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  An dem folgenden Diskussionspapier, das auf der TIE/Express-Tagung zum Thema "Prekarisierung" vorgestellt und debattiert wurde, haben sechs Kolleginnen und Kollegen aus dem Berliner "Bündnis kritischer GewerkschafterInnen" gearbeitet. Wir haben zwar viele Stunden diskutiert, dennoch ist, zu unserem eigenen Erstaunen, am Ende kein einheitliches Ergebnis zustandegekommen. So liegt vor Euch ein Text, der nicht nur verschiedene "Stile" vereint, sondern auch sehr unterschiedliche Positionen. Einen Teil der Kontroverse haben wir in Frageform an das Ende jeder These gestellt.

Prekarisierung - eine neue Qualität von Verschlechterung der Reproduktion der Arbeitskraft

Unter dem Druck der Offensive des Kapitals findet eine weltweite Umstrukturierung der Klassenverhältnisse zwischen Bourgeoisie und Proletariat, der Klasse der Lohnabhängigen, statt. In den Metropolen des Kapitals ist die Auflösung jenes Typs von Klassenbeziehungen bestimmend geworden, der weithin als "sozialstaatlicher Klassenkompromiß" bezeichnet wird. Mit Prekarisierung werden sowohl in den sozialen Bewegungen, als auch in der akade-mischen Diskussion Phänomene der Veränderung von Arbeitsbeziehungen in den kapitali-stischen Metropolen bezeichnet. Unter Arbeitsbeziehungen verstehen wir jene Beziehun-gen,die die Lohnabhängigen beim Verkauf ihrer Arbeitskraft an das Kapital, dem unmittelba-ren Tausch von Arbeitskraft gegen Lohn, faktisch eingehen. Arbeitsbeziehungen sind deshalb nicht nur als juristische Verhältnisse zwischen den Klassen aufzufassen, sondern als be-stimmte Form der Einheit von juristischen und ökonomischen Verhältnissen, die erst in ihrem Zusammenwirken eine bestimmte Form der Reproduktion von Arbeitskraft und Kapital reali-sieren. Deshalb gestattet auch erst eine bestimmte Art der Kombination verschiedener Seiten der Veränderung von Arbeitsbeziehungen die sinnvolle Verwendung des Begriffs der Prekarisierung.

Das Phänomen Prekarisierung

Mit dem Begriff Prekarisierung werden üblicherweise jene Veränderungen der Arbeitsbezie-hungen bezeichnet, die die Reproduktion der Lohnarbeitenden für sie "äußerst schwierig" - so die deutsche Übersetzung für das Wort "prekär" - machen, sich also von den bisher vor-herrschenden Arbeitsbeziehungen wesentlich unterscheiden. Die Veränderungsprozesse der Arbeitsbeziehungen, die mit dem Begriff Prekarisierung beschrieben werden, beziehen sich darauf, daß ein auch bisher schon existierender, aber in den kapitalistischen Metropolen der Nachkriegsära nicht vorherrschender und prägender Typ von Arbeitsbeziehungen nach Art und Umfang in neuer Dimension durchgesetzt wird. Diese Veränderungen der Arbeitsbeziehungen lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  • Abbau bisheriger Rechtssicherheiten und Durchsetzung von Rechtsunsicherheit der Lohn-abhängigen (Kurzzeitige Einstellungen, absolute Willkür der Unternehmer, vor allem bei Entlassungen, aber auch bei der Verfügung über den Einsatz der Arbeitskraft hinsichtlich Arbeitsort, Art der Arbeit, Arbeitszeit)
  • Durchsetzung von Arbeitsbeziehungen, die durch das Fehlen jeglicher tatsächlichen Schutzmacht der Lohnarbeitenden geprägt sind, seien es Gewerkschaften, Betriebsräte oder ähnliche kollektive Verteidigungseinrichtungen der Lohnabhängigen oder sei es auch der Staat. Das bedeutet: die Lohnarbeitenden sind dem Diktat des Kapitals ausschließlich individuell ausgeliefert.
  • Durchsetzung von Löhnen, die am oder unter dem gesellschaftlichen Existenzminimum liegen und deshalb die"arbeitenden Armen" (working poor) dazu zwingen, mehrere Jobs auszuüben, weil sie von einem einzigen nicht leben können.
  • Die extreme Gefährdung der Lohnarbeitenden durch Arbeitsbedingungen, die ihre Ge-sundheit in einer nicht mehr für möglich gehaltenen Weise ruinieren, sei es durch fehlende Arbeitssicherheit und Unfallgefahr, sei es durch fehlende Maßnahmen des Gesundheits-schutzes.

