IV. Die Wende

Die Vorgeschichte des Rückzugs
Treffen des Plenums des Zentralkomitees der PKK
Rückzug der Guerilla und Beendigung des bewaffneten Kampfes
Präsidialrat der PKK zum Rückzug der Truppen
"Der Rückzug muss still und ohne Gefechte erfolgen"
"Eine unbenannte Revolution"
Stellvertretender US-Außenminister für mehr Rechte
Auch die Türkei muss ihre Aufgaben erledigen
Rückzug der Einheiten der PKK beginnt
"Reuegesetz" - Amnestie light - Förderung des Verrats
Amnestie, Teilamnestie, Generalamnestie?
Türkische Armee erschwert den Rückzug
Trotz Operationen eine mildere Atmosphäre
Der höchste General meldet sich zu Wort
"PKK wird Geschichte"
Öcalan lädt eine Gruppe seiner Partei als Friedensbotschafter ins Land ein
Einige Steine wurden doch ins Rollen gebracht

Drei Beispiele für zivilgesellschaftliche Einmischung

Erstes Beispiel: Deklaration zu Demokratie und Frieden
Zweites Beispiel: Rede des obersten Richters
Drittes Beispiel: Intellektuelle mischen sich ein
Der Ton der Stimme wird schärfer


"Eine unbenannte Revolution"

