständigt, läßt an der Bewegung kein gutes Haar: "Die Studibewegung ist ein Reflex der Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat: Der Anschluß an den Standort hat den Ausschluß von Flüchtlingen/MigrantInnen und Frauen zur Voraussetzung. Dementsprechend ist auch die Form, in der sie für ihre Ansprüche kämpft, nach oben zu buckeln und nach unten zu treten."

Da paßt es wie die Faust aufs Auge, daß sich der AStA der Universität Bremen, sowieso schon mit straf- und verwaltungsrechtlichen Ermittlungsverfahren überhäuft, über ein neues Ermittlungsverfahren wegen "Übler Nachrede" erfreuen darf. Diese haben bereits am 14. Januar 1998 zu Hausdurchsuchungen incl. Beschlagnahme usw. geführt (s. dazu Presseerklärung des AStA in diesem kassiber). Sicherlich wird bei dieser "Bedrohungslage" unser Henning im Bundesrat der Grundgesetzänderung zustimmen oder konstruktive "Nachbesserungen" unterstützen, damit solch "kriminelles Potential" endlich besser in den Griff zu bekommen ist. Mehr Erfolge hat da bereits die Aktion Saubere Stadt vorzuweisen, die inzwischen mit Hilfe eines "innovativen Konzeptes" der Deutschen Städte-Reklame GmbH das "wilde Plakatieren" eingedämmt hat (s. kassiber 33). Doch "auch das aktive Einschreiten der Polizei gegen Farbvandalismus ist unverzichtbar", so Innensenator Borttscheller. Deshalb liegen jede Nacht fesche Beamte der Ermittlungsgruppe Graffiti auf der Lauer, um verstörte Kiddys zu erschrecken (s. dazu die spannenden Berichte über diese Aktionen im Weser-Kurier). Dieses aktive Einschreiten sei vor allem deshalb unverzichtbar, weil, wie eine 100seitige Studie des Bremer Ex-LKA-Chefs Schäfer beweise, die Schmierereien besonders bei älteren Menschen Bedohungsgefühle und Ängste auslösten (s. Weser-Kurier v. 15.1.98). Weniger von Menschfreundlichkeit geleitet zeigt sich da die Innenbehörde, wenn Abschiebungen auf der Tagesordnung stehen. Obwohl das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit Togo als "Terrorsystem gegen die Zivilbevölkerung" bezeichnet und diverse Menschenrechtsorganisationen die politische Lage weiterhin als "problematisch" einstufen, schiebt Bremen jetzt wieder dahin ab. Die deshalb durchaus berechtigte Kritik an den weiteren bevorstehenden Abschiebungen nach Togo, trotz einer Verständigung der Bundesinnenminister 1996 über ein einheitliches Abschieben, kontert der Bremer CDU-Fraktionschef Ronald-Mike Neumeyer mit einem an Zynismus wohl kaum zu übertreffenden Argument: "Ein direkter politischer Eingriff in die Justiz sollte sich bei jedem geschichtsbewußten Demokraten verbieten." ["Da bleibt dem Lama doch die Spucke weg!"] Wer hier auf "Unmenschlichkeit" verweist und "aktiv" einschreitet, wie beispielsweise das Antirassismus-Büro (ARAB), dem stehen eher Hausdurchsuchungen, als einfühlsame Moralisierungen bevor. Mehr zu diesen Themen im Magazin/Was bisher geschah und in den Artikeln Hausdurchsuchung im Antirassismus-Büro und Sielwallhaus sowie Solidaritätserklärung.

Auch der Artikel It's easier to make a hole than to build a pole. Genitale Korrekturen an intersexuellen Menschen widmet sich sauberen Trennungen bzw. Unterscheidungen. So stellt die Bundesregierung in einer Antwort auf die kleine Anfrage der Abgeordneten Christina Schenk und der Gruppe der PDS überzeugend fest: "Soweit in den rechtlichen Regelungen des bundesdeutschen Rechts der Begriff des 'Geschlechts' gebraucht wird, ist dieser immer eindeutig den alternativen Kategorien 'männlich' und 'weiblich' zugeordnet. Da die rechtlichen Regelungen nicht aussagen, was unter diesen Begriffen zu verstehen ist, müssen diese Begriffe nicht juristisch, sondern medizinisch-naturwissenschaftlich bestimmt werden." Daß und warum sich diese medizinisch-naturwissenschaftlich Bestimmung als "Willkür" gestalten kann, beinhaltet der Artikel ebenso, wie unter welchen Folgen die "Zugewiesenen" leiden müssen, ob es einen Unterschied von "Female Genital" -und der "Intersex Genital Mutilation" gibt usw. Auffallenderweise will von diesem wenig bekannten Thema, das gerade in der Diskussion um sex und gender bzw. der Geschlechterkategorien eine besondere Brisanz erfahren könnte, niemand so richtig was wissen: Weder die neue Frauenbewegung, die Anfang der 70er einmal damit angetreten ist, die Geschlechterkategorien aufzulösen, noch menschrechtsorientierte KritikerInnen von "Genitalverstümmelungen in Afrika".

Hingegen sehr hohe Wellen schlägt immer wieder die Diskussion um die Berufung und Tätigkeit des Frankfurter Hirnforschers Andreas Kreiter an der Bremer Uni. Daß sich auch in diesem Kontext physiologisch-naturalistische Reduktionismen als völlig ungeeignet erweisen und auch eine Kritik, die sich wesentlich in moralischen Kategorien bewegt, zu einer sehr begrenzten Sichtweise führen muß, beweißt unsere Hochschulkorrespondentin Susanne Klickerklacker im Artikel Grober Unfug. Von Affen, Professoren und Erkenntnis.

Bei soviel Verwirrung bietet es sich doch geradezu an, wie immer mehr Menschen im "modernen religiösen Supermarkt" (Wölflingseder) shoppen zu gehen. Warum es kein Zufall ist, daß der 4. Esoterik-Kongreß "Visionen menschlicher Zukunft" in Bremen von PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen und Presse unterstützt, vom Wirtschaftssenator finanziell gefördert und u.a. von Bürgermeister Scherf eingeleitet wurde und Sie lieber woanders einkaufen gehen sollten - beantworten Hazel Henderson und Hans Hansen in Antivisionen und linke Perspektiven.

Noch eine weitere praktische Entscheidungshilfe zum Schluß: Daß eine Rekrutenvereidigung im Weserstadion vollkommen blödsinnig ist, versteht sich schon aus sportlichen Gründen: Wie soll es denn zwischen ein paar tausend Mann zu einem interessanten Fußballspiel kommen? Doch auch die anderen Vorschläge, deutsche Schlagkraft wieder salonfähig zu machen, sind nicht viel besser. Die Grünen haben da mal wieder den Elch abgeschossen: Geschichtsbewußt sollen die deutschen Rekruten "an historischen Stätten wie dem U-Boot-Bunker Valentin vereidigt" werden. Doch dazu mehr im nächsten kassiber (Nr. 35, Redaktionsschluß: 15. April 1998)

Die Redaktion, 22.1.1998


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kombo(p) - 16.02.1998