Die Gesamtheit dieser Prozesse und insbesondere deren Kombination weist darauf hin, daß es sich um solche Veränderungen der Arbeitsbeziehungen handelt, die die soziale Existenzunsi-cherheit und den täglichen Überlebenskampf der Lohnabhängigen erzwingt und zum bestim-menden Aspekt der Arbeitsbeziehungen macht. Erst das Zusammenwirken der verschiedenen Seiten der Arbeitsbeziehungen ergibt aber nur eine solche Konsequenz für die Lohnabhängi-gen. Der fehlende juristische oder kollektive Schutz und die Rechtsunsicherheit allein gestat-ten es noch nicht, von prekären Verhältnissen zu sprechen. Ein Softwarehersteller, der als Scheinselbständiger auf Honorarbasis sehr hohe Einkommen erzielt und volle Auftragsbücher über Jahre hinweg hat, ist zwar relativ rechtlos, aber die ökonomische Situation schließt eine tägliche Existenzgefährdung dennoch weitgehend aus. Wie für Berufsgruppen, die aufgrund von Monopolstellungen am "Arbeitsmarkt" oder aufgrund der Konjunktur eine relative öko-nomische Sicherheit erhoffen können, gibt es auch für ganze Wirtschaftszweige in Zeiten des Booms die faktische Zurückdrängung sozialer Existenzgefährdung der abhängig Beschäftig-ten, obgleich die rechtlich Situation prekär sein mag. Umgekehrt muß aber auch eine Lohn-senkung oder die Verschlechterung von Arbeitsbedingungen noch nicht zu prekären Arbeits-beziehungen führen.

