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NOVEMBER 2003

Die Rebellion in Bolivien

Der Aufstand, die Hintergründe, der Ausblick


Nach 4 Wochen Aufstand und Rebellion der verarmten bolivianischen Bevölkerung musste am 18. Oktober 2003 der bolivianische Präsident Sanchez de Lozada zurücktreten und floh noch am selben Tag ins US-amerikanische Exil nach Miami. Bis zuletzt versuchten die Regierenden die Revolte militärisch niederzuschlagen, über 80 Menschen wurden durch das Vorgehen der Militärs und Polizeieinheiten ermordet.Demo in Bolivien Der Aufstand mit täglichen Massendemonstrationen, Strassenblockaden und einem Generalstreik entzündete sich Ende September durch die Zustimmung der Regierung, bolivianisches Erdgas durch multinationale Konzerne in die USA und nach Mexico auszuführen. Die Kapitalisierung und Privatisierung des Erdgases ist allerdings nur der offenkundigste Ausdruck der allgemeinen neoliberalen Wirtschaftspolitik Boliviens, gegen die sich der gesellschaftliche Protest im Ganzen richtet. Ein Hintergrundbericht.

Ökonomischer Hintergrund der Kämpfe

Obwohl Bolivien über eines der größten Gasvorkommen Lateinamerikas verfügt, gehört es zu den ärmsten Ländern des Kontinents. Grund dafür ist u.a. die vollständige Privatisierung der Gaswirtschaft, die sich in den Händen multinationaler Konzerne befindet. Hinter dem Gaskonsortium Pacific LNG verbergen sich Konzerne wie British Gas und British Petroleum, Repsol-YPF, aber auch Enron, BP-Amoco und Shell sind mit im Spiel. Der geplante Export des Gases vorwiegend in die USA würde den beteiligten Unternehmen jährliche Gewinne von 1 300 Millionen Dollar einbringen, dem bolivianischen Staat blieben Peanuts. Bereits vor 20 Jahren begann in Bolivien die schrittweise Einführung des Neoliberalismus als Wirtschaftskonzept, das den transnationalen Konzernen und der nationalen Bourgeoisie mehr und mehr Reichtum bescherte, während die Bevölkerungsmehrheit immer mehr verarmt. Nach unabhängigen Studien sank das Durchschnittseinkommen der zumeist indigenen bäuerlichen Bevölkerung während der letzen 15 Jahre um 50%. 87% des Landes befinden sich in den Händen von wenigen Grossgrundbesitzern, während über 1,25 Mio Kleinstlandwirte tagtäglich immer ärmer werden und verelenden. Eine weitere Beschleunigung des Prozesses findet durch die von den USA durchgesetzten Freihandelszonen statt. Die bolivianische Regierung hatte erst auf dem WTO-Gipel in Cancun angekündigt, Einfuhrzölle gänzlich zu streichen und die spärlichen Subventionen für die eigene Landwirtschaft ganz zu unterlassen, womit die bolivianischen Bauern der Konkurrenz transnationaler Nahrungsmittelfirmen vollständig ausgeliefert wären. Das Ergebnis ist eine starke Migration vom Land an die Ränder der Grossstädte, wo ungeheuere Zonen von Armut und Ausgrenzung mehr und mehr anwachsen.

Der durch den Aufstand gestürzte ehemalige Präsident Sanchez de Lozada war ein klassischer Vertreter des bolivianischen Grossbürgertums, selbst Multimillionär und Besitzer großer Minen in Bolivien sowie Partner transnationaler Konzerne, der eng mit den USA kooperierte. Bis zuletzt versuchte das US-Aussenministerium und die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) den Präsidenten im Amt zu halten, der den freien Fluss des Kapitals auch in Zukunft sichern sollte. Mit nur 22% der WählerInnenstimmen wurde Sanchez de Lozada im August 2002 durch eine Koalition der traditionellen bürgerlichen Parteien zum Präsidenten gewählt, um den Einfluss der „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS), dessen Kandidat Evo Morales nur knapp weniger Stimmen erhielt, zurückzudrängen.

