Ein Auszug aus - kassiber 34 - Februar 98

Schwerpunkt

Anmerkungen zu den StudentInnenunruhen 1997

"Wir leben nur von unserem Wissen und Können"



Seit sich Anfang November eine breite nationale akademische Bewegung formierte, sind viele Artikel erschienen über das seltsame Phänomen LUCKY STREIK, den sozialen Protest, der sich nach einer Zigarettenmarke benennt. Einer der Allgemeinplätze, die in jedem Artikel über die StudentInnenbewegung auftauchten, ist, daß sich diese Bewegung grundlegend von allen früheren StudentInnenprotesten unterscheidet.

In goldene Worte gefaßt hat diesen Umstand der direkte Adressat der Proteste, Bundesbildungsminister Jürgen Rüttgers. Er sah die Proteste als berechtigt an, da die StudentInnen "nicht die Weltrevolution fordern, sondern lediglich bessere Studienbedingungen". Dieser angenehme Realismus hat viele liberale FeuilletonschreiberInnen zu ironischen Spitzen gegen die StudentInnen veranlaßt, die sich durch kostenloses Autoputzen, Bockspringen durch die Innenstadt oder gar Marathon- und Fackelläufe Gehör zu verschaffen versuchten.

Doch Herr Rüttgers ist als eloquenter Vertreter der deutschen Bourgeoisie und ihres zeitgemäßen Bildungs- und Gesellschaftskonzeptes weitaus klüger, als manch eine denkt. Hinter seiner Aussage steckt der Gedanke, daß diese StudentInnenbewegung ehrlicher ist als frühere, weil sie offen zugibt, auf welchem sozialen Boden sie steht und nicht vorgibt, für die allgemeine gesellschaftliche Befreiung zu kämpfen und gar die Produktionsverhältnisse umwälzen zu wollen.

Mit der Selbsttäuschung ist es jetzt vorbei. Die Massen der Streikenden, die im November und Dezember 1997 auf die Straßen der Republik strömten, machten deutlich, daß sie nicht die Weltrevolution wollen können. Viele von ihnen vollzogen sogar die Denkbewegung vom abstrakt-allgemeinen zum sinnlich-konkreten: "Wir streiken nicht für Asylbewerber!" hieß es programmatisch auf einer Marburger Vollversammlung.

Diese Wende in der ideologischen Ausdrucksform der StudentInnenbewegung überraschte wohl viele. Rüttgers quittierte sie - und mit ihm viele Herrschende aus Wirtschaft und Politik - mit einer offenen Sympathiebekundung (die dann von den StudentInnen als Zusage verstanden wurde, den Mißständen abzuhelfen - so daß einige von ihnen sauer waren, als sich herausstellte, daß dem nicht so war). Der offensive Realismus der StudentInnen von heute stellt die Effektivität der Bewegung in den Vordergrund, zu deren Behufe ein eiserner Konsens in puncto Forderungen, Auftreten und Koordinierung der Bewegung erzeugt werden sollte. Eine panische Angst machte sich unter den AktivistInnen breit, daß jegliches Abweichen von diesem Konsens das Fehlschlagen der Proteste und damit schließlich das Scheitern der je eigenen Lebensperspektive zur Folge haben würde.


Der internationale Block und der nationale Konsens

Das beste Beispiel hierfür sind die Aktivitäten der ausländischen und linken StudentInnen, die sich in der Formierung einer Kampagne ausdrückten, die sich Internationaler Block nennt. Zu Beginn der bundesweiten Streikaktionen wurde am 4. November an der Universität Bremen eine Resolution verabschiedet, in der die Abschaffung aller AusländerInnengesetze gefordert wurde. Auch wenn diese zentrale Forderung immer wieder von einigen "Aktiven" ausgelassen wurde, sobald es um die Selbstdarstellung der Streiks ging, haben die Aktivitäten ausländischer uns antirassistischer Studierender einen wichtigen und an der Uni selbst unüberhörbaren Teil der Kämpfe ausgemacht. Auch in Marburg bildete sich eine Gruppe ausländischer Studierender, die im Rahmen des Streiks auf ihre Situation hinwies. Zusammen mit solidarischen antifaschistischen und feministischen StudentInnen organisierten sie für eine Großdemonstration in Marburg einen internationalen, links- antipatriarchalen Block. Daraus entwickelte sich die Idee, auch auf der bundesweiten Demonstration in Bonn am 4. Dezember einen solchen Block zu formieren. Ziel des Blockes war es, offensiv die Forderungen nach Abschaffung der AusländerInnengesetze und finanzieller Unterstützung für alle, egal welcher Herkunft, zu vertreten (BAföG steht nur StudentInnen mit deutschem Paß zu - und von denen bekommen es nur noch 15 Prozent). Wir hielten diese grundlegenden Forderungen für einen unverzichtbaren Bestandteil der StudentInnenproteste und wollten die DemonstrantInnen sowie die Öffentlichkeit darauf aufmerksam machen.

