III. Das Jahr 2000-1 beginnt

Kriegsdrohungen gegen Syrien / Öcalan in Rom
Die Europäisierung der Kurdenfrage
Die Reise von Rom ins "Ungewisse"
Öcalans Auslieferung an die Türkei
Einige Reaktionen aus Deutschland und Europa
Schily zu den Aktionen aus Anlass der Verschleppung Öcalans
Kay Nehm: "PKK keine Terrororganisation"
Der Vorfall in Berlin - die Tatsachen widerlegen Schily
Der Europäische Rat der EU zu den Demonstrationen und zum Öcalan-Prozess"
ERNK: "Aktivitäten im Rahmen der demokratischen Regeln und mit Vernunft entfalten"
Erklärung der deutschen Friedensbewegung
Wie sah es in Kurdistan aus?
Öcalan auf Imrali
Ein weiteres Beispiel der Zusammenarbeit: Schließung von MED-TV
Nach den Parlaments- und Kommunalwahlen: Trotz Repressalien viele Kommunen in den Händen der HADEP
Tribunal gegen Öcalan

Geteiltes Echo
Internationale Reaktionen auf das Urteil
Reaktionen der türkischen und kurdischen Seite
"Diplomatie und Piraterie"


Die Europäisierung der Kurdenfrage

Öcalans Ankunft in Rom hatte, für die meisten unerwartet, die kurdische Frage auf die Tagesordnung der EU gesetzt. Die türkischen Politiker und Zeitungen reagierten auf Äußerungen des italienischen Ministerpräsidenten Massimo D'Alema sehr empört. Er hat den Ball in die Arme der EU und somit in die Arme der Bundesrepublik Deutschland geworfen.
Am 25.11.98 forderte der Vorsitzende der PKK Abdullah Öcalan in Rom:
- Einstellung aller militärischen Operationen gegen die kurdischen Gebiete,
- Ermöglichung der Rückkehr der aus ihren Dörfern ver-triebenen Menschen,
- Aufhebung des Dorfschützersystems,
- Gewährung von Autonomie für die kurdischen Gebiete unter Wahrung der Grenzen der Türkei,
- Gewährung aller demokratischen Rechte der Türken auch für Kurden,
- Offizielle Anerkennung der kurdischen Identität, Sprache und Kultur,
- Einführung von Religionsfreiheit und Pluralismus.
Weiter betonte Öcalan die Notwendigkeit, zur Verwirklichung dieser Forderungen einen Dialog und einen politischen Prozess zu initiieren. Dieser müsse unter Beobachtung der Vereinten Nationen und der Europäischen Union stattfinden. Mit internationaler Hilfe könne ein friedliches Zusammenleben des türkischen und kurdischen Volkes und gleichzeitig Sicherheit für Europa und den Mittelmeerraum erreicht werden. (35)
Zwei Tage später reiste der italienische Ministerpräsident D'Alema nach Bonn zu Bundeskanzler Schröder, der nach der Zusammenkunft am 27.11.98 auf einer Pressekonferenz sagte: "Deutschland wird keinen Auslieferungsantrag stellen. Wir wollen uns zunächst dafür einsetzen, dass eine europäische Initiative entsteht. Wir werden unsere Außenminister entsprechend beauftragen, um zu einer politischen Lösung des Problems zwischen der Türkei und den Kurden zu kommen. Dass dabei die territoriale Integrität der Türkei nicht in Frage gestellt werden darf, liegt für uns beide auf der Hand. Wir haben uns auch ernsthafte Gedanken darüber deshalb gemacht, weil wir beide nicht wollen, dass die Auseinandersetzungen, die in der letzten Zeit stattgefunden haben, so eskalieren, dass die Türkei, für die die Tür zur Europäischen Union offen bleiben muss, sich über die Eskalation dieses Konfliktes immer weiter von Europa entfernt. Wir wollen freundschaftliche und vernünftige Beziehungen zur Türkei. Wir wollen einen Prozess der Annäherung der Türkei nach Europa und nicht das Gegenteil. Wir haben uns dann drittens darüber verständigt, dass wir den ernstgemeinten Versuch machen wollen, und dazu werden wir noch heute Gespräche beginnen, die zu einem Europäischen Gerichtshof führen, vor dem sich dann Öcalan zu verantworten hätte." (36)
Am nächsten Tag erklärten Bundesaußenminister Fischer und sein italienischer Kollege Lamberto Dini in Rom, "gemeinsam alle Anstrengungen zu unternehmen, damit Öcalan vor Gericht gestellt wird und eine EU-Initiative einzuleiten, um in der südöstlichen Türkei zu einer friedlichen Lösung beizutragen und um die Türkei näher an die Europäische Union heranzuführen. Die Minister beauftragten zwei Expertengruppen, ihre bereits heute in Rom begonnenen Arbeiten zu beiden Fragen schon Anfang der nächsten Woche fortzusetzen." (37)
Und am 3. Dezember 1998 verabschiedete das Europa-Parlament eine "Entschließung zu der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über die weitere Entwicklung der Beziehungen zur Türkei und zu der Mitteilung der Kommission an den Rat über eine europäische Strategie für die Türkei".
