| Die Europäisierung der 
        Kurdenfrage Öcalans 
        Ankunft in Rom hatte, für die meisten unerwartet, die kurdische Frage 
        auf die Tagesordnung der EU gesetzt. Die türkischen Politiker und 
        Zeitungen reagierten auf Äußerungen des italienischen Ministerpräsidenten 
        Massimo D'Alema sehr empört. Er hat den Ball in die Arme der EU und 
        somit in die Arme der Bundesrepublik Deutschland geworfen.Am 25.11.98 forderte der Vorsitzende der PKK Abdullah Öcalan in Rom:
 - Einstellung aller militärischen Operationen gegen die kurdischen 
        Gebiete,
 - Ermöglichung der Rückkehr der aus ihren Dörfern ver-triebenen 
        Menschen,
 - Aufhebung des Dorfschützersystems,
 - Gewährung von Autonomie für die kurdischen Gebiete unter Wahrung 
        der Grenzen der Türkei,
 - Gewährung aller demokratischen Rechte der Türken auch für 
        Kurden,
 - Offizielle Anerkennung der kurdischen Identität, Sprache und Kultur,
 - Einführung von Religionsfreiheit und Pluralismus.
 Weiter betonte Öcalan die Notwendigkeit, zur Verwirklichung dieser 
        Forderungen einen Dialog und einen politischen Prozess zu initiieren. 
        Dieser müsse unter Beobachtung der Vereinten Nationen und der Europäischen 
        Union stattfinden. Mit internationaler Hilfe könne ein friedliches 
        Zusammenleben des türkischen und kurdischen Volkes und gleichzeitig 
        Sicherheit für Europa und den Mittelmeerraum erreicht werden. (35)
 Zwei Tage später reiste der italienische Ministerpräsident D'Alema 
        nach Bonn zu Bundeskanzler Schröder, der nach der Zusammenkunft am 
        27.11.98 auf einer Pressekonferenz sagte: "Deutschland wird keinen 
        Auslieferungsantrag stellen. Wir wollen uns zunächst dafür einsetzen, 
        dass eine europäische Initiative entsteht. Wir werden unsere Außenminister 
        entsprechend beauftragen, um zu einer politischen Lösung des Problems 
        zwischen der Türkei und den Kurden zu kommen. Dass dabei die territoriale 
        Integrität der Türkei nicht in Frage gestellt werden darf, liegt 
        für uns beide auf der Hand. Wir haben uns auch ernsthafte Gedanken 
        darüber deshalb gemacht, weil wir beide nicht wollen, dass die Auseinandersetzungen, 
        die in der letzten Zeit stattgefunden haben, so eskalieren, dass die Türkei, 
        für die die Tür zur Europäischen Union offen bleiben muss, 
        sich über die Eskalation dieses Konfliktes immer weiter von Europa 
        entfernt. Wir wollen freundschaftliche und vernünftige Beziehungen 
        zur Türkei. Wir wollen einen Prozess der Annäherung der Türkei 
        nach Europa und nicht das Gegenteil. Wir haben uns dann drittens darüber 
        verständigt, dass wir den ernstgemeinten Versuch machen wollen, und 
        dazu werden wir noch heute Gespräche beginnen, die zu einem Europäischen 
        Gerichtshof führen, vor dem sich dann Öcalan zu verantworten 
        hätte." (36)
 Am nächsten Tag erklärten Bundesaußenminister Fischer 
        und sein italienischer Kollege Lamberto Dini in Rom, "gemeinsam alle 
        Anstrengungen zu unternehmen, damit Öcalan vor Gericht gestellt wird 
        und eine EU-Initiative einzuleiten, um in der südöstlichen Türkei 
        zu einer friedlichen Lösung beizutragen und um die Türkei näher 
        an die Europäische Union heranzuführen. Die Minister beauftragten 
        zwei Expertengruppen, ihre bereits heute in Rom begonnenen Arbeiten zu 
        beiden Fragen schon Anfang der nächsten Woche fortzusetzen." 
        (37)
 Und am 3. Dezember 1998 verabschiedete das Europa-Parlament eine "Entschließung 
        zu der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament 
        über die weitere Entwicklung der Beziehungen zur Türkei und 
        zu der Mitteilung der Kommission an den Rat über eine europäische 
        Strategie für die Türkei".
 Darin heißt es:
 "Das Europa-Parlament (...)