Der Begriff der Prekarisierung

Das Wesen der Prekarisierung ist also nicht einfach mit der juristischen oder ökonomischen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, etwa der Absenkung des Werts der Ware Arbeits-kraft oder der Intensivierung des Arbeits- und Ausbeutungsprozesses, identisch. Deshalb ist es notwendig, ein Kriterium anzugeben, welches dazu berechtigt, bestimmte Veränderungen von Arbeitsbeziehungen als Prekarisierung zu bezeichnen. [Prekarisierung sollen deshalb solche Veränderungsprozesse der Arbeitsbeziehungen heißen, die prekäre Arbeitsbezie-hungen schaffen. Arbeitsbeziehungen sollen dann prekär genannt werden, wenn sie die gesellschaftli]che Reproduktion der Arbeitskraft gefährden. Durch die konsequente Aus-richtung des Begriffs der Prekarisierung an der Reproduktion der Ware Arbeitskraft lassen sich deshalb nicht nur prekäre von nichtprekären Arbeitsbeziehungen unterscheiden: Prekari-sierung ist der gesellschaftliche Prozeß der Verwandlung von nichtprekären in prekäre Arbeitsbeziehungen. Prekäre Arbeitsbeziehungen sind solche Arbeitsbeziehungen, die die prekäre soziale Existenz der Lohnabhängigen zur Folge haben. Da die Reproduktion der Arbeitskraft wie bei jeder anderen Ware sowohl wert- als auch gebrauchwertseitig erfol-gen muß, gehen also in die Bestimmung ihrer prekären sozialen Existenz sowohl die gesell-schaftlich notwendigen Reproduktions- und Konsumtionsmittel und deren Werte mit ein, als auch die spezifischen sozialen Formen dieser Reproduktion. Die prekäre soziale Existenz von Lohnabhängigen kann deshalb ohne Analyse der spezifisch historischen Form der Repro-duktion der lohnabhängigen Klasse als Ganzes nicht begriffen werden. In der BRD müssen etwa die seit langem erfolgte Auflösung der Großfamilien oder die Entkopplung der Repro-duktion des städtischen Proletariats von agrarischer Reproduktion, die zuvor jene Funktionen ausübten, die danach von staatlichen Systemen sozialer Sicherung abgelöst wurden, histo-risch spezifische Ausgangspunkte für die Analyse prekärer sozialer Existenz bilden. Der Kampf gegen prekäre Arbeitsbeziehungen kann sich deshalb auch nicht nur auf verbesserte Arbeitsbeziehungen allein konzentrieren, sondern muß sich auf die Veränderung der Repro-duktionsbedingungen der Lohnabhängigen in ihrer Gesamtheit richten. Zunehmende Bedeu-tung erhalten ganz wesentlich auch jene vom Lohnverhältnis abgeleiteten prekären Arbeitsbe-ziehungen, in denen der Staat als Ersatzunternehmer eines zweiten und dritten Arbeitsmarktes auftritt und zum großflächigen Durchsetzer prekärer Arbeitsbeziehungen in Gestalt von Ar-beitsbeschaffungsmaßnahmen oder Zwangsarbeit für Sozialhilfeempfänger wird. Zum Ver-ständnis der Prekarisierungsprozesse müssen also nicht nur nichtprekäre von prekären Ar-beitsbeziehungen logisch unterschieden werden. Prekarität ist vor allem eine historische Ka-tegorie. Deshalb kann und muß auch die historische Richtung des gegenwärtigen Prozesses der Veränderung proletarischer Reproduktionsbedingungen insgesamt bestimmt werden. Nur dort, wo nichtprekäre Arbeitsbeziehungen durch die lohnabhängige Klasse erkämpft wurden, wie in den Metropolen des Kapitals, kann deren Aufhebung durch prekäre Verhältnisse über-haupt sinnvoll als Prekarisierung definiert werden. Die Verwandlung von Bauern in Lohnar-beitende im Zuge der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals bedeutet zwar in der Regel ebenfalls deren Verwandlung in ein Proletariat mit prekärer sozialer Existenz, doch eben jener Prozeß, der sich heute in den Metropolen durchsetzt, ist geprägt durch die Verwandlung eines nichtprekären in ein prekär existierendes Proletariat. Die Prekarisierung der Arbeitsbeziehun-gen ist allerdings nur eine Seite in dem komplexen Prozeß der Neustrukturierung des Metro-polenproletariats im Zuge der Reorganisation des kapitalistischen Produktions- und Ausbeu-tungsprozesses. Unter den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen zeichnen sich u. E. zukünftig folgende große Formationen derSpaltung des Proletariats ab:

  • Die Schaffung einer Schicht von Lohnabhängigen, wie etwa Symbolanalytiker [ein Be-griff, den Jeremy Rifkin von Robert Reich, dem ehemaligen US-Arbeitsminister und `MIT-Ökonom, übernommen hat und der jene Elite bezeichnen soll, die den ökonomisch relevanten Informationsstrom steuern] und obere Dienstleister, als hochqualifizierte Min-derheit über relativ gesicherte und hochbezahlte Arbeitsplätze verfügt und die die hoch-motivierte Basis sind, deren "Gold in den Köpfen" für die Unternehmen erschlossen wer-den soll.
  • Die Schaffung einer in sich differenzierten und hierarchisch abgestuften Schicht von unge-sicherten und prekarisierten Lohnabhängigen, deren soziale Sicherheit als gemeinsames Merkmal weitgehend oder gar ausschließlich individuell organisiert werden muß.
  • Die Existenz einer umfänglichen industriellen Reservearmee, deren Druck auf die Be-schäftigten das nötige Zuchtmittel für deren Disziplinierung schafft.
  • Eine pauperisierte Unterschicht, die ohne Chancen einer Wiedereingliederung in den Ar-beitsprozeß die industrielle Reservearmee ihrerseits unter Druck hält.

Doch ob und in welchem Umfang diese Struktur der Lohnabhängigen und ihrer Spaltung sich durchsetzt, wird davon abhängen, ob nicht neue Klassenkämpfe andere gesellschaftliche Möglichkeiten eröffnen.

