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            Gegen die Hierarchisierung des Elends
            Überlegungen zu Prekarisierung, Existenzgeld und Arbeitszeitverkürzung
            Der Hintergrund für das folgende Papier sind zwei unterschiedliche 
              Diskussionsstränge in ebenfalls jeweils unterschiedlichen Zusammenhängen. 
              Zum einen wird die Prekarisierungsdiskussion aufgegriffen, wie sie 
              in Teilen der Betriebs- und Gewerkschaftslinken geführt wird. 
              So haben wir uns etwa seit dem Frühjahr diesen Jahres an entsprechenden 
              Debatten im Rahmen der TIE/Express-Treffen beteiligt. Schwerpunkt 
              dieser Diskussion ist das Verhältnis der "atypischen" 
              oder prekären Formen von Arbeit und Existenzsicherung zum sog. 
              "Normalarbeitsverhältnis". Bei der damit verbundenen 
              Debatte um Kampfmöglichkeiten und Kampforientierungen muß 
              sich diese Diskussionen mit linkssozialdemokratischen Vorschlägen 
              aus Gewerkschaften und Parteien auseinandersetzen, die angesichts 
              zunehmender und unübersehbarer Lücken tariflicher und 
              betrieblicher Regulierungsmöglichkeiten auf eine neue, staatlich 
              organisierte Regulierung von Arbeitsbedingungen und Existenzsicherung 
              setzen. Der zweite Diskussionsstrang, der in dieses Papier eingegangen 
              ist, bezieht sich auf unsere Auseinandersetzung mit den Forderungen 
              nach Existenzgeld und Arbeitszeitverkürzung. Hier war der unmittelbare 
              Anlaß ein Debattenvorschlag der Gruppe F.e.l.S aus Berlin, 
              die damit alte Diskussionen der gewerkschaftsunabhängigen Erwerbslosenbewegung 
              aufgegriffen hat und mit dieser Orientierung für einen größeren 
              internationalen Kongreß zur Krise der Arbeitsgesellschaft 
              in Berlin mobilisiert.  
            Wir haben lange überlegt, ob wir zwei getrennte Papiere veröffentlichen 
              sollten, die sich dann deutlich auf die jeweiligen Diskussionszusammenhänge 
              bezogen hätten. Letztlich haben wir uns aber doch zu dem Versuch 
              entschlossen, beide Diskussionen, die in unseren Augen zusammengehören, 
              auch zusammenzuführen; daher ein zusammenhängender Text. 
              Gleichzeitig haben wir uns im Laufe der Diskussion von den unmittelbaren 
              "Vorlagen" entfernt und legen hiermit einen allgemeineren 
              Diskussionsbeitrag vor, mit dem wir in diese laufenden Auseinandersetzungen 
              eingreifen wollen. Im ersten Teil gehen wir auf die Debatte um prekäre 
              Beschäftigungsverhältnisse ein. Unsere These ist dabei 
              die, daß es bei der Prekarisierung letztlich um eine allgemeine 
              Neudefinition dessen geht, was heute "normale" Arbeit 
              ist. Im zweiten Teil stellen wir die Verbindung zu der Debatte um 
              Existenzgeld und Arbeitszeitverkürzung her. Beide Forderungen 
              werden dabei nicht zu einer wirklich gemeinsamen Klammer der Kämpfe 
              von (prekär) Beschäftigten und Erwerbslosen führen, 
              so lange sie nur als Forderungen nach gesetzlichen Maßnahmen 
              verstanden werden. Das ändert sich dann, wenn diese Forderungen 
              in jeweils unterschiedlicher Form die Weigerung transportieren, 
              das eigene Leben bedingungslos den Anforderungen "der Arbeit" 
              zu unterwerfen. 
            I. Prekarisierung -  
              Überlegungen zu einer prekären Debatte 
            Kampf um das "Normalarbeitsverhältnis"
            Die Prekarisierungsdiskussion krankt an der Unschärfe des 
              Begriffs, und die Unklarheiten nehmen noch zu, weil Sinn und Zweck 
              der Debatte nicht deutlich werden. Ganz zu schweigen von den politischen 
              Schlußfolgerungen, den Handlungsorientierungen. Um es gleich 
              vorweg zu sagen: Es macht keinen Sinn, Prekarisierung oder Prekarität 
              als Begriff anzuwenden, um eine bestimmte Gruppe, Schicht oder gar 
              Fraktion der Lohnabhängigen definieren zu können. Es gibt 
              keinen "positiven" Begriff von Prekarisierung, er macht 
              nur Sinn im Verhältnis zum sogenannten Normalarbeitsverhältnis. 