 · ist der Ansicht, dass eine Lösung der Kurdenfrage in der 
        Türkei entscheidende Auswirkungen auf Demokratie, Menschenrechte 
        und Minderheitenrechte in der Türkei hätte und das Land der 
        Erfüllung der in Kopenhagen vereinbarten Kriterien ein entscheidendes 
        Stück näher bringen würde;
 · fordert die Freilassung der Sacharow-Preisträgerin des Europäischen 
        Parlaments, Leyla Zana, und die Freilassung aller politischen Gefangenen;
 · ist der Ansicht, dass folgende Schritte wichtige Elemente einer 
        Lösung darstellen würden, welche die territoriale Integrität 
        der Türkei wahrt, und die durch einen Dialog aller gesellschaftlich 
        relevanten Kräfte einschließlich der Vertreter der kurdischen 
        Bevölkerung erreicht werden kann:
 - verfassungsmäßig garantierte kulturelle Rechte einschließlich 
        des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Veröffentlichungen 
        in kurdischer Sprache sowie das Recht auf Unterricht in der Muttersprache 
        in allen Teilen der Türkei;
 - demokratische Reformen, die die Teilnahme und angemessene Vertretung 
        aller Interessen in der Großen Nationalversammlung ermöglichen, 
        einschließlich einer Reform des Parteiengesetzes, des Wahlrechts 
        und insbesondere einer Herabsetzung der Zehn-Prozent-Hürde für 
        die parlamentarische Vertretung und die Abschaffung der "Anti-Terror-Gesetze", 
        insbesondere des berüchtigten "Artikel 8", aufgrund dessen 
        Intellektuelle, Schriftsteller und Politiker noch immer in Haft sind;
 - Stärkung der Führungsposition und der Kontrolle gewählter 
        und demokratischer Institutionen gegenüber der zivilen und militärischen 
        Verwaltung, was auch bedeutet, dass das Militär seine derzeitigen 
        verfassungsmäßig garantierten Befugnisse innerhalb des politischen 
        Systems abtreten muss, als Schritte hin zu einer Entmilitarisierung der 
        türkischen Gesellschaft;
 - Aufhebung des Ausnahmezustands in den östlichen und südöstlichen 
        Provinzen und Abschaffung des Systems der Dorfaufseher in diesen Gebieten;
 - soziale und wirtschaftliche Entwicklung zugunsten der Bevölkerung 
        in diesen Gebieten, die durch den gewaltsamen Konflikt zerstört wurden 
        und unter den langfristigen Auswirkungen des Fehlens von Investitionen 
        und der Zerstörung von Infrastrukturen zu leiden hatten;
 · begrüßt den einseitigen Waffenstillstand der PKK und 
        fordert die Türkei auf, sofort ihre Angriffe auf kurdische Ziele 
        einzustellen;
 · ist ferner der Ansicht, dass die Stärkung der Führungsposition 
        und der Kontrolle gewählter und demokratischer Institutionen gegenüber 
        der zivilen und militärischen Verwaltung bzw. über diese als 
        Schritte hin zu einem zur Entmilitarisierung der türkischen Gesellschaft 
        erforderlichen Wandel in der politischen Kultur erheblich zur Lösung 
        beitragen würde, was auch bedeutet, dass das Militär seine derzeitigen 
        verfassungsmäßig garantierten Befugnisse innerhalb des politischen 
        Systems abtreten muss."
 Obwohl die ganze Welt von der Kurdenfrage redet, behaupten die Herrschenden 
        in der Türkei und Staatspräsident Demirel an ihrer Spitze immer 
        wieder, dass es "kein Kurdenproblem, sondern nur ein Terrorismusproblem" 
        gäbe.
 Demirel sagte in Wien (in Anspielung auf die Situation in Bosnien-Herzegowina) 
        hinsichtlich der Möglichkeit eines Bürgerkrieges in der Türkei: 
        "Ein solcher Krieg wird nicht lange dauern."(38) 
        Ähnlich reagierte er bei einer Zusammenkunft in Ankara mit Vertretern 
        einer Delegation aus den USA: "Wenn ethnischer Separatismus und Nationalismus 
        ermutigt werden, bleibt die Möglichkeit einer 'ethnischen Säuberung' 
        bestehen." (39)
 Blickt man hinsichtlich ihres Verhaltens gegenüber nationalen Minderheiten 
        in die türkische Geschichte, so weiß man, wie ernst solche 
        Worte zu nehmen sind.
 In seinem Brief vom 26. November 1998 an die Behörden Italiens schrieb 
        der Vorsitzende der PKK: "Durch diesen Kampf konnten wir unsere nationale 
        Existenz, unsere Identität und die Forderung nach Freiheit in der 
        Welt bekanntmachen. Für andere sind dies Kleinigkeiten. Aber für 
        uns Kurden sind dies große Errungenschaften, als ob jemand aus seinem 
        Grab aufersteht und weiterlebt. Deswegen sagen wir, dass es militärisch 
        keine Lösung geben wird. Hartnäckig auf dem militärischen 
        Kurs zu bestehen, führt zum Genozid."
 
 (35)Hürriyet 
        und ÖP sowie Erklärung vom Kurdistan Informations-Zentrum (KIZ) 
        vom 26.11.98(36)Bundeskanzleramt, 27.11.98
  (37)Erklärung 
        des Auswärtigen Amtes vom 28.11.98  (38)Hürriyet, 
        21.11.98(39)Nützliche Nachrichten 
        4/98
 |