Durch unsere gesamte Vorbereitungsdiskussion zog sich die Kontroverse darüber, wie richtig und sinnvoll es sei, den Prozeß der Auflösung eines historisch bestimmten Typs von Arbeits-verhältnis - das sogenannte fordistische Normalarbeitsverhältnis - lediglich nach seiner pre-kären Seite hin zu betrachten. Die Kritiker der Nur-Prekarisierungsdiskussion brachten in Anschlag, daß damit, gewollt oder ungewollt, ein Schreckensszenario entworfen würde, das so aber nicht der Realität entspricht...Die Reaktion darauf war recht scharf. Letztlich ha-ben wir uns bis heute nicht einigen können.

Die Zuordnung: Wer ist in einem prekären Beschäftigungsverhältnis?

Als operationalisierende Bestimmung, anzuwenden in der jetzigen Bundesrepublik, bietet sich u.E. an, unter prekären Beschäftigungsverhältnissen jene zu fassen, für die gilt:

  • daß sie entweder materiell so schlecht tarifiert oder gesetzlich geregelt sind, daß dies nur eine Feigenblattfunktion hat
  • oder die überhaupt nicht rechtlich oder tariflich geregelt sind.
  • für die Unstetigkeit der Beschäftigung und Unsicherheit der Lebenslage entweder Voraus-setzung oder Folge ist.
  • Weiterhin sind sie in den seltensten Fällen sozialversicherungsrechtlich angebunden, sprich sozialversichert
  • und/oder bei Ihnen wird kein existenzsicherndes Einkommen erzielt.
  • Häufig sind Beschäftigte in diesen Verhältnissen nicht durch die normalen Institutionen nach dem Betriebsverfassungsgesetz und andere (Personalräte) vertreten, da ihnen Be-triebszugehörigkeit oder innerbetriebliches Wahlrecht nicht zugestanden wird.

Eine besondere, hier nicht ausführlich bestimmte, Position innerhalb dieser prekären Be-schäftigungsverhältnisse nehmen diejenigen Verhältnisse ein, die als öffentliche Arbeiten (ABM, LKZ, Hilfe zur Arbeit etc.) vergeben werden. Nur soviel: Oftmals dienen sie als Tür-öffner für die nächste Runde der Lohnsenkung.

Offen bleibt damit allerdings noch, ob und wenn ja, von welchem Grad der Prekarisierung an jene Beschäftigten dazugerechnet werden, die im "Normalarbeitsverhältnis" mit der zuneh-menden Intensivierung der Arbeit und Rationalisierung konfrontiert sind, die zu einem relati-ven und absoluten Wertverlust der Arbeitskraft der dort Beschäftigten führt, also den Aus-beutungsgrad erheblich erhöht. Hinzu kommt eine Masse von Lohnabhängigen, deren Ar-beitsverhältnis befristet ist, nicht dem bisherigen Status des Lohnarbeiters entspricht und häu-fig unter das für diese Tätigkeit erreichte, d.h. auch gesetzlich oder tariflich garantierte Lohn-niveau sinkt. Infolgedessen sinkt das historisch einmal erreichte Niveau der Reproduktion von Lohnabhängigen in- und außerhalb der Fabrik für einen beträchtlichen Teil der Klasse. Es fragt sich, ob eine solch globale Sicht der Dinge nicht auch einen entsprechend allgemeinen Begriff wählen sollte. Insofern wurde in unserer Vorbereitungsdiskussion der Vorschlag ge-macht, unter Prekarisierung alle Vorgänge zu subsumieren, die sich in- und außerhalb des "Normalarbeitsverhältnisses" abspielen und die auf eine Verschlechterung der Lage der Lohnarbeitenden insgesamt abzielen.

Sehr schwierig erwies sich die Diskussion, als es darum ging, den Grad und die Qualität fest-zulegen, die es erlaubt, von einem prekären Arbeitsverhältnis zu sprechen. Ist es"schon" der VW-Arbeiter, dem dank des letzten Tarifergebnisses erhebliche Lohneinbußen erwarten? Und ist es "noch" die Teilzeitarbeiterin, die, rechtlich abgesichert, ein gutes "Zubrot", für den Familienlohn nach Hause bringt? Kompliziert, oder?

