II. Meilensteine im Kampf der Kurden

Das Erbe Atatürks
Nach 30 Jahren 'Friedhofsruhe'

Erneute 'Auferstehung' der kurdischen Bewegung
Unsäglicher Terror durch die Militärjunta
Bewaffneter Kampf der PKK
Versuche, 1993 die Kurdenfrage friedlich zu lösen
Verbrannte Erde
Eine Zwischenbilanz des Krieges


Eine Zwischenbilanz des Krieges

Während zu Beginn der 90er Jahre höchste verantwortliche und einflussreiche Kreise des Landes das Problem noch beim Namen genannt hatten und auch gesagt wurde: "wir erkennen die kurdische Realität an", gibt es heute nach offizieller Lesart kein "Kurdenproblem". Das Problem ist auch kein Aufstand, wie Demirel es oft zu sagen pflegt, der meinte: "28 davon haben wir schon niedergeschlagen und den 29. werden wir auch niederschlagen". Nach den gängigen Definitionen von Demirel und Ecevit ist das Problem eine Frage des "Terrors" und des "Terrorismus".
Die offiziellen Kreise, die Kemalisten und rassistisch-chauvinistische Gruppen, die die Kurdenfrage auf ein "Terror"- und "Terrorismus"-Problem zu reduzieren versuchen, werden beim Blick auf ihre eigenen Daten und Dokumente feststellen, dass es sich nicht um ein schlichtes Sicherheitsproblem handelt.
Wenn es der Türkei, die über eine der stärksten und erfahrensten Armeen innerhalb der NATO verfügt, die fast eine Million Soldaten, Gendarmen, Polizisten und Dorfschützer mit modernsten Waffen, mit Panzern, Artillerie, Kampfflugzeugen und -hubschraubern besitzt, nicht gelungen ist, den mittlerweile seit 15 Jahren anhaltenden Aufstand einer "Handvoll Banditen" niederzuschlagen, wenn sie aufgrund eben dieses Aufstands ihr Land nach zwei unterschiedlichen Verwaltungs- und Rechtssystemen regiert, wenn sie innerhalb ihrer Grenzen ein Territorium von 150.000-200.000 Quadratkilometern in Brand gesetzt und zum militärischen Sperrgebiet erklärt hat, wenn sie sämtliche Verbindungen dieses Gebiets zur Außenwelt abgeschnitten hat, dann kann man das nicht einfach mit einem Sicherheitsproblem erklären.
Selbst in dem Bericht der "Parlamentarischen Untersuchungskommission (10/25), die zu dem Zweck gegründet wurde, die Probleme unserer Mitbürger, die wegen der geräumten Siedlungen in Ost- und Südostanatolien abgewandert sind, zu ergründen und die erforderlichen Maßnahmen festzustellen" (17), der dem Parlament am 14.1.98 vorgelegt wurde, heißt es, dass in Kurdistan unter dem Begriff "Terrorbekämpfung" 3.428 Siedlungen geräumt wurden. Diese Zahl bezieht sich auf die Vorgehensweise in den Notstandsgebieten und den angrenzenden Provinzen (insgesamt 11 Provinzen). Demselben Bericht zufolge sind in den genannten 11 Provinzen 2.202 von 5.330 Schulen und 830 von 1.218 staatlichen Polikliniken geschlossen. Bedenkt man, dass die meisten der noch geöffneten Schulen und Polikliniken in den Provinzhauptstädten liegen, so kann man davon ausgehen, dass auf dem Land und in den Dörfern praktisch keine Schulen und Einrichtungen zur Gesundheitsversorgung mehr zur Verfügung stehen. Weiterhin stellt der Bericht fest, dass von den rund 3.500 niedergebrannten und zerstörten Dörfern nur 148 wieder besiedelt werden durften und weitere 200 für sicher erachtet und demnächst zur Rückkehr freigegeben werden sollten. Die übrigen 3.100 Dörfer hingegen bleiben aus Sicherheitsgründen nach wie vor gesperrt.
In einem anderen 1998 veröffentlichten Dokument, dem Jahr, in dem wiederholt erklärt wurde, nun hätte man dem Terror 'das Rückgrat gebrochen', erblickt man ein anderes, kaltes Gesicht des Krieges. In der Siegesbilanz (18), die Bülent Dagsali im Namen des Generalsekretariats des Nationalen Sicherheitsrates im Mai 1998 der Presse vorlegte, heißt es, in den 15 Jahren nach 1984 seien 40.107 "Terroristen" getötet worden, dagegen aber nur 5.172 Militärs, Polizisten und Dorfschützer gefallen (bzw. zu "Märtyrern" geworden) und 5.238 Zivilisten ums Leben gekommen. Das bedeutet, dass in diesem unerklärten Krieg, der angeblich keiner ist, 50.000 Menschen ums Leben gekommen sind. Diese Zahl liegt um das Fünffache höher als die Zahl der Opfer beim "Befreiungskrieg", der der Gründung der Republik Türkei den Weg bereitet hat. (19)
