linksrhein Quelle: Südkurier (Baden-Württemberg) vom 16.01.01
  Startseite zurück  weiter  suchen

Angeklagte wollen sich von Skinhead-Szene gelöst haben

Prozessauftakt im Seenachtfest-Fall · Vorwurf: Gewalttätige Attacken gegen vier Ausländer · Jüngster Angeklagter war NPD-Mitglied

Sollte die Jugendkammer des Landgerichts Konstanz den Aussagen von fünf 19- bis 26-jährigen Angeklagten aus der Skinheadszene in Markdorf, Pfullendorf und Bad Wurzach glauben, dann waren im Wesentlichen nicht vier ausländische Festbesucher, sondern die Angeklagten selbst Opfer gewalttätiger Attacken und von Verdächtigungen. So jedenfalls präsentierten die fünf jungen Männer in unterschiedlichen Versionen das nächtliche Geschehen am Ende des letztjährigen Konstanzer Seenachtfestes. Die Staatsanwaltschaft Konstanz beurteilt die Vorgänge anders: Sie wirft den fünf Männern vor, das Fest besucht zu haben, um dort "ihrer Freizeitbeschäftigung nachzugehen: zu Saufen, Nazi-Parolen von sich zu geben sowie ausländische und sonstige friedliche Mitbürger aus ihrer Clique heraus anzupöbeln und · nach verbaler Reaktion · auf diese einzuschlagen".

Deshalb wurden die Fünf wegen schweren Landfriedensbruchs, Körperverletzung, Zeigen verfassungsfeindlicher Symbole und anderem angeklagt.

Sie sollen frühmorgens eine Gruppe von vier ausländischen Festbesuchern als "Nigger, Scheiß Nigger" beschimpft, den Hitlergruß gezeigt, die dunkelhäutigen Türken aus einer 15-köpfigen Skin-Gruppe heraus mit Fäusten geschlagen und getreten, einen von ihnen in einer Art von "Hatz" verfolgt und schließlich in den See gedrängt haben. Zwei weitere Festbesucher sollen später an einer Bushaltestelle und am Fährehafen grundlos geschlagen worden sein. Die Polizei hatte die mutmaßlichen, teilweise erheblich alkoholisierten (max. 2,4 Promille) Täter noch in der Nacht festgenommen. Der älteste und einschlägig vorbestrafte Beteiligte ist bis heute in Untersuchungshaft.

Die aus Konstanz, Überlingen, Singen und Friedrichshafen stammenden Verteidiger rügten zunächst die "willkürliche" Entscheidung, den Prozess vom Amtsgericht an das Landgericht zu verweisen. Damit nehme man den Angeklagten eine Tatsacheninstanz und entziehe sie damit ihrem "gesetzlichen Richter". Es habe nämlich keinerlei rassistische Hinweise gegeben. Die Staatsanwaltschaft selbst habe dem Fall durch ihre Pressearbeit erst das öffentliche Interesse verliehen, das zur Übernahme durch das Landgericht geführt habe.

Die Angeklagten folgten der Verteidigungslinie ihrer Anwälte: Obgleich sie zum Teil bis zu acht Jahre lang in Skinheadkreisen verkehrten, Glatzen und Springerstiefel trugen und einige von ihnen wegen einschlägiger Verhaltensweisen gerichtsbekannt sind, bestritten die meisten vor Gericht die Existenz solcher rechtsradikaler "Gruppen" oder "Cliquen" und behaupteten, einer unpolitischen "Jugendbewegung" angehört zu haben. Sie gaben sich kenntnislos in Bezug auf die NS-Geschichte ("Horst Wessel, das muss wohl ein Liedermacher gewesen sein") oder betonten, sich inzwischen "distanziert" zu haben oder gar "ausgestiegen" zu sein.

Sie seien auch nicht ausländerfeindlich, vielmehr habe man "ausländische Freunde", von denen man einige sogar beschütze vor "den so genannten Rechtsradikalen, die es auch gibt", wie der 26-jährige Angeklagte aussagte. Das Gericht unter Vorsitz von Klaus Geiger konterte diese aus vielen Prozessen bekannte Verteidigungsstrategie der rechten Szene mit dem Hinweis auf die Ergebnisse von Hausdurchsuchungen: Es seien CDs rechtsradikalen Inhalts, Propagandamaterial, eine riesige Hakenkreuzfahne an einer Zimmerwand, Bildbände und andere einschlägige Materialien gefunden worden.

Der erst 18-jährige jüngste Angeklagte räumte ein, etwa ein halbes Jahr lang NPD-Mitglied gewesen zu sein.

Zu den vorgeworfenen Taten zeichneten die Angeklagten ein ganz anderes Bild als die Geschädigten es gegenüber der Polizei angegeben hatten. Zwei der jungen Männer räumten ein, "mitgeprügelt" oder "kurz gerempelt" zu haben. Die anderen wollen sich darauf beschränkt haben, einen Türken, der etwas "ausgefressen" zu haben schien, verfolgt zu haben, um ihn "zur Rede zu stellen". Welcher Beteiligte wen geschlagen oder getreten habe, war allen Angeklagten in der gestrigen Verhandlung kaum mehr erinnerlich. Ganz offensichtlich sollte keiner der Mitangeklagten von Kameraden belastet werden. Der 26-jährige, wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen noch immer Inhaftierte trug vor, er selbst sei angegriffen, übel verletzt worden und zu Boden gegangen. Eine dunkle Gestalt sei auf ihn zugekommen, "ratz-fatz" habe es gemacht und schon sei er schwer getroffen und "kampfunfähig" niedergesunken. Sein Anwalt kündigte hierzu am Rande der Verhandlung weitere Zeugenaussagen an.

An den Hitlergruß, Beschimpfungen, eine hatz~ähn~liche Verfolgung und die Umringung der verfolgten Türken konnte sich gestern keiner der Angeklagten erinnern. Die jungen Männer mutmaßten jedoch, dass bislang unbekannte, ebenfalls vor Ort anwesende Karlsruher Fußballfans die Gewalttäter gewesen sein könnten. (wird fortgesetzt)

Tobias Engelsing

  Startseite zurück  weiter  Anfang

sw, 16.01.01