Darin heißt es:
"Das Europa-Parlament (...)
· ist der Ansicht, dass eine Lösung der Kurdenfrage in der Türkei entscheidende Auswirkungen auf Demokratie, Menschenrechte und Minderheitenrechte in der Türkei hätte und das Land der Erfüllung der in Kopenhagen vereinbarten Kriterien ein entscheidendes Stück näher bringen würde;
· fordert die Freilassung der Sacharow-Preisträgerin des Europäischen Parlaments, Leyla Zana, und die Freilassung aller politischen Gefangenen;
· ist der Ansicht, dass folgende Schritte wichtige Elemente einer Lösung darstellen würden, welche die territoriale Integrität der Türkei wahrt, und die durch einen Dialog aller gesellschaftlich relevanten Kräfte einschließlich der Vertreter der kurdischen Bevölkerung erreicht werden kann:
- verfassungsmäßig garantierte kulturelle Rechte einschließlich des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Veröffentlichungen in kurdischer Sprache sowie das Recht auf Unterricht in der Muttersprache in allen Teilen der Türkei;
- demokratische Reformen, die die Teilnahme und angemessene Vertretung aller Interessen in der Großen Nationalversammlung ermöglichen, einschließlich einer Reform des Parteiengesetzes, des Wahlrechts und insbesondere einer Herabsetzung der Zehn-Prozent-Hürde für die parlamentarische Vertretung und die Abschaffung der "Anti-Terror-Gesetze", insbesondere des berüchtigten "Artikel 8", aufgrund dessen Intellektuelle, Schriftsteller und Politiker noch immer in Haft sind;
- Stärkung der Führungsposition und der Kontrolle gewählter und demokratischer Institutionen gegenüber der zivilen und militärischen Verwaltung, was auch bedeutet, dass das Militär seine derzeitigen verfassungsmäßig garantierten Befugnisse innerhalb des politischen Systems abtreten muss, als Schritte hin zu einer Entmilitarisierung der türkischen Gesellschaft;
- Aufhebung des Ausnahmezustands in den östlichen und südöstlichen Provinzen und Abschaffung des Systems der Dorfaufseher in diesen Gebieten;
- soziale und wirtschaftliche Entwicklung zugunsten der Bevölkerung in diesen Gebieten, die durch den gewaltsamen Konflikt zerstört wurden und unter den langfristigen Auswirkungen des Fehlens von Investitionen und der Zerstörung von Infrastrukturen zu leiden hatten;
· begrüßt den einseitigen Waffenstillstand der PKK und fordert die Türkei auf, sofort ihre Angriffe auf kurdische Ziele einzustellen;
· ist ferner der Ansicht, dass die Stärkung der Führungsposition und der Kontrolle gewählter und demokratischer Institutionen gegenüber der zivilen und militärischen Verwaltung bzw. über diese als Schritte hin zu einem zur Entmilitarisierung der türkischen Gesellschaft erforderlichen Wandel in der politischen Kultur erheblich zur Lösung beitragen würde, was auch bedeutet, dass das Militär seine derzeitigen verfassungsmäßig garantierten Befugnisse innerhalb des politischen Systems abtreten muss."
Obwohl die ganze Welt von der Kurdenfrage redet, behaupten die Herrschenden in der Türkei und Staatspräsident Demirel an ihrer Spitze immer wieder, dass es "kein Kurdenproblem, sondern nur ein Terrorismusproblem" gäbe.
Demirel sagte in Wien (in Anspielung auf die Situation in Bosnien-Herzegowina) hinsichtlich der Möglichkeit eines Bürgerkrieges in der Türkei: "Ein solcher Krieg wird nicht lange dauern."(38) Ähnlich reagierte er bei einer Zusammenkunft in Ankara mit Vertretern einer Delegation aus den USA: "Wenn ethnischer Separatismus und Nationalismus ermutigt werden, bleibt die Möglichkeit einer 'ethnischen Säuberung' bestehen." (39)
Blickt man hinsichtlich ihres Verhaltens gegenüber nationalen Minderheiten in die türkische Geschichte, so weiß man, wie ernst solche Worte zu nehmen sind.
In seinem Brief vom 26. November 1998 an die Behörden Italiens schrieb der Vorsitzende der PKK: "Durch diesen Kampf konnten wir unsere nationale Existenz, unsere Identität und die Forderung nach Freiheit in der Welt bekanntmachen. Für andere sind dies Kleinigkeiten. Aber für uns Kurden sind dies große Errungenschaften, als ob jemand aus seinem Grab aufersteht und weiterlebt. Deswegen sagen wir, dass es militärisch keine Lösung geben wird. Hartnäckig auf dem militärischen Kurs zu bestehen, führt zum Genozid."


(35)Hürriyet und ÖP sowie Erklärung vom Kurdistan Informations-Zentrum (KIZ) vom 26.11.98
(36)Bundeskanzleramt, 27.11.98

(37)Erklärung des Auswärtigen Amtes vom 28.11.98

(38)Hürriyet, 21.11.98
(39)Nützliche Nachrichten 4/98