Einen Monat, nachdem Öcalan zum Tode verurteilt wurde, sagte Staatspräsident Demirel zum Urteil: "Die Türkei ist seit langem nicht mit einem solch ernsten Thema konfrontiert gewesen. Es ist jetzt ein politisches Thema. Wir wissen noch nicht, was geschehen wird. Wenn die Zeit kommt, werden wir sehen, was für eine Atmosphäre da ist und was gemacht werden muss. Die Vollstreckung der Todesstrafe braucht eine politische Entscheidung."(86)
Nach Meinung vieler Kommentatoren und Analytiker wollte Demirel mit seinen obigen Äußerungen das innenpolitische Klima gegen eine Vollstreckung vorbereiten. Sie behaupten, sonst würde Demirel -wie nach der Urteilsverkündung Ende Juni- sagen, "da können wir nichts machen. Dies ist eine Entscheidung eines unabhängigen Gerichtes."
(87)
Der Chefredakteur der Zeitung Hürriyet Ertugrul Özkök
(88) schrieb am 4.8.99 in seiner Kolumne unter anderem: "General Cevik Bir (89) ist vor einiger Zeit auf der Insel Imrali gewesen. Ob er sich mit Öcalan getroffen hat oder nicht, habe ich nicht erfahren können. Nach diesen Ereignissen verkündet Öcalan die Beendigung des bewaffneten Kampfes. Aber dies darf nicht so verstanden werden, als ob der Staat mit Öcalan verhandelt. Vor uns liegt eine historische Chance. Sie sollen die Waffen niederlegen und sich ergeben, und dieser Staat soll seinen Bürgern ihre Rechte zugestehen und ein menschenwürdiges Leben schaffen." (90)
Am nächsten Tag beschäftigte sich Özkök, wie fast alle seiner Kollegen, mit der Erklärung Öcalans zum Rückzug und führte der Reihe nach die letzten Äußerungen der Staatsführung auf. Er zitierte Demirel mit den folgenden Worten zum Urteil: "Die Türkei ist seit langem nicht mit einem solch ernsten Thema konfrontiert gewesen". Und Ecevit sagte gleich nach dem Todesurteil, dass "man dies (Vollstreckung des Todesstrafe) der lösenden Kraft der Zeit überlassen soll". Zur Waffenniederlegung der PKK sagte Ecevit: "Der Staat verhandelt nicht. Aber jeder, der die Türkei liebt, soll seinen Beitrag dazu leisten." (91)
Oktay Eksi, ebenfalls von der Tageszeitung Hürriyet, fasste zusammen: "Es ist wichtig, dass die Türkei Schritte unternimmt, dass jeder Bürger seine Kultur und seine Werte pflegt, seine Sprache anwendet und weiter entwickelt. Es gibt keinen Staat im 20. Jahrhundert auf der Welt, der sich als zeitgenössisch und als Rechtsstaat bezeichnet, der dies nicht tut." (92)
Kurz vor diesen Ereignissen, Mitte Juli 1999, hatte der mächtige Staat als eine "Geste" die seit dem 18. November 1998 inhaftierten HADEP-Funktionäre, darunter auch den Vorsitzenden Murat Bozlak, freigelassen. In der ersten Augustwoche bestellte überraschender Weise Staatschef Demirel sieben HADEP-Bürgermeister, die de facto als 'Unterstützer der Terroristen' gelten, zu seinem Amtssitz nach Cankaya. Über dieses Treffen unterrichtete er am 10. August 1999 die Öffentlichkeit. Demirel: "Alle türkischen Staatsbürger geniessen die gleichen Rechte, ob sie aus dem Südosten oder aus dem Westen stammen. Wir sind verpflichtet, die Harmonie in diesem Lande zu bewahren, um dem sozialen Frieden nicht zu schaden." Auf die Forderung des Oberbürgermeisters von Diyarbakir, Feridun Celik, "der innere Frieden muss geschaffen und das Blutvergießen gestoppt werden" erwiderte Demirel: "Unser Kampf richtet sich gegen den Separatismus. Dies ist der Grundstein der türkischen Republik. Wer will, dass das Blut der Geschwister vergossen wird?" (93)
Ertugrul Özkök fasste die letzten Ereignisse wieder zusammen und sagte: "In den letzten 3 bis 4 Wochen finden sehr wichtige und überraschende Entwicklungen statt. Seit 3 bis 4 Wochen erlebt die Türkei eine unbenannte Revolution. Diese Revolution ist genauso wichtig und grundlegend, wie die Beschlüsse vom 24. Januar (1980). (94) Diese Revolution hat drei Fronten. Erstens: Für die Lösung der Südostenfrage werden zum ersten Mal Hoffnungen geweckt. Ein namenloses und unerklärtes Programm wird Schritt für Schritt in die Praxis umgesetzt. Hier ist die Chronologie dieser historischen Entwicklung: Nachdem das Todesurteil gegen Öcalan verkündet wurde, erklärte Ecevit folgendes: "Die Todesstrafe sollen wir der lösenden Kraft der Zeit überlassen." Nach dieser Erklärung gab Demirel folgendes bekannt: "Die Todesstrafe ist das sensibelste Thema, mit dem ich konfrontiert werde." Und gleich danach sagte Ecevit: "Bei der Lösung dieses Problem muss jeder seinen Beitrag dazu leisten." Als sich dann noch die Gesellschaft mit diesen Äußerungen beschäftigte, empfing Demirel die Bürgermeister der HADEP. Dort wollte Demirel diese Botschaft senden: "Sie, die Gewählten, sind meine Ansprechpartner. Nicht der Bandit auf den Bergen." Den zweiten Teil dieser Revolution bildet der DemokratisierungsProzess. Und der dritte Teil hat einen wirtschaftlichen und sozialen Charakter. Dies alles ist mit jedem seiner Schritte, mit jeder seiner Gesten eine Politik des harten Kerns des Staates." (95)


(86)Hürriyet, 1.8.99

(87)Hürriyet, 3.8.99

(88)Özkök gilt als 'indirekter Sprecher' des Staates und hat vielerlei Verbindungen und gute Kontakte zur Staatsführung.

(89)Auf seinen Reisen in die USA und nach Israel 1996 und 1997 verkündete er, dass "der Terror besiegt und die Aufgabe des Militärs somit beendet sei und nun die Politik an der Reihe sei."

(90)Hürriyet, 4.8.99

(91)Hürriyet, 5.8.99

(92)Hürriyet, 5.8.99

(93)Hürriyet, 11.8.99

(94)Am 24. Januar 1980 wurde der Start der Liberalisierung verkündet: Privatisierung der staatseigene Betriebe, Öffnung des Marktes zu Außenkapital, Kontrolle und Verbot von gewerkschaftlichen Aktivitäten, Streiks usw.

(95)Hürriyet, 14.8.99