III. Das Jahr 2000-1 beginnt

Kriegsdrohungen gegen Syrien / Öcalan in Rom
Die Europäisierung der Kurdenfrage
Die Reise von Rom ins "Ungewisse"
Öcalans Auslieferung an die Türkei
Einige Reaktionen aus Deutschland und Europa
Schily zu den Aktionen aus Anlass der Verschleppung Öcalans
Kay Nehm: "PKK keine Terrororganisation"
Der Vorfall in Berlin - die Tatsachen widerlegen Schily
Der Europäische Rat der EU zu den Demonstrationen und zum Öcalan-Prozess"
ERNK: "Aktivitäten im Rahmen der demokratischen Regeln und mit Vernunft entfalten"
Erklärung der deutschen Friedensbewegung
Wie sah es in Kurdistan aus?
Öcalan auf Imrali
Ein weiteres Beispiel der Zusammenarbeit: Schließung von MED-TV
Nach den Parlaments- und Kommunalwahlen: Trotz Repressalien viele Kommunen in den Händen der HADEP
Tribunal gegen Öcalan

Geteiltes Echo
Internationale Reaktionen auf das Urteil
Reaktionen der türkischen und kurdischen Seite
"Diplomatie und Piraterie"


Öcalan auf Imrali

Seit zwei Jahrzehnten beeinflusst und prägt Öcalan die Politik in der Türkei und die kurdische Gesellschaft. Die einen hassen ihn, die anderen lieben ihn. Einige bezeichnen ihn als "Terroristen", andere als Freiheitskämpfer und Hoffnungsträger, und viele Kurden nennen ihn einfach "Serok", Vorsitzender.
Seit 1993 setzte er sich für eine friedliche Beilegung des Konfliktes ein. Um dieses Ziel zu erreichen, hat er drei mal einseitige Waffenstillstände ausgerufen. An dieser politischen Linie hat er auch während seiner Reise quer durch Europa bis zu seiner Verschleppung aus Kenia festgehalten und steht auch in türkischer Gefangenschaft immer noch dazu.
Mit der gleichen Intention verbreitete Öcalan am 6. April 1999 aus der Isolationshaft heraus einen 8-Punkte-Katalog zur friedlichen Lösung der Kurdenfrage innerhalb des Staatsverbandes Türkei. Er fordert u.a.: "Schaffung der gesetzlichen Rahmenbedingungen für eine freie Diskussionsmöglichkeit über die Kurdenfrage, eine Amnestie, Einstellung der bewaffneten Auseinander-setzungen und Legalisierung der PKK". In Punkt 5 ruft er seine Anhänger auf, "bis die Haltung des Staates im neuen Parlament und bei der Regierungsbildung zu erkennen ist, einen politischen Aktionskurs einzuschlagen und diese Linie mit Entschlossenheit zu verfolgen".
In einem Brief an drei im Gefängnis sitzende PKK-Genossinnen schrieb Öcalan am 11.4.99 u.a. folgendes: "Falls man mir jetzt eine Chance zum Überleben gibt, werde ich versuchen, alles in einen großen Prozess des Friedens umzuwandeln. Ich habe einige kleine Schritte in dieser Richtung getan. (...)
Jeder Kampf, der nicht zu Frieden, Brüderlichkeit und gemeinsamer Freiheit führt, ist blind durch Krieg und Aufstände, ist ungerecht, produziert Leid, ist zerstörerisch, ist Anarchie. Aus diesem Grunde müssen wir, zumindest bis klar ist, was mit mir geschieht, alles versuchen, um als eine wendende Kraft große Aufmerksamkeit für einen strategischen Frieden zu gewinnen."
(56)
In diesem Sinne hat Öcalan die gegen ihn ab dem 31. Mai 1999 geführte Hauptverhandlung seines Prozesses, die auf der Gefängnisinsel Imrali vor Richtern des Staatssicherheitsgerichts Ankara stattfand, in eine Tribüne umgewandelt und seinen Wunsch nach einer demokratischen Republik, nach Frieden und Brüderlichkeit wiederholt. Er entschuldigte sich bei den Familien der türkischen Opfer.
Die Anwälte Öcalans und seine nahen Verwandten waren sowohl im Gerichtssaal als auch draußen ständigen Beleidigungen und Beschimpfungen ausgesetzt und hatten keine Chance, in Mudanya, Gemlik und sogar Bursa Hotelzimmer zu buchen.
Trotz seiner Bereitschaft für eine politische und friedliche Lösung der Kurdenfrage wurde Öcalan von den führenden Politikern, Medienmachern, Angehörigen der Armee und Justiz tagtäglich als "Babykiller" und "30.000facher Mörder" dargestellt und beschimpft. Amnesty international stellte in seinem Bericht "Das Strafverfahren gegen Abdullah Öcalan muss internationalen Standards entsprechen" diesbezüglich folgendes fest: "Jedermann hat das Recht, als unschuldig angesehen und als Unschuldiger behandelt zu werden, bis und falls er verurteilt wird. Richter und Staatsanwälte müssen sich in jedem Fall einer Vorverurteilung enthalten - aber diese Verantwortung gilt auch für alle anderen Angehörigen staatlicher Stellen, die vor dem Abschluss des Verfahrens keine Äußerungen über Schuld oder Unschuld eines Angeklagten machen sollten. Das bedeutet auch, dass die Behörden die Pflicht haben, die Medien davon abzuhalten".
