IV. Die Wende

Die Vorgeschichte des Rückzugs
Treffen des Plenums des Zentralkomitees der PKK
Rückzug der Guerilla und Beendigung des bewaffneten Kampfes
Präsidialrat der PKK zum Rückzug der Truppen
"Der Rückzug muss still und ohne Gefechte erfolgen"
"Eine unbenannte Revolution"
Stellvertretender US-Außenminister für mehr Rechte
Auch die Türkei muss ihre Aufgaben erledigen
Rückzug der Einheiten der PKK beginnt
"Reuegesetz" - Amnestie light - Förderung des Verrats
Amnestie, Teilamnestie, Generalamnestie?
Türkische Armee erschwert den Rückzug
Trotz Operationen eine mildere Atmosphäre
Der höchste General meldet sich zu Wort
"PKK wird Geschichte"
Öcalan lädt eine Gruppe seiner Partei als Friedensbotschafter ins Land ein
Einige Steine wurden doch ins Rollen gebracht

Drei Beispiele für zivilgesellschaftliche Einmischung

Erstes Beispiel: Deklaration zu Demokratie und Frieden
Zweites Beispiel: Rede des obersten Richters
Drittes Beispiel: Intellektuelle mischen sich ein
Der Ton der Stimme wird schärfer


Trotz Operationen eine mildere Atmosphäre

Es war von Anfang an jedem klar, dass der Weg zum Frieden voller Stolpersteine sein und dass es vielerlei Provokationen geben würde. In manchen Gegenden Kurdistans finden militärische Attacken gegen die sich zurückziehenden Einheiten der PKK statt. Der Rückzug wird mit weiterem Blutvergießen begleitet. In manchen Gegenden aber ist ein seit langem nicht mehr gekanntes Klima entstanden. Türkische Soldaten greifen die sich zurückziehenden "Feinde" nicht mehr an. Sie freuen sich, dass es endlich zu Ende geht, dass sie lebend nach Hause zurückkehren können. Sie schreiben an ihre Familien an der Ägäis, am Mittelmeer oder am Schwarzen Meer, dass sie sich keine Sorgen mehr machen sollen.
Mancherorts werden parallel dazu noch Dörfer und Weiler zerstört, ihre Bewohner vertrieben. In anderen aber ist das seit Jahren bestehende Lebensmittelembargo aufgehoben. Die Bauern dürfen auf ihre Felder gehen, um sie für den Frühling vorzubereiten. Die Hirten wandern mit ihren Herden durch die ehemals verbotenen, militärisch abgeschirmten Zonen, wo seit Jahren keine Herde mehr war und wo reichlich Nahrungsmittel und Gras zu finden sind.
In manchen Gegenden beobachten türkische Soldaten sogar, wie die sich zurückziehenden Guerillas ihre Lebensmittelvorräte an die kurdischen Bauern verteilen und sich von ihnen verabschieden.
Verbindungsstraßen, die seit Jahren gesperrt waren, wie z.B. die Straße von Diyarbakir nach Bingöl, werden für den Zivilverkehr wieder geöffnet. Dort und in manch anderen Gebieten brauchen die Menschen nicht mehr zwei Tage und Hunderte Kilometer Umweg hinter sich zu bringen, um einen ca. 30 km entfernten Ort zu erreichen. Die Touristen dürfen nach einer Unterbrechung von 12 Jahren wieder ungestört auf die Gipfel des Ararat klettern.
Nicht überall, aber in manchen Gegenden dürfen Menschen erstmals seit langem wieder die Grabsteine ihrer Angehörigen und ihre heiligen Stätten besuchen. (110)
Und am 24. Oktober 1999 besuchte die Staatsführung, an der Spitze Demirel und Ecevit, Diyarbakir, die heimliche Hauptstadt der Kurden. Zehntausende KurdInnen, die ihren Protest gegenüber dem türkischen Staat im März 1999 mit einem Boykott zum Ausdruck brachten und nicht auf die Straße gingen, als Ecevit kam, trugen diesmal weiße Friedensfahnen und Tauben oder gelbe HADEP-Fahnen. An jeder Straßenecke, auf jedem Platz waren sie zu Tausenden zu sehen. "Nein zur Todesstrafe, Generalamnestie" riefen sie und schwenkten Fahnen mit der Aufschrift "Nein zu den Waffen, Frieden jetzt". So überraschten die "terroristischen" Kurden plötzlich ihre Gäste. Nach dem Schock im Erdbebengebiet, wo sie mehrfach Proteste der Opfer erlebt hatten, tat ihnen die Wärme der Kurden anscheinend gut. Zum ersten Mal seit langem sah man sie lächeln.
Und am selben Tag gingen über 30.000 Menschen nicht in Kurdistan, sondern in der durch Krieg und Vertreibung kurdisierten Stadt Adana am Mittelmeer mit demselben Ziel auf die Straße: "Frieden jetzt! Nein zur Todesstrafe!"
Dennoch ist es noch zu früh, von einem Frühling zu sprechen. Es ist noch Herbst und ohne eine Vorbereitung auf den Winter wird es schwierig sein, den Frühling zu erreichen. Es ist trotz allem aber ein schönes Gefühl für die kurdischen Bauern, die in ihre Dörfer zurückkehren, ihre Felder bestellen dürfen oder vom Lebensmittelembargo befreit sind. Und es ist genauso ein schönes Gefühl für die türkischen Soldaten, keine Angst mehr davor haben zu müssen, getötet zu werden oder mit blutbefleckten Händen nach Hause zu ihren Frauen, Kindern, Eltern und Freunden zurückzukehren.


(110)ÖP, 4.9.99; ÖP, Hürriyet und FR, 6.9.99; ÖP, 16.9.99; Hürriyet und ÖP, 17.9.99; Hürriyet, 21.9.99