Nach Absprachen mit der zentralen Demoleitung setzten wir uns an die Spitze des Demonstrationszuges und erreichten es mit Megaphondurchsagen, daß sich spontan mehrere hundert ausländische und antifaschistische Studierende zusammenfanden, um zu zeigen, daß eine Einheit der StudentInnenbewegung nur dann möglich ist, wenn auch die Forderungen der am meisten Unterdrückten artikuliert werden können. Die Demoleitung jedoch reagierte plötzlich gereizt: Sie handelte mit der Presse aus, nicht eher zu fotografieren, bis geeignete Titelbilder gemacht werden konnten, und kümmerte sich darum, den Block aufzulösen, indem StudentInnen an der Teilnahme gehindert wurden, mehrfach durch OrdnerInnen Gewalt angewandt wurde und schließlich 200 willige HelferInnen angeworben wurden, die sich mit einem medienwirksamen Transparent vor den Block setzen sollten. Als der Demozug losging, wurde dem Troß hinter dem internationalen Block befohlen, mindestens 50 Meter Abstand zu den "Kanaken und Chaoten" zu halten. Die Demoleitung benutzte die offensichtliche Falschmeldung, daß vorne "Steine geschmissen" würden, dazu, um dem Block die Polizei auf den Hals zu hetzen, die den Lautsprecherwagen entwenden sollte. Einen Block, der überwiegend aus Leuten ohne deutschen Paß besteht, zu isolieren und die Polizei zu bitten, gegen diesen Block einzuschreiten, heißt nichts anderes, als gezielt die Mißhandlung von AusländerInnen zu provozieren. Als die Provokation mißlang, wurde dann der Block von mehreren Zehnergruppen von StudentInnen infiltriert, die mit ihren Sprechchören wie "Bildung! Bildung!!!" oder "Schnauze!" die Slogans aus dem Block zu übertonen versuchten.


Das politische Mandat und die berittene Polizei

Die Anwendung von Gewalt gegen ausländische MitstudentInnen, ob unmittelbar durch studentische OrdnerInnen oder mittelbar durch die Polizei, ist nur der deutlichste Ausdruck der Grundhaltung der Masse der StudentInnen in politischen Fragen.

Das Vorhandensein dieser Grundhaltung ist mittlerweile wohl unbestreitbar, zumal ihre VertreterInnen auch bereit sind, sie vehement zu verteidigen, wenn sie darauf angesprochen werden. Es ist der Initiative verschiedenster Hochschulgruppen ausländischer und linker Studierender in verschiedenen Anstalten nicht gelungen, diese Grundhaltung zu durchbrechen und die grundsätzlichen Forderungen nach Abschaffung der AusländerInnengesetze, finanzieller Unterstützung für alle, egal welcher Herkunft, sowie einem Ende der sexistischen Diskriminierung in Hochschule und Gesellschaft durchzusetzen. Sie wurden bisher nicht in dieser Form in den ominösen Bundesweiten Maßnahmen- und Forderungskatalog aufgenommen, und an den wenigen Universitäten, an denen sie auf Vollversammlungen verabschiedet wurden, blieb dies allzu oft folgenlos. Nicht einmal die rein studentische Forderung nach einem politischen Mandat für die Studierendenvertretungen, ohne das eine Meinungsäußerung zu politischen Themen bei Geldstrafe untersagt ist, fand so recht Anklang bei den Streikwütigen, die ja sowieso "gegen Funktionäre" sind und daher die ASten ebensowenig brauchen wie Menschen, die ihnen zeigen, wo Kurdistan auf der Landkarte liegt.

Wenn eine StudentInnenbewegung teils aus Unwissen, teils aus Überzeugung die Angriffe auf die Meinungsfreiheit studentischer Interessenvertretungen ignoriert und ratifiziert, so bedeutet dies, daß sie nicht einmal am abstrakten Recht interessiert ist, politische Äußerungen überhaupt machen zu dürfen. Vor diesem Hintergrund darf es umso weniger verwundern, daß im konkreten die politische Artikulation der ausländischen und linken StudentInnen nicht nur übergangen, sondern mit offensiven Mitteln bekämpft wird. Die Arbeit der antirassistischen und antisexistischen StudentInnengruppen bestand fast ausschließlich darin, die erwähnten Forderungen in die Bewegung "hineinzutragen". Es ist ohne Zweifel richtig, anzumerken, daß diese Arbeit noch beharrlicher und besser koordiniert hätte geschehen sollen. Doch zeichnete sich das definitive Scheitern dieser Versuche mitsamt seinen objektiven Grundlagen ab einem bestimmten Punkt deutlich ab. Denn solche Versuche widersprechen den materiellen Interessen eines Großteils der StudentInnen. An diesem Punkt wäre ein deutlicher Bruch und eine systematische Reflexion über die Lage und das Bestimmen einer neuen Arbeitsweise nötig gewesen.