Ökonomische Ursachen der Prekarisierung und der "Sozialstaat"

Die Antwort auf die Frage danach, wer oder was diesen Prekarisierungstrend ausgelöst hat, ist nicht ganz unwichtig für eine linke Gegenstrategie. Zwei Vorgänge, die in einem deutlich abhängigen Verhältnis stehen, müssen hier aus einem ganzen Ursachenbündel hervorgehoben werden: * Zum einen die Umorganisierung der Produktion mit dem Ziel eines flexibleren und damit profitableren Einsatzes von Arbeitskraft und Maschinerie, was "dank" neuer Produktiv-kräfte auch möglich ist. Zu dieser Umorganisation gehört ebenfalls die Verlagerung von der gewerblichen Industrie, welche das Zentrum fordistischer Produktion war, hin zur Dienstlei-stungs - Industrie. *Zum anderen die Veränderungen in den Beziehungen von (National-) Staat und "nationalem Kapital", welche in der Phase fordistisch organisierter Produktion ein recht "inniges Verhältnis" hatten. Jetzt dagegen zieht sich der Staat teilweise aus seiner Rolle als "Sozialpolitiker" zurück.

Die enorme Intensivierungs- und Rationalisierungswelle der kapitalistischen Produktion ein-schließlich der prekarisierungsfördernden Managementstrategien von Gruppenarbeit, KVP oder lean production hat weitgehende Folgen für die gesamte Lohnarbeiterlandschaft, auch außerhalb der Fabrik. Die hohe Produktivität infolge der neuen Ausbeutungskonzepte macht eine Masse von Menschen erwerbslos, bzw. sie stehen als flexible Arbeitskräfte dem Kapital zeitweise und nach Bedarf zur Verfügung. Verhältnisse wie auf dem Bau liegen vor! Diese Art der Ausnutzung der Arbeitskräfte zeigt einen höheren Grad der Verwertung durch das Kapital an, es strukturiert sich - anders als in der fordistischen Phase - seinem spezifischen Bedarf entsprechend das Arbeitskräftepotential stärker auch außerhalb des "Normalarbeits-tages", etwa in Form von Zeitarbeit oder Scheinselbständigkeit. Und gerade jetzt, wo er am meisten gebraucht würde, läßt die "Schutzfunktion" des Staates zu wünschen übrig! Der Zu-sammenhang zwischen einer Globalisierung des Kapitals und der Tatsache, daß der Staat sei-ne "sozialen Aufgaben" nur ungenügend wahrnimmt, scheint evident. Dennoch bleibt hier Diskussionsbedarf.

Braucht das Kapital diese Funktion nicht mehr? Und: wie realistisch oder sinnvoll ist es überhaupt, den Staat an seine bisher wenigstens in unseren Breiten eingenommene Funktion zu erinnern? Privatisierung - pfui! Verstaatlichung - hui? Weitere Fragen, die in der Vorbe-reitungsgruppe kontrovers diskutiert wurden: Kann man aus diesem "Ursachenbündel" überhaupt ein oder zwei Vorgänge als bestimmende herausstreichen? Ist nicht bspw. die Dif-fer-en-zie-rung und Sät-ti-gung der Mär-kte 'for-dis-ti-scher War-en' (auch durch die mit dem For-dis-mus her-vor-ge-brach-te In-di-vi-dua-li-sie-rung und damit ein-her-ge-hen-der Ver-än-d-er-ung von Kon-sum-mus-tern) eben-so ent-schei-dend dafür, daß die Ka-pi-ta-le ge-zwung-en sind, die Pro-dukt-palet-te zu di-ver-si-fi-zie-ren und damit auch die Pro-duk-tion zu fle-xi-bi-li-sie-ren?

 

Kein Zurück zum fordistischen "Normalarbeitsverhältnis"!

Auch in den Hoch-Zeiten des "fordistischen Normalarbeitstages" gab es prekäre Arbeitsver-hältnisse. Immer schon war ein rechtlich/tariflich abgesichertes und zeitlich genau bestimmtes 8-Stunden-Arbeitsverhältnis nur einen historisch recht kurzen Zeitraum und nur für einen be-grenzten Teil der Lohnabhängigen gültig gewesen. Es sollte für die Reproduktion des Arbei-ters (wie seiner Familie) ausreichen und dauerte meist ein Leben lang. In der Regel kamen in diesen "Genuß" männliche Facharbeiter in solchen Branchen, in denen ein kontinuierlicher Verwertungsprozeß organisiert werden konnte. Da, wo es der Kapitalseite aufgrund von "Verwertungsausfallzeiten" profitabler erschien, etwa in der Baubranche oder der Landwirt-schaft, waren häufig prekäre Arbeitsverhältnisse angesagt. Frauen waren ohnehin aus der so-genannten Vollbeschäftigung überwiegend ausgeschlossen.

