IV. Die Wende

Die Vorgeschichte des Rückzugs
Treffen des Plenums des Zentralkomitees der PKK
Rückzug der Guerilla und Beendigung des bewaffneten Kampfes
Präsidialrat der PKK zum Rückzug der Truppen
"Der Rückzug muss still und ohne Gefechte erfolgen"
"Eine unbenannte Revolution"
Stellvertretender US-Außenminister für mehr Rechte
Auch die Türkei muss ihre Aufgaben erledigen
Rückzug der Einheiten der PKK beginnt
"Reuegesetz" - Amnestie light - Förderung des Verrats
Amnestie, Teilamnestie, Generalamnestie?
Türkische Armee erschwert den Rückzug
Trotz Operationen eine mildere Atmosphäre
Der höchste General meldet sich zu Wort
"PKK wird Geschichte"
Öcalan lädt eine Gruppe seiner Partei als Friedensbotschafter ins Land ein
Einige Steine wurden doch ins Rollen gebracht

Drei Beispiele für zivilgesellschaftliche Einmischung

Erstes Beispiel: Deklaration zu Demokratie und Frieden
Zweites Beispiel: Rede des obersten Richters
Drittes Beispiel: Intellektuelle mischen sich ein
Der Ton der Stimme wird schärfer


Drittes Beispiel: Intellektuelle mischen sich ein

An den Diskussionen um eine friedliche Lösung der Kurdenfrage, Demokratisierung und Menschenrechte nahmen auch 60 namhafte Schriftsteller, Künstler und Nobelpreisträger aus aller Welt, darunter Günter Grass, Nadine Gordimer, Elie Wiesel, Jose Saramago, Costa-Gavras, Ingmar Bergman, Arthur Miller und Harold Pinter mit einem Appell teil, in dem es heißt: "Mit Gewalt ist weder die Türkisierung der Kurden zu realisieren noch wird sie den Kurden zu ihren Rechten verhelfen. Die Türkei muss nun mit einem für die gesamte Welt und das neue Jahrhundert beispielhaften Schritt die kurdische Frage lösen, indem sie ihre kurdischen Staatsbürger in ihren eigenen Rechten wahrnimmt."
Diese neue Initiative der Intellektuellen wurde der Öffentlichkeit am 11. Oktober 1999 auf einer Pressekonferenz in Istanbul von Yasar Kemal, Ahmet Altan, Orhan Pamuk, Zülfü Livaneli und Mehmed Uzun vorgestellt. Intellektuelle gelten allgemein als "Gewissen der Gesellschaften der Welt". Und dieses "Weltgewissen" mischte sich am Ende des Jahrhunderts und am Vorabend des neuen Jahrtausends ein und fordert eine politische Lösung der Kurdenfrage:
"Als einer der blutigsten Zeitabschnitte der Menschheitsgeschichte geht das 20. Jahrhundert zu Ende. In diesen letzten Tagen quält uns eine Frage: wird das 21. Jahrhundert so blutig wie das vergangene sein? Werden Waffen, Krieg und Gewalt ihre Vorherrschaft behalten? Werden Rassismus, Nationalismus und Hass gegen die "anderen" aufs Neue die Welt abschlachten und in Brand setzen? Wird Unterdrückung auch weiterhin über ethnische und gesellschaftliche Verantwortung dominieren?
Unsere Antwort auf diese Fragen ist ein kategorisches "Nein". Das neue Jahrhundert und die Völker des neuen Jahrhunderts haben die Verpflichtung, jegliche Form von Diskriminierung und Unterdrückung zurückzuweisen.
Wir, die unterzeichnenden Schriftsteller und Künstler, wünschen uns, die Türkei im nächsten Jahrhundert als eine führende Vertreterin bei der Durchsetzung der Menschenrechte und der Demokratie zu sehen. Wir glauben, dass die Türkei als integraler Teil der zivilisierten Welt den Willen und den Glauben besitzt, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit für alle ihre Völker zu verwirklichen.
Gegenwärtig ist die Türkei dafür bekannt, die vitalen Regeln der Menschenrechte und der Demokratie zu verletzen. Sogar von türkischen Regierungsmitgliedern wird diese Tatsache zugegeben. Das entscheidende Problem ist die kurdische Frage. Weil sie dieses Problem nicht angemessen gelöst hat, kann die Türkei weder die gewünschten Schritte in der Frage der Menschenrechte unternehmen noch die volle Demokratie erreichen.