Der Aufstand

Während noch im Februar die ersten großen sozialen Kämpfe gegen die Regierung Lozadas blutig niedergeschlagen wurden und innerhalb von 2 Tagen 33 Menschenleben kosteten, war die verarmte bolivianische Bevölkerungsschicht diesmal fest entschlossen, trotz aller Repressionen den Kampf weiterzuführen. Bereits Anfang September begannen indigene und bäuerliche Organisationen die Revolte mit Strassen- und Lebensmittelblockaden in Patacamayam und der Aufstand breitete sich in nur wenigen Tagen auf das ganze Land aus. War ein Grossteil der Aufständischen anfangs noch zu einem Dialog mit der Regierung bereit, änderte sich die Stimmung durch das Vorgehen der Regierung, statt auf Dialog auf Repression und die militärische Zerschlagung des Aufstands zu setzen. Immer mehr Menschen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Sektoren mischten sich in den Konflikt ein, jede mit ihren eigenen Forderungen - Indigenas, Bauern, ArbeiterInnen, StudentInnen, Intellektuelle. Der gemeinsamen Ausgangsforderung: „Nein zum Verkauf des Gases“ folgten mehr und mehr Forderungen, wie die der Verweigerung des Beitritts zur panamerikanischen Freihandelszone ALCA oder der Rücknahme zahlreicher umstrittener Steuergesetze. Alleine die Landarbeitergewerkschaft CSUTCB legte der Regierung eine Katalog mit 72 Forderungen vor. Die Situation eskalierte, als zwischen dem 9. und 13. Oktober Polizei- und Militäreinheiten in El Alto (und anderen Städten) über 70 DemonstrantInnen ermordeten. Die verarmte 600 000 EinwohnerInnenstadt, die strategisch am Eingang der Hauptstadt La Paz liegt und hauptsächlich von Indigenas bewohnt wird, entwickelte sich zum Ausgangspunkt des Sturzes des Präsidenten. Denn für Dialog war nun niemand mehr zu gewinnen, der Präsident sollte weg. Im gesamten Land, aber vor allem rund um La Paz wurden Strassenblockaden errichtet, von überall machten sich DemonstrantInnen auf den Weg in die Hauptstadt. Während der Präsident das Kriegsrecht verhängte, übernahmen in El Alto über 500 Stadtteilkomitees die Selbstverwaltung und drängten Polizei, Militär und die Träger ziviler staatlicher Ämter aus der Stadt. Die Blockaden und ein Generalstreik legten das gesamte Land lahm. In La Paz versammelten sich über 250 000 Menschen, weitere 60 000 in Cochabamba. Im gesamten Land kam es zu Massendemonstrationen und Strassenschlachten mit den Sicherheitskräften, die sich mehr und mehr zurückziehen mussten. Aufgrund des andauernden Drucks der verarmten Bevölkerungsschichten entsolidarisierten sich nun auch die (gehobene) Mittelklasse und zahlreiche Regierungsmitglieder vom Präsidenten, um ihre eigenen Privilegien und das System im Ganzen zu erhalten. Während Hunderttausende die Strassen, das Regierungsviertel und die Polizei- und Militäreinrichtungen blockierten, um die Flucht des Präsideten zu verhindern und ihn für die Massaker zur Verantwortung zu ziehen, entwischte Sanchez de Lozada per Hubschrauber, um umgehend das Land in Richtung USA zu verlassen.

Die Situation nach dem Sturz

Während auf den Strassen Hunderttausende den Rücktritt des Präsidenten feierten, ernannte das Parlament den bisherigen Stellvertreter, den parteilosen Medienunternehmer Carlos Mesa zum Nachfolger de Lozadas. In seiner Antrittsrede machte er zunächst einen Schritt auf die sozialen Bewegungen zu, stellte ein Volks-Referendum über die umstrittenen Gasexporte in Aussicht und kündigte vorgezogene Neuwahlen an. Doch die Hauptstützen des Aufstandes bleiben auch gegenüber dem neuen Präsidenten mehr als skeptisch, und das zurecht. Die soziale Oppositionsbewegung hat Mesa zunächst eine 180tägige Frist gesetzt, in der er auf Regierungsebene die Forderungen der sozialen Bewegungen umsetzen soll. Und dabei hätte er einiges zu tun, denn die Liste der Forderungen ist lang: Sie reicht von der Freilassung aller politischen Gefangenen, landwirtschaftlichen Unterstützungsmassnahmen, der Einleitung von Demokratisierungsprozessen bis hin zur gänzlichen Abkehr vom neoliberalen Wirtschaftsmodell. Statt der Umsetzung des Forderungskatalogs scheint Mesa allerdings bereits nach nur einer Woche im Regierungsamt andere Wege gehen zu wollen. Denn die neue Regierung machte deutlich, selbst an den Exportplänen für Erdgas festzuhalten. Die US-Regierung hatte kurz zuvor angedroht, die Auszahlung von Krediten an Bolivien zu verweigern, sollte das Erdgas nicht zu Billigpreisen in die USA exportiert werden. Die Oppositionsbewegung wertete die Regierungsankündigung umgehend als Provokation und will ihre Mobilisierungsbereitschaft aufrecht erhalten. Ende Oktober kam es schliesslich zu erneuten blutigen Zusammenstößen mit Sicherheitskräften, als etwa 1000 Landlose versuchten, Grundstücke und Güter ehemaliger Regierungsmitglieder und des Ex-Präsideten zu besetzen.

Sollte der neue Präsident Mesa die Forderungen der Protestbewegung nicht umsetzen, was zu erwarten ist, da sein Parlament auch weiterhin zu 80 % aus neoliberalen Kreisen besteht, wird der Widerstand weitergehen. Sanchez de Lozada sei gestürzt, sagte der Gewerkschaftssekretär der Fabrikarbeiter Alex Galvez am 18. Oktober, „aber wir haben das neoliberale-kapitalistische Modell noch nicht besiegt. Wir haben eine Schlacht gewonnen, aber noch nicht den Krieg“.

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