Und dennoch hatte dieser Typ des fordistischen Arbeitsregimes eine große Sogwirkung auf die ganze Gesellschaft; hier war die Arbeitsproduktivität am höchsten und so bestimmte die-ser fordistische Produktionstyp das Gesamtniveau der gesellschaftlichen Reproduktion. Nicht zuletzt ist er maßgebliche Quelle für ein Denken, das wir als "Arbeitszentriertheit" kri-tisieren. Wenn sich dieses Arbeitsregime heute in seiner dominierenden Stellung auflöst und eher die prekäre Seite des Lohnarbeitens zur tendenziell bestimmenden wird, stehen wir vor der begrifflichen und politischen Schwierigkeit, diesem Trend kritisch entgegenzutreten, ohne in eine nostalgische Betrachtung der vergangenen fordistischen Arbeitsorganisation zu ver-fallen. Ein Zurück gibt es vor allem darum für linke Kritiker nicht, weil sie in einer Neuaufla-ge eines alten Zustandes, und am liebsten für alle, keine wirkliche Perspektive der Lohnar-beiter und Lohnarbeiterinnen sehen. Das ist u. E. nicht einfach zu erklären, und vor allem nicht gerade einfach in der Praxis anzuwenden. Es muß uns auch bei diesem Thema eine ähn-liche Gratwanderung gelingen, wie wir sie bei der Bewertung der Globalisierung oder der gegenwärtigen Rolle des "Sozialstaates" versucht haben: Irgendwo zwischen der Verteidi-gung von Sozialleistungen und einer gleichzeitigen Überwindung der Staatsfixierung liegt die Wahrheit.

Für eine Alternativdiskussion ist es also wichtig, keine rückwärtsgewandten Vorschläge zu machen und etwa ein Programm zur Vollbeschäftigung zu entwickeln. Denn: Das fordistische Arbeitsregime ist nicht nur nicht erstrebenswert, es ist auch nicht wieder herstellbar, außer man würde die neuen Produktivkräfte einfach mal abschaffen. Geht es nicht vielmehr darum, diesem Auflösungsvorgang seine "prekäre Seite" zu nehmen, ihm eine andere Richtung zu verpassen? So gesehen, ist nicht die Teilzeitarbeit das Übel, nicht der Honorarvertrag, nicht die staatlich finanzierte ABM, ja nicht einmal die Erwerbslosigkeit, sondern die Bedingungen unter denen sie derzeit in den meisten Fällen zu haben sind!?

Offene oder kontroverse Fragen aus unserer Vorbereitungsdiskussion: Kann man prekär nennen, was sich um den fordistischen Arbeitstyp herum abspielte oder ist es nicht richtiger nur das, was wir heute erleben unter "Prekarisierung" zu fassen, um seine besondere Quali-tät deutlich zu machen? Zu den notwendigen konstituierenden Elementen dieses Fordismus sollte auch noch die Ausschließung von Nicht-Deutschen gezählt werden, nicht zuletzt, weil, wer eine Wiederherstellung dieses Normalarbeitstages fordert, sich im Klaren sein muß, daß er solche rassistischen Bedingungen mitfordert.

 

Liegen auch Chancen für Widerstand in der Prekarisierungstendenz?

Diese Frage ist nicht nur als einfache Provokation gedacht. Es geht um die Aufforderung ge-rade auch an die kritische Betriebslinke, in ihrer Analyse nicht die andere Seite zu vergessen, die auch ein Merkmal der Auflösung des "fordistischen Arbeitsregimes" ist. Gebannt - und das nicht zu Unrecht angesichts des derzeitigen Kräfteverhältnisses - starren wir auf die pre-käre Seite und vernachlässigen, daß es auch"Nutznießer" gibt, d.h. Menschen, denen der Wert nicht sinkt, die ein historisch höheres Niveau an z.B. Arbeitsinhalten und Arbeitszeiten mit der "anderen" Art zu arbeiten verbinden. Und nicht nur das: Der gesamte Prozeß der Auflö-sung des "Normalarbeitsverhältnisses" selbst hat zwei Komponenten. Absurd wie diese ganze kapitalistische Produktion ist, macht sie einerseits einen Reichtum möglich, wie ihn noch kei-ne Generation vor uns kannte, auch einen Reichtum an Möglichkeiten, z. B., sich zu vernetzen und zu verkabeln und damit völlig neue Widerstandformen aufzubauen.