Wir glauben, dass die Türkei die Kraft besitzt, das kurdische Problem zu lösen. Keines der Bedenken der 1923 auf den Überresten des Osmanischen Reiches gegründeten jungen Republik hat heute mehr Gültigkeit. Heute sind die ungefähr fünfzehn Millionen Kurden in der Türkei unentbehrliche Staatsbürger. Die Kurden fordern nur die Erhaltung ihrer Sprache und kulturellen Identität und möchten als freie Staatsbürger in der Einheit der Türkischen Republik leben, kurdisch lesen und schreiben und im Kurdischen unterrichtet werden, arbeiten, dienen und ihr Glück suchen bei Bewahrung ihrer besonderen Eigenart und Kultur.
Seit 1923 gab es rigide politische Anstrengungen zur Türkisierung. Kurdisch wurde als Erziehungssprache und Kommunikationsmittel verboten. Unter diesem Zwang wurden zahllose Menschen verhaftet und bestraft. Zehntausende Namen von Städten, Dörfern, Weilern, Bergen, Tälern und Hügeln wurden durch türkische ersetzt. Bei der Gelegenheit bezeichnete man die Kurden als "Bergtürken". In der Verfassung und anderen Gesetz-büchern wurde diese Politik verankert.
Doch ist keine dieser Maßnahmen erfolgreich gewesen. Die Kurden sind nicht zu Türken geworden. Die kurdische Frage wurde nicht gelöst. Die blutgetränkten - und unerschwinglich teuren - Ereignisse der letzten 15 Jahre bekräftigen: Gewalt ist kein Ausweg. Mit Gewalt ist weder die Türkisierung der Kurden zu realisieren noch wird sie den Kurden zu ihren Rechten verhelfen.
Die Türkei muss nun mit einem für die gesamte Welt und das neue Jahrhundert beispielhaften Schritt die kurdische Frage lösen, indem sie ihre kurdischen Staatsbürger in ihren eigenen Rechten wahrnimmt. Wir glauben, dass ein solcher Schritt die Türkei wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell sehr stärken und bereichern wird. Kurdisch ist eine der reichsten lebenden Sprachen der mesopotamischen Zivilisation. Es besitzt sowohl eine reiche klassische Literatur wie eine vielfältige musikalische Tradition und eine blühende moderne Literatur. Die überaus alte kurdische Geschichte und ihr kulturelles Erbe gehören uns allen.
Anstatt sie zu leugnen oder herabzusetzen, müssen diese Kostbarkeiten zum lebendigen Bestandteil des Reichtums der Türkei werden. Die Kurden, die in der gesamten Geschichte im Völkermosaik Anatoliens ein Drittel ausgemacht haben, dürfen nicht länger diskriminiert werden. Sie müssen ihre Rechte und ihre Würde erhalten, damit sie in Anatolien und der Türkei wieder zu einem dynamischen Ganzen werden können. Kurdisch muss zur Schul- und Ausbildungssprache werden. Die Notwendigkeit kurdischen Rundfunks und Fernsehens muss anerkannt werden. Das Recht auf die kurdische Sprache, Kultur und Identität muss in der Verfassung verankert werden.
Wir appellieren an den Präsidenten, den Minister-präsidenten, das Parlament und die Regierung: Bitte befreien Sie die Türkei von ihrer Schande. Während Sie sich um die Wunden des schrecklichen Erdbebens kümmern, das uns alle betrübt hat, wenden Sie sich bitte auch den gesellschaftlichen Wunden zu, die seit über siebzig Jahren bluten.
Im 21. Jahrhundert soll die Türkei stolz dastehen, als Leuchtfeuer und Verkörperung humanitärer und demokratischer Werte." (128)
Ob dieser Appell der Weltliteraten und Künstler überhaupt in der Türkei oder in Deutschland und Europa auf Interesse stößt und Widerhall findet, ist fraglich. Die Menschheit hat anscheinend nichts dazu gelernt. Die Regierung eines führenden europäischen Staates, die bei ihrem Amtsantritt Werte wie Frieden, Menschenrechte, Gerechtigkeit und Demokratie groß auf ihre Fahnen geschrieben hatte, bietet heute der Türkei, die nach wie vor gegen einen Teil ihrer eigenen Bevölkerung Krieg führt, durch Lieferung weiterer Tötungs- und Kriegsgeräte eine "Europäische Perspektive" an. So wird der langen und blutigen Geschichte des Kampfes um Menschenrechte und Demokratie nur noch ein weiteres trauriges Kapitel hinzugefügt.


(128) Der volle Wortlaut und die Liste sämtlicher Unterzeichner sind in den Nützlichen Nachrichten 3/99 abgedruckt.