Die Frage eines "fairen Prozesses" wurde von amnesty wie folgt bewertet: "Ein wesentliches Kriterium für einen fairen Prozess ist das Prinzip der 'Waffengleichheit' für die Prozessparteien. Dieses Prinzip bedeutet, dass Anklage und Verteidigung so behandelt werden müssen, dass sie sich während der Verhandlung in verfahrensrechtlich gleicher Position befinden und sie ihren Standpunkt im Rechtsstreit gleich gut vertreten können. Die Beobachtung vieler Verfahren in der Türkei hat amnesty international zu der Ansicht geführt, dass die Waffengleichheit vor den Staatssicherheitsgerichten nicht durchgängig beachtet wird."
(57)
Unabhängig davon hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem Grundsatzurteil am 9. Juni 1998 festgestellt, dass die Staatssicherheitsgerichte u.a. wegen der Anwesenheit von Militärrichtern nicht frei sind und die Urteile nicht ohne weiteres angenommen werden können.
(58)
Letztlich muss die Türkei gerade dem "Top-Terroristen" danken, dass er sie dazu gebracht hat, noch während der Gerichtsverhandlungen die Militärrichter aus den berüchtigten Staatssicherheitsgerichten (DGM) zurückzu-ziehen und durch zivile zu ersetzen.
Nach der ersten Prozessbeobachtung in Ankara am 30. April 1999 sagte Wesley Gryk von amnesty international: "von einer rechtsstaatlichen Verteidigungsmöglichkeit könne nicht die Rede sein." Wenn "die Anwälte von PKK-Chef Öcalan beim Prozess in Ankara knapp der Lynchjustiz entgehen"
(59) , kann man sich die 'Art der Behandlung' des 'Staatsfeinds Nr. 1' leicht ausmalen.
Eine unter staatlicher Regie geschürte und von der kurdenfeindlichen und faschistischen MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) gelenkte Hetz- und Jagdkampagne gegen die Anwälte, gegen die Mitglieder der HADEP (pro-kurdische Demokratiepartei des Volkes) und gegen Menschenrechtler sollte mit Unterstützung der türkischen Medien dafür sorgen, dass die schon vor dem Prozess deklarierte Todesstrafe auch vollstreckt wird.
Mit einer Vollstreckung der Todesstrafe kann Öcalan zwar physisch aus der Welt geschafft werden. Das bedeutet aber noch längst nicht, dass die Kurdenfrage damit gelöst würde. Mit einer solchen Politik würde man die Grundlagen für den 30. Aufstand der Kurden seit Gründung der Türkischen Republik legen, Feindschaft zwischen beiden Völkern säen und den Graben zwischen ihnen eher noch vertiefen. Es steht zu befürchten, dass dann in der gesamten Türkei, auch in Istanbul und Izmir, die Grundlagen für bosnische Verhältnisse geschaffen würden.
Für den Fall der Vollstreckung der Todesstrafe an Öcalan sagte sein Rechtsanwalt Ahmet Zeki Okcuoglu, der noch vor Beginn der Hauptverhandlung aus Protest gegen die Behinderungen und die mangelnde Sicherheit der Verteidiger und auch gegen die Verteidigungsstrategie Öcalans sein Mandat niederlegte, folgendes: "Als Demokrat und als Mensch, der in der Kurdenfrage trotz allem bislang gemäßigte und friedliche Ansichten vertreten hat - ich spreche jetzt nicht als Anwalt, sondern als Privatperson - werde ich alle Beziehungen zu diesem Staat abbrechen. Ich werde dann keinerlei Schritte mehr unternehmen, um mich mit dem Staat zu verständigen. Ich schließe dann keine Kompromisse mehr. Das wäre moralisch nicht mehr vertretbar." Auf die Frage, ob er keine Hoffnung mehr hat, antwortete er: "Wir sind ein Handvoll Leute. Wie sollen wir verhindern, was die ganze Welt sehenden Auges zugelassen hat. Was die USA, aber auch Deutschland, England, Frankreich und Italien tun, ist doch reine Komplizenschaft mit der Türkei. Deutschland hat (...) de facto mit dafür gesorgt, dass der Mann (Öcalan) an die Türkei ausgeliefert wurde."
(60)

(56)Nützliche Nachrichten 2/99

(57)Nützliche Nachrichten 2/99

(58)Nützliche Nachrichten 3/98

(59)taz, 3.5.99

(60)taz, 30.4.99