              Deshalb bevorzugen ja auch andere - wie etwa Karl Heinz Roth - den 
              Begriff der "atypischen" Beschäftigungsverhältnisse. 
              Was aber ist nun "Norm" bzw. "typisch"? 
            Auch auf die Gefahr hin, dogmatisch-abstrakt zu erscheinen, wollen 
              wir zunächst etwas Grundsätzliches hervorheben: Es gibt 
              im Kapitalismus prinzipiell keine garantierten Beschäftigungsverhältnisse. 
              Das einzige, was wirklich garantiert bleibt, solange das Kapital 
              durch Klassenherrschaft existiert, ist die Lohnabhängigkeit 
              (nicht bloß von Einzelpersonen, sondern von privaten Haushalten). 
              Und die Grundform dieser Lohnabhängigkeit ist prekär. 
              Im älteren Wortschatz hieß dies einmal: "Proletarität", 
              die garantierte Unsicherheit der Lebensbedingungen. Was wir Normalarbeitsverhältnis 
              nennen, ist keine Norm kapitalistischer Reproduktion im allgemeinen 
              Sinne - auch historisch galt diese Norm weltweit ja nie -, sondern 
              ein historisches Verhältnis, geronnen in dem, was neuerdings 
              "fordistischer Klassenkompromiß" genannt wird. Dieser 
              Klassenkompromiß war kein Handel zwischen Gleichen, er ging 
              vielmehr aus Klassenkämpfen hervor und beruhte, wenn auch vermittelt 
              in vielen Formen von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, auf 
              einem permanenten Klassenkonflikt. Im Kern enthielt dieser Kompromiß 
              einen Deal mit wechselseitigen "Garantien". Dieser Deal 
              beinhaltete einerseits einen störungsfreien Ablauf der Produktion, 
              was ein erhebliches Ausmaß an Regulierung und Kontrolle der 
              Arbeitskraft nach sich zog. Dafür war insbesondere die institutionelle 
              Arbeiterbewegung (Gewerkschaften, Betriebsräte, Linksparteien) 
              mit zuständig. Andererseits handelte sich diese Arbeiterbewegung 
              dafür einen relativen Massenwohlstand, auch als Massenwohlfahrt 
              in Sozialstaatssystemen, ein. 
            Dieser Klassenkompromiß, und damit auch das historische Normalarbeitsverhältnis, 
              ist nicht nur von oben aufgekündigt worden. Spätestens 
              Ende der 60er Jahre zeigten sich Blockaden, Störungen im Produktionsprozeß 
              - teils durch offene Revolten in den Fabriken, teils durch stille 
              Renitenz; jedenfalls ein deutliches Bewußtsein von der eigenen 
              Macht in der Produktion und ein starkes Bedürfnis, gegen den 
              Arbeitsdruck und die Arbeitsbedingungen vorzugehen. Die Widerständigkeiten 
              gegen die Bedingungen der Produktion bedeuteten natürlich nicht, 
              daß Ansprüche auf staatliche Transferleistungen aufgegeben 
              worden wären. Sie bedeuteten auch keine bewußte Ablehnung 
              des gesamten fordistischen Modells. Dennoch kollidierte die Ablehnung 
              der spezifischen Produktionsform sofort mit diesem Modell kapitalistischer 
              Vergesellschaftung, seine Grenzen waren damit gesetzt. Daraufhin 
              begannen in den 70ern die Angriffe der herrschenden Klassen, mit 
              denen ein neues Ausbeutungsmodell mit höheren Ausbeutungsraten 
              durchgesetzt werden sollte. Diese Angriffe wurden in den 80ern wesentlich 
              intensiviert und von den konservativen Regierungen weitergeführt. 
              In Ländern mit einer stark entwickelten Arbeiterbewegung und 
              entsprechenden Machtpositionen in Betrieb und Gesellschaft ging 
              das nur in heftigen Brüchen, schweren Kämpfen vor sich 
              - extrem etwa in Großbritannien. In der BRD vollzog sich dieser 
              Prozeß eher schritt- und scheibchenweise, bis etwa Anfang 
              der 90er Jahre. Prekarisierung, wie sie schon damals diskutiert 
              wurde, bedeutet: Mit Hilfe von Deregulierung der Arbeitsmärkte 
              und Entrechtung der Lohnabhängigen einerseits und einem erheblichen 
              Druck auf die Sozialleistungen andererseits wird der Zwang zur Arbeit 
              verschärft durchgesetzt.  