Andererseits sind das nur potentielle Möglichkeiten und die Schere zwischen diesen Mög-lichkeiten und der Realität klafft weit auseinander. Dennoch und trotz dieser "Schere" ha-ben Linke die Aufgabe, nicht nur das verheerende Szenario einer weltweit prekarisierten Verwertungsgesellschaft zu malen, sondern genau zu gucken, wo sich reale Chancen für eine alternative Entwicklung bieten. War das nicht auch die fast einhellige Kritik an dem Vor-schlag von Karl Heinz Roth, daß dieser eine sich ausbreitende Pauperisierung konstatiert, um dann aus diesem Vorgang den allgemeinen Widerstand abzuleiten? Ohnehin existiert das Proletariat bei ihm nur unter prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen.

Das bei Roth festgestellte Liebäugeln mit einer revolutionären Verelendungstheorie zurück-zuweisen ist das eine, - wie aber gelangen wir nun von einer Verständigung über die verhee-rende Seite der Auflösung alter Arbeitsverhältnisse - also einer Diskussion über Prekarisie-rung - zu einem aktiven Widerstandsverhalten? Eine der größten Chancen, - dieser Gedanke war in der Berliner Vorbereitungsgruppe heiß umstritten - die in einer Entwicklung liegt, die den bald größeren Teil der lohnarbeitenden Bevölkerung aus der Normalität des alten Arbeits-regimes entläßt, besteht in der Möglichkeit eines sich ändernden Verständnisses über die Be-deutung von Lohnarbeit. Zugespitzt formuliert: Solange der "Normalarbeitstag" alle in seinen Bann zog, war auch kein Umdenken in diese Richtung möglich, jetzt aber ist die Chance nä-hergerückt, daß mehr als nur ein paar "Vordenker" den Standpunkt der verwertbaren Arbeit und der Reproduktion der Ware Arbeitskraft verlassen. Die massenhafte Erfahrung ist zwar keine Garantie für verändertes Denken und Handeln, aber eine notwendige Voraussetzung für diesen neuen Standpunkt.

 

Immer prekärere oder bessere Aussichten für Widerstand?

Da wir keine "Verelendungstheoretiker" sind und uns nicht von der Hoffnung nähren, es müs-se den Leuten nur richtig dreckig gehen, dann würden sie schon auf die Barrikaden steigen, fällt uns angesichts der geschilderten Zunahme prekärer Arbeits- und Lebenssituationen sowie der enormen Intensivierung der Arbeit wenig Aussichtsreiches ein. Zumal sich die kulturellen und politischen Lebenszusammenhänge in der Prekarität ebenfalls nicht zum besseren ent-wickelt haben. So ist, wer in ungeregelten und ungeschützten Arbeitsbeziehungen steht, oft in einem ungleich höheren Maß damit beschäftigt, seine Angelegenheiten zu regeln und hat we-nig Zeit für Widerständiges. Eine Reihe von traditionellen Lebensumständen der Fabrikar-beiter sind ohnehin zerstört. Die Lohnabhängigen gehen nicht mehr zur selben Zeit zur Arbeit, ihr Status ist unterschiedlich. Die Aussichten, daß eine zunehmend zersplitterte Lohnarbeite-rInnenschaft unter extremem Kokurrenzdruck revoltiert, erscheinen eher vage. Hinzu kommt ein - aus unserer Sicht viel zu wenig beachtetes Phänomen - welches darin besteht, daß die neuen Spaltungen innerhalb der Lohnabhängigen auch dazu führen, daß sich die einen die Dienstleistungen der anderen kraft ihrer Einkommen kaufen können. Ein nicht gerade solida-ritätsstiftender Zusammenhang!?