Um die Herkunft der Verschwundenen und Opfer von Morden mit unbekannten Tätern festzustellen, genügt ein Blick in den "Susurluk-Untersuchungsbericht".
Als weitere Bilanz des Krieges sind noch die namenlosen und nirgendwo registrierten 3-4 Millionen Menschen zu nennen, die in alle vier Himmelsrichtungen verstreut wurden, und die uns mal in Istanbul als Taschentuch verkaufende oder bis spät in die Nacht Autoscheiben putzende Kinder, mal als Saisonarbeiter in der Landwirtschaft in der Çukurova oder an der Ägäis begegnen, oder die in Ordu und Giresun am Schwarzen Meer der Stadt verwiesen werden, weil sie kein Einreisevisum haben, weil sie "Kreaturen" (20) mit einer fremden Sprache und fremden Sitten und Gebräuchen sind, oder die immer mal wieder an den Küsten Italiens stranden, die es in einer Masse von 300.000 (21) Flüchtlingen geschafft haben, sich illegal, hungrig und halb nackt quer durch den Balkan nach Deutschland durchzuschlagen.
Ein anderer Aspekt des Krieges in Kurdistan sind die katastrophalen Folgen für die Wirtschaft. Landwirtschaft und Viehzucht wurden zerstört und unzählige Menschen von der Teilnahme am ökonomischen Leben ausgeschlossen.
In einem Land, in der die Wirtschaft in der Krise steckt, das mit 97 Milliarden Dollar Auslands- und 36 Milliarden Dollar Inlandsverschuldung bis zum Hals in Schulden steckt (22), wurden anstatt Arbeitsplätze zu schaffen, in einem unerklärten Krieg den Angaben des Außenministeriums vom November 1998 zufolge 96 Milliarden Dollar für Blutvergießen und Tränen verpulvert. Mit diesen 96 Mrd. Dollar (23) könnten laut einer Berechnung der Tageszeitung Hürriyet vom 22.2.99 z.B. 80.000 Schulen oder 4.500 Krankenhäuser mit einer Kapazität von jeweils 330 Betten gebaut werden.
Inflation, Teuerung, Arbeitslosigkeit, Hunger und Armut sind nicht mehr zu bremsen. Die Inflationsrate im Jahre 1998 lag bei über 70%.(24) Das wirtschaftliche West-Ost-Gefälle zwischen den türkischen Metropolen und den durch den Krieg zerstörten kurdischen Provinzen hat sich dabei verzehnfacht (25). Während das nationale Einkommen in Kocaeli am Marmarameer bei 7.882 Dollar jährlich liegt, beläuft es sich in Agri nur auf 744 Dollar, d.h. nicht einmal 10 Einwohner von Agri verdienen zusammen so viel wie einer in Kocaeli.
In den 40 Mitgliedsstaaten des Europarats leben 800 Mio. Einwohner. Allein aus der Türkei mit ihren 63 Mio. Einwohnern stammen 2.000 der bisher gestellten 8.000 Anträge, die vor dem Menschenrechtsgerichtshof des Europarats zu verhandeln sind. Hierzu zählen zunehmend Rechtsstreitigkeiten, die sich mit den Folgen der Dorfzerstörungen und Vertreibungen sowie Misshandlungen befassen. Nach Angaben des türkischen Justizministers muss die Türkei sich darauf vorbereiten, ca. 7 Milliarden Dollar Entschädigung zu zahlen.
(26)

(17) TBMM Göc Arastirma Raporu (10/25); auf deutsch hrsg. vom Dialog-Kreis unter dem Titel "Parlamentarier der Türkei durchbrechen Tabu in der Kurdenfrage - Parlamentarische Kommission berichtet über systematische Vertreibung von Kurden und fordert eine neue Politik", Juli 1998

(18) Hürriyet, 8.5.99

(19) Sabah, 28.8.97

(20) Nützliche Nachrichten 3/98; Cumhuriyet, 6.8.98; Hürriyet, 5.7. u. 19.8.98; Sabah, 22.8.98; Süddeutsche Zeitung (SZ), 8.8.98; FR, 24.8.98

(21) Nützliche Nachrichten 3/97

(22) Nützliche Nachrichten 1/99; Milliyet, 23.12.98; ÖP, 11.11.98

(23) Nützliche Nachrichten 1/99; Hürriyet, 14.11.98; ÖP, 22.2.99

(24) Nützliche Nachrichten 1/99; Hürriyet, 4.1. u. 8.1.99

(25) Nützliche Nachrichten 1/99; Milliyet, 29.12.98

(26) FR, 30.10.98; Hürriyet, 3. u. 7.11.98