Ein deutlicher Bruch vollzog sich in der Praxis, als nach vielen Wochen der Proteste mehrere hundert TeilnehmerInnen der zweiten Großdemo in Bonn am 18. Dezember in die Bannmeile eindrangen. Vom Rest der Demo getrennt, wurden sie von berittener Polizei niedergeknüppelt. Es erfolgte keinerlei Solidarisierung der Demoleitung mit den Verletzten. Vielmehr exklamierte ein Sprecher eiligst: "Wer in die Bannmeile eindringt, gehört nicht zu uns!" Den Mut, StudentInnen die Köpfe einzuschlagen, ohne weitere Proteste zu erregen, schöpfte die Einsatzleitung der Polizei aus dem Verhalten der Demoleitung. Vor weniger als einem Jahr hatten die BergarbeiterInnen weithin Applaus für ein und dieselbe Aktion geerntet. Von den StudentInnen werden diejenigen KomilitonInnen, die zur gleichen Protestform greifen, zu gemeinen "Krawallmachern" und "Störern" degradiert werden. Die Feigheit und Servilität des Verhaltens der WortführerInnen der StudentInnenbewegung läßt sich am besten natürlich, wo auch sonst, im Internet nachprüfen. Dort schreibt das zuständige Pressebüro WiSo-Köln: "Informationen bezüglich der Ereignisse in der Bannmeile entnehmen Sie bitte der Pressekonferenz der Polizei."


Die BündnispartnerInnen und deren Standort

Der Arbeitgeberpräsident Hundt, dessen Vorgänger von einer aus der StudentInnenbewegung hervorgegangenen Gruppe exekutiert worden war, schickte eine Solidaritätsadresse. Die Frankfurter Börse machte im Rahmen der neoliberalen Öffnung deutlich, daß Sponsoring öffentlicher Einrichtungen nicht nur Staatsaufgabe ist und schenkte den streikenden FrankfurterInnen 25 Computer. Der Immobilienmakler Peter Sommer aus Berlin wünschte in einem Solidaritätsfax den Studierendenvertretungen "allen nur denkbaren Erfolg" bei ihrem "ehrenwerten Versuch, die Bundesrepublik Deutschland aus ihrem bildungspolitischen Schlaf zu wecken". Da die Hochschulen die "geistigen Visitenkarten eines Landes" seien, kann Herr Sommer nur hoffen, daß "die vereinigte deutsche Studierendenschaft" doch über "genügend schöpferische Phantasie" verfüge, um endlich "Taten sprechen" zu lassen.

Eine Betrachtung der Aktionsformen, der Forderungen und Äußerungen der Streikenden zeigt, daß es ihnen genau um diese BündnispartnerInnen geht. Auch wenn die eigentlichen Forderungen ersteinmal "unpolitisch" in dem Sinne sind, daß sie einen außerakademischen Rahmen bewußt vermeiden, so steckt doch gerade in dieser Selbstdefinition der StudentInnenbewegung eine klare politische Aussage, mit der sich die TeilnehmerInnen letztendlich identifizieren, ob bewußt oder nicht. Am prägnantesten ist diese Aussage in einem Schreiben der Giessener StudentInnen ausgedrückt, die ja das Banner der Bewegung, LUCKY STREIK, in Anlehnung an eine Zigarettenreklame entworfen hatten. Sie fordern alle Unis dazu auf, sich mit ihrem Streik zu "solidarisieren". Dann folgt der Nachsatz "Unser Motto: Deutschland ist kein Agrarland. Wir haben keine Bodenschätze. Wir haben keine billigen Arbeitskräfte. Wir leben von unserem Wissen und Können."