Dennoch wollen wir versuchen, am Schluß an zwei Beispielen eine Herangehensweise zu beschrieben, die berücksichtigt, daß der Prozeß der Auflösung des alten fordistischen Arbeits-regimes nicht nur eine prekäre Seite hat und daß die mißliche Seite obendrein auch eine Frage des politischen Kräfteverhältnisses ist, das ja nicht notwendigerweise so bleiben muß ...

* Sicher, die alten, traditionellen Formen der Organisation der Arbeiter scheinen am Ende oder wenigstens nicht mehr die einzigen Widerstandsformen der Lohnabhängigen zu sein. Die bisherigen Zusammenhänge sind durch outsourcing oder Leiharbeit zerissenen. Überhaupt hat sich die "führende Rolle" des Industriesektors geändert, was angesichts der Tatsache, daß die Hälfte aller erwerbsfähigen Lohnabhängigen nicht mehr in diesem Sektor beschäftigt sind, auch nicht verwundert. Damit werden aber neue Organisationsformen notwendig und auch schon praktiziert. Sie entstehen außerhalb der Fabrik. Ihr Merkmal: In solchen Initiativen oder Organisationen finden sich abhängig Beschäftigte und Erwerbslose aus den verschiedensten betrieblichen und gesellschaftlichen Bereichen. Ihr Ort ist das Territorium, nicht in erster Li-nie der Betrieb. Ihre Themen sind entsprechend übergreifend und reichen von...bis... Ein sol-ches Beispiel für diese neue Form der Organisation ist die französische Arbeitsloseninitiative AC!

* Ähnlich widersprüchlich in der Wirkung auf die Betroffenen stellt sich uns die Entwick-lung einer Lohnarbeit dar, die nun nicht mehr ein Leben lang ausgeführt, sondern zeitweise unterbrochen oder ganz gewechselt wird. Jemand, der nicht 40 Jahre in derselben Fabrikhalle steht, dagegen ständig neuen Anforderungen, auch an wechselnden Orten, ausgesetzt ist, muß aus unserer Sicht Fähigkeiten ganz neuer Art ausbilden. Die damit aktuell häufig verbundene Prekarität sollte uns nicht den Blick dafür verstellen, daß sich mit dieser notwendigen Flexi-bilität auch Potentiale für eine veränderte Art zu leben andeuten. Selbst die Erwerbslosigkeit ist ein vertracktes Ding: Deutlich weniger Geld zur Verfügung, oftmals Depression, Isolation etc. Auf der anderen Seite: Die mögliche Erfahrung von Zeitgewinn, dem Ausprobieren ande-rer, neuer, Rollen ("Nach der Kita gehört Papi mir!"), die Aufwertung von anderen Tätigkeiten als die der Lohnarbeit. Sehr ähnlich widersprüchlich in der Wirkung auf die Betroffenen stellt sich uns die Entwicklung einer Lohnarbeit dar, die nun nicht mehr ein Leben lang ausge-führt, zeitweise unterbrochen oder ganz gewechselt wird. Die damit aktuell häufig verbundene Prekarität sollte uns nicht den Blick dafür verstellen, daß sich mit dieser notwendigen Flexi-bilität auch potentielle Möglichkeiten für eine veränderte Art zu leben andeuten.

Es ließe sich an weiteren Beispielen zeigen, welche widersprüchlichen Effekte die verände-rungen in der Arbeit und auf dem "Arbeitsmarkt" für die Lohnabhängigen haben. Was pas-siert z.B. durch eine andere, nicht-fordistische Arbeitsorganisation? Wie modifizieren sich auch die Geschlechterbeziehungen mit der Zunahme von Frauenerwerbsarbeit? Ebenfalls kontrovers wurde diskutiert, ob nicht die "negativen" Auswirkungen der Prekarisierung der-art umfassend sind, daß die "positiven" Momente schlicht vernachlässigt werden können? Letztlich "verbarg" sich hinter diesem Streit eine unterschiedliche Auffassung über das, was die Alt-Marxisten unter uns den "widersprüchlichen Fortschritt" nennen. Nicht gerade eine unbedeutende Fragestellung ... Wir stellen sie hiermit zur Diskussion!

 
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