            Schon seit Anfang der 80er Jahre gibt es eine Debatte über 
              Prekarisierung. Nur hat sie erst in den vergangenen Jahren an Breite 
              gewonnen. Das beruht offensichtlich auf der beschleunigten Ausweitung 
              prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Aber wenn diese 
              ins Verhältnis zum Normalarbeitsverhältnis gesetzt werden, 
              dann fällt schnell auf, daß die Prekarisierungsdebatte 
              in demselben Maße zunimmt, wie der Begriff Prekarisierung 
              an Trennschärfe verliert. Die Trennschärfe schien Anfang 
              der 80er Jahre noch gegeben, als sich recht deutlich voneinander 
              unterscheidbare Gruppen ausmachen ließen, damals insbesondere 
              durch die Unterscheidung zwischen Rand- und Stammbelegschaften. 
              Fast alle Statistiken von prekären Beschäftigungsverhältnissen 
              orientieren sich an dieser Unterscheidung. Wie wenig Trennschärfe 
              jedoch heute noch gegeben ist, sieht man an der Einordnung von Teilzeitkräften 
              als prekäre Verhältnisse (in einigen Statistiken) und 
              ihrer Auslassung (in anderen Statistiken). Gleiches gilt für 
              die Erfassung von tarifierten Bereichen. Kann jemand genau erfassen, 
              wieweit sich Tarifpraxis und Tariflosigkeit in vielen Einzelfällen 
              noch voneinander unterscheiden? 
            Die Schwierigkeit, den Prekarisierungsbegriff zur Analyse von unterscheidbaren 
              sozialen Gruppen anzuwenden, deutet auf das Ausmaß hin, mit 
              dem Prekarisierung als Tendenz schon fortgeschritten ist. In dem 
              Zusammenhang, wie hier Prekarisierung im Verhältnis zum historischen 
              Normalarbeitsverhältnis bestimmt wurde, ergibt sich daraus 
              eine erste, grundsätzliche Schlußfolgerung: Prekarisierung 
              ist nicht (nur) die Schaffung von Sonderverhältnissen neben 
              einem unberührten Normalarbeitsverhältnis, sondern gehört 
              zu jenen Prozessen, die zusammengenommen historisch neu definieren, 
              was als Norm für Arbeitsverhältnisse zu gelten hat. In 
              jedem Fall handelt es sich also um ein Kampfverhältnis, etwas, 
              das weder statisch in Tabellen einzufrieren noch als schematisches 
              Szenario in die Zukunft hinein zu verlängern ist. Und es handelt 
              sich um ein Kampfverhältnis, das in jedem Fall den gesamten 
              Zusammenhang der lohnabhängigen Klasse, das gesamte Klassenverhältnis 
              betrifft. Wohlgemerkt, das gilt für die historische Analyse, 
              es ist aber schon ein Hinweis darauf, daß der Schlüssel 
              für den Kampf gegen die Prekarisierung weder allein in dem 
              einen noch in dem anderen Sektor der Klasse zu finden ist. 
            Re-Regulierung oder De-Regulierung?
            Natürlich bleibt die Ungleichheit zwischen den Lebensbedingungen, 
              vor allem aber zwischen den Kampfbedingungen der verschiedenen Sektoren 
              der Klasse enorm. Nur ist dies kein Beleg dafür, daß 
              zwischen Prekarisierung und Normalarbeitsverhältnis klar zu 
              trennen wäre. Die Ungleichheit ist nämlich Voraussetzung 
              dafür, daß sich die sogenannten typischen Arbeitsverhältnisse 
              den atypischen angleichen, die prekären Arbeitsverhältnisse 
              also zur Norm werden. Dies wiederum ist Voraussetzung dafür, 
              daß dann Menschen in noch miesere Arbeitsbedingungen getrieben 
              werden. Wie weit diese Schraube bereits angezogen worden ist, kann 
              an der Erosion der kollektivvertraglichen Regulierung, der Tarifpolitik 
              und der kaum noch zu erkundenden Grauzone von Tarifpraxis abgelesen 
              werden.  