Erst einmal stellt sich die Frage, ob z.B. Brasilien, weil es Agrarland ist, über Bodenschätze verfügt und billige Arbeitskräfte zu Hauf hat, nur aus der Gnade der imperialistischen Nationen heraus noch lebt und sowieso keine Bildung braucht. Dann erschreckt das widerstandslose Nachbeten der chauvinistischen Standortlogik. "Bildungsnot ist Deutschlands Tod" war ein anderer Slogan auf der Demonstration in Düsseldorf, und Leute, die andere Forderungen als die opportunen stellten, bekamen "Anpassen oder Maul halten" zu hören. Spätestens hier stellt sich heraus, daß die Tonangebenden bei den Protesten nicht etwa aus reinem Egoismus handeln und nur ihre eigenen Studienbedingungen verbessert wissen wollen, sondern daß sie sich durchaus unter das nationale Kollektiv unterordnen und sehr genau wissen, daß ihre persönliche Karriere nur dann einen Sinn macht, wenn sie der Konsolidierung der Vormachtsstellung Deutschlands in der Welt dienlich ist.

Die Studibewegung ist ein Reflex der Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat: Der Anschluß an den Standort hat den Ausschluß von Flüchtlingen/MigrantInnen und Frauen zur Voraussetzung. Dementsprechend ist auch die Form, in der sie für ihre Ansprüche kämpft, nach oben zu buckeln und nach unten zu treten. So produziert das bloße Streben, die je eigenen Studienbedingungen und Karrierechancen zu verbessern, solange die Voraussetzung akzeptiert wird, daß dies im Rahmen des von der herrschenden Klasse vorgezeichneten großmachts-chauvinistischen Kurses zu geschehen hat, eine Situation, in der ganz normale Studis - langhaarig, unpolitisch, streikmotiviert - sich verhalten wie ausgebildete KaderInnen rechtsextremer Organisationen, indem sie systematisch die Zerstörung der politischen Äußerung ausländischer und linker StudentInnen betreiben, und dies unter Inkaufnahme von Gewalt, die sonst den Studierenden, die immer lustig wirken wollen, ja so verhaßt ist.

Der schon oben beschriebene Drang, zur Supermacht Deutschland dazuzugehören, äußert sich in den Worten einer Rednerin auf der Marburger Demonstration, die anmahnte, heute sei Deutschland noch eines der wirtschaftlich mächtigsten Länder der Welt, aber bei dieser Bildungspolitik stehe in Frage, wie lange noch ... Instinktiv zumindest wissen die StudentInnen darum, daß die Vormachtstellung des eigenen Imperialismus in der Welt notwendige Bedingung dafür ist, den eigenen Standort im Standort Deutschland zu sichern. Empörung macht sich in unserer Überflußgesellschaft breit, wenn die Folgen jahrzehntelanger Politik den Umstand ans Tageslicht zerren, daß eine riesige akademische Reservearmee existiert, die unter den Bedingungen des gegenwärtigen neoliberalen Kurses abgebaut oder deren gesellschaftliche Funktion zumindest radikal umgestaltet werden muß. Daher der hilflose Appell an die Vernunft der herrschenden Klasse, doch mehr Kapital in Bildung zu investieren, weil es doch in dieser Reproduktionssphäre die Zukunft des Landes viel besser zu sichern vermöge als in so abwegigen Projekten wie dem Eurofighter. Gegen den sind die StudentInnen nicht etwa, weil er in Kurdistan oder über Afrika Bomben abwerfen wird, sondern einzig deshalb, weil sie meinen, er nähme ihnen Seminarleiter und Bücher weg. Ökonomisch gesehen ist das Unsinn (und der zeugt wiederum davon, daß der Bildungsstandard tatsächlich nicht sehr hoch ist) - das System braucht viel weniger unproduktive Arbeit als zur Zeit vorhanden. Daher verhallen die Appelle der StudentInnen auch ungehört. Die Umstrukturierung der Hochschulen ist unterwegs und sie wird durch die gegenwärtigen Proteste eher beschleunigt als aufgehalten. Die politische Ausrichtung der StudentInnenbewegung allerdings sieht einen ehernen Konsens in Tat und Gedanken derjenigen vor, die zu den GewinnerInnen der bevorstehenden Umstrukturierung der Hochschulen gehören wollen. Dieser Konsens darf nicht durch die Forderungen der VerliererInnen gefährdet werden.

Und eben diesen VerliererInnen bleibt deshalb nichts anderes übrig, als sich vom großen Konsens der einheitlichen Studibewegung abzuwenden und mit den gesellschaftlichen Gruppen zusammen zu kämpfen, die außerhalb der Hochschulen zu den VerliererInnen des Systems gehören. Daß unsere Probleme allgemeinpolitischer Natur sind und nicht exklusiv hochschulpolitischer, werden wir dann schon zeigen, wenn wir auf den Straßen sind.

Brian (Internationaler Block)


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kombo(p) - 16.02.1998