            Nun bietet diese Entwicklung zwar allerhand Stoff für dunkle 
              Szenarien, aber es ist auch Vorsicht angesagt, was derartige Horrorprognosen 
              betrifft. Einmal abgesehen davon, daß die Auflösung des 
              bisherigen Normalverhältnisses noch keineswegs vollständig 
              vollzogen ist, bleibt auch fraglich, ob eine totale Deregulierung 
              wirklich im Interesse der herrschenden Klasse liegt. Ein völliges 
              Tabula rasa in der Tarifpolitik und den arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen 
              bedeutet ja zugleich einen erheblichen Kontrollverlust über 
              die Arbeitskraft. Regulierung oder Re-Regulierung heißt daher 
              immer auch Kontrollgewinn über die Arbeitskraft, Rückkehr 
              zum organisierten Pakt für eine störungsfreie Produktion. 
              Es gibt schon heute einige Erfahrungen damit, daß bereits 
              erste Anzeichen eines ernsthaften Widerstandes zu schnellen Regulierungsangeboten 
              seitens der Unternehmer führen können. Auf der anderen 
              Seite hat sich auch die Sichtweise seitens der Gewerkschaften ein 
              wenig verändert. Deren Politik konnte man bis vor einigen Jahren 
              - und heute noch überwiegend - so charakterisieren: der Prekarisierung 
              widerstehen, um die Kontrollmöglichkeiten im Betrieb zu behalten. 
              Was aber nicht hieß, Prekarisierte in Richtung auf kollektive 
              Kämpfe zu organisieren, sondern sich in den Betrieben gegen 
              die Bedrohung von außen zu verbarrikadieren. Die Wirklichkeit 
              hat diesen hartnäckigen Widerstand zur Bestandssicherung der 
              Stammbelegschaften mehr und mehr ins Leere gehen lassen. Sicher 
              dominiert diese Haltung noch innerhalb der Gewerkschaften, aber 
              die plötzliche Bereitschaft zur Debatte über Prekarisierung 
              ist letztlich der Erfahrung zu verdanken, daß die Staumauern 
              zwischen Rand- und Stammbelegschaften zwar noch nicht eingebrochen, 
              aber bereits kräftig unterspült worden sind. 
            In den Gewerkschaften wird sehr wohl gesehen, daß der Bereich, 
              der tarifpolitisch nicht abgedeckt wird, immer größer 
              wird. Auch der Druck auf die Sozialleistungen kann im tarifierten 
              Bereich kaum noch aufgefangen und durch Tarifvereinbarungen ausgeglichen 
              werden. Diese Lücke kann nach der Logik gewerkschaftlicher 
              Politik - und auch nach der Logik etwa maßgeblicher PDS-PolitikerInnen 
              - nur durch eine arbeitsmarkt- und sozialpolitische Gesetzgebung 
              gefüllt werden. Grundsicherung, gesetzliche Arbeitszeitregelungen, 
              Mindestlohn usw. - dies alles sind Stichworte für eine Re-Regulierungspolitik. 
              Nun wird niemand etwas gegen eine Verbesserung der gesetzlichen 
              Regelungen haben, - es ist ja nicht alles reformistisches Teufelswerk, 
              was das Leben besser macht. Aber hier drücken sich Gewerkschaften 
              und linke Sozialpolitiker nur gleichermaßen um das Problem: 
              Denn was können die parlamentarischen Sozialpolitiker schon 
              im Gesetzeswerk bewegen, wenn es keine außerparlamentarische 
              soziale Mobilisierung, also Kämpfe gibt? 
            Wenn es stimmt, daß Prekarisierung der Angriff auf und der 
              Kampf um die Norm der Arbeitsverhältnisse ist, dann läßt 
              sich jetzt schon sagen, daß eine Re-Regulierung von staatswegen 
              nur auf dem Niveau stattfinden wird, das entweder kämpfend 
              oder eben kampflos erreicht wurde. Würde sich die herrschende 
              Klasse auf dem heutigen Stand auf eine Neuregulierung einlassen, 
              käme exakt das dabei heraus, was zum Beispiel in Großbritannien 
              unter New Labour geschieht und möglicherweise in der BRD unter 
              Schröders Rot-Kohl auch ansteht: Einfrieren des Status quo 
              und damit Festschreibung aller bisherigen Angriffe des Kapitals 
              und Niederlagen des marginal gebliebenen sozialen Widerstandes. 
             
            Arbeit, Einkommen und die Hierarchie des Elends
            Alles deutet darauf hin, daß die absolute Arbeitszeit ausgeweitet 
              wird, daß die Menschen immer mehr Zeit mit (Lohn-)Arbeit verbringen. 
              Nicht nur der Blick auf das "amerikanische Jobwunder" 
              zeigt, daß die Forderung nach "Vollbeschäftigung" 
              z.Z. auf unheimliche Weise erfüllt wird. Auf ähnlich unheimliche 
              Art und Weise verwirklicht sich damit auch die alte radikale Forderung 
              nach einer Entkoppelung von Arbeit/Produktivität und Einkommen: 
              Früher hieß es "Mehr Lohn, weniger Arbeit". 
              Existenzsichernde und menschenwürdige Einkommen sollten unabhängig 
              von der Arbeitsleistung sein. Heute hingegen werden für immer 
              niedrigere Löhne immer längere Arbeitszeiten und immer 
              schlechtere Arbeitsbedingungen akzeptiert. Hier hat nicht nur die 
              Erwerbslosigkeit an sich, sondern insbesondere die Durchsetzung 
              prekärer Beschäftigungsverhältnisse - mit den darin 
              typischen hohen Ausbeutungsraten - schon Maßstäbe gesetzt. 
              Wenn heute ArbeiterInnen einer Arbeitszeitverlängerung zustimmen, 
              weil sie so ihr Einkommen in der gewohnten Höhe behalten, dann 
              kommt das einem totalen Zusammenbruch an gewerkschaftlichem Bewußtsein 
              gleich - wohlgemerkt, ein ganz normales Lohnabhängigenbewußtsein 
              im Kapitalismus! Sich im Widerstand gegen Prekarisierung des Normalarbeitsverhältnisses 
              auf das soziale Masseneinkommen zu reduzieren, ohne zugleich die 
              Arbeitsbedingungen - Arbeitszeit und Intenstität der Arbeit 
              - zu thematisieren, ist fahrlässig; und zwar deshalb, weil 
              dann nur noch der Schein von sozialer Gerechtigkeit aufrecht erhalten 
              wird, während der wirkliche Erfolg der neoliberalen Politik 
              unangetastet bleibt: daß Arbeit immer billiger wird. 
            Wer kämpft mit wem und gegen wen? Es gibt eine fatale Schere 
              im Massenbewußtsein: auf der einen Seite die Tendenz zur entwürdigenden 
              Haltung "Nehme jede Arbeit an"; auf der anderen Seite 
              das Bewußtsein einer konservativen Besitzstandswahrung - bei 
              Beschäftigten, die das Recht auf kollektivvertraglichen Schutz 
              zum Privileg umwandeln. Ein Recht kann zum Privileg verwandelt werden, 
              wenn seine Allgemeingültigkeit in Frage gestellt wird (Wir 
              erinnern hier nur an die heftigen Widerstände gegen Illegale 
              statt gegen Illegalisierung). Verstärkt werden diese Fronten 
              im Massenbewußtsein durch eine Hierarchisierung des Elends, 
              worin leider Linke die größten Meister sind. Argumentationsmuster 
              wie "Euch geht's ja noch gut, ihr profitiert vom Elend der 
              Armen und Entrechteten" reproduzieren bei den fest Beschäftigten 
              nur das Bewußtsein vom Glück und Privileg: "Warum 
              soll ich noch kämpfen, wenn es anderen doch noch viel schlechter 
              geht?" 
            Es gibt aber auch die Möglichkeit der Umkehrung: vom Privileg 
              zum Recht. Das bedeutet, den Kampf für sich zugleich für 
              alle zu führen. Und wenn es etwas gibt, das die vielzitierten 
              und häufig mystifizierten Erfahrungen in Frankreich zu Lehren 
              für uns werden läßt, dann ist es diese Öffnung. 
              Es gäbe kaum eine derartig wirksame Bewegung von Prekären 
              und Erwerbslosen in Frankreich, wenn nicht zuvor eine allgemeine 
              soziale Bewegung aus dem Kampf eines - durchaus "privilegierten" 
              - Sektors des traditionellen Kern der Lohnabhängigen hervorgegangen 
              wäre. Am Anfang stand die Orientierung: "Was wir für 
              uns tun, tun wir für alle!" Mittlerweile heißt es 
              schon häufiger: "Nichts für uns, alles für alle!" 
             
            Solidarität und Ausgrenzung bestimmen sich nicht danach, wer 
              wo in der Hierarchie des Elends steht, sondern danach, ob und wofür 
              gekämpft wird. Ein Kampf gegen illegale Beschäftigungsverhältnisse 
              der von "Legalen" für und mit "Illegalen" 
              geführt wird, ist richtig und notwendig. Umgekehrt kann ein 
              Kampf für allgemeine Rechte nicht deshalb aufhören, weil 
              prekär Beschäftigte - zum Beispiel während eines 
              Streiks - ihrer Arbeitsmöglichkeiten beraubt werden; als Streikbrecher 
              wären sie "Schmutzkonkurrenz". Wenn aber Festbeschäftigte 
              sich um ihren Betriebsrat und die Gewerkschaft scharen, um sich 
              die Prekären mit Hilfe der institutionellen Politik ausgrenzend 
              vom Hals zu halten, sind diese Festbeschäftigten selbst die 
              Schmutzkonkurrenz.  
            Bewegung nur auf dem Papier?
            Alle für sich und niemand für alle, so sieht es im Moment 
              aus. Selbst wenn wir jetzt, noch immer stark vermittelt über 
              die institutionelle Gewerkschaftspolitik, Erfahrungen mit Erwerbslosenaktionen 
              gewonnen haben, hat sich an der Selbstbezogenheit von Teilbereichsinitiativen 
              sehr wenig geändert. Natürlich ist es eine neue und positive 
              Erfahrung, wenn Erwerbslose selbstbewußt für sich eine 
              politische Öffentlichkeit herstellen. Das kann Rückwirkungen 
              haben bei den Beschäftigten, aber wer nimmt diese Rückwirkungen 
              auf, und wie? Zwischen den Aktiven in den Betrieben, auch den Betriebslinken, 
              und den sozialen Initiativen liegen Welten.  
            Aus dem bislang Gesagten geht wenigstens eines hervor: Es macht 
              keinen Sinn, wenn die brüchigen oder gerade erst entwickelten 
              Organisations- und Kommunikationsstrukturen in dem einen Bereich 
              zugunsten eines anderen aufgegeben oder aufgelöst würden. 
              Der entscheidende Fortschritt tritt auf beiden Seiten erst ein, 
              wenn Debatten und Organisierungsversuche aufeinander bezogen werden. 
              Hier ist ja immer von der "Klasse" die Rede, ihren inneren 
              Brüchen, aber auch von der Notwendigkeit, das gesamte Klassenverhältnis 
              im Blick zu behalten. Die Wortwahl, "Klasse", ist noch 
              ganz Ausdruck der jetzigen Misere, daß wir uns nämlich 
              in den großen Bezügen auf die Klassenverhältnisse 
              und mögliche Bewegungen immer noch in der Phase des Trockenschwimmens 
              befinden. Wenn Initiativen und Bewegungen einmal tatsächlich 
              fusionieren, also so etwas wie eine Soziale Bewegung existiert, 
              die in der Praxis sehr wohl weiterhin aus Teilbereichsaktivitäten 
              bestehen wird (Es sei denn, sie nähme den schrecklichen Weg, 
              ihr Schicksal einer Partei zu überantworten), dann wird statt 
              des kargen Worts "Klasse" eben nur noch von dieser Sozialen 
              Bewegung die Rede sein. 
            Das kann in der heutigen Praxis gewiß nicht künstlich 
              herbei geführt, allenfalls in Debatten vorweggenommen werden. 
              Was heute schon praktisch möglich ist, das ist freilich die 
              Verweigerung von Identitäten, die nur die Hierarchie des Elends 
              reproduzieren. Als entscheidenden Fortschritt in den französischen 
              Bewegungen haben Aktivisten von AC! die Überwindung der Erwerbslosen-Identität 
              genannt: Sie seien vom Ausgangspunkt her nicht Erwerbslose oder 
              Beschäftigte gewesen, sondern hätten zum Grundsatz gemacht, 
              daß jeder Erbwerbslose ein potentieller Erwerbstätiger 
              und jeder Erwerbstätiger ein potentieller Erwerbsloser sei. 
              Das zusammen ergibt die Prekarität. Ein qualitativer Sprung 
              wäre erreicht, wenn in den Aktivitäten von Betriebslinken 
              und Menschen aus den sozialen Initiativen ein ähnlicher Bezug 
              aufeinander hergestellt werden könnte. Auch wenn Welten zwischen 
              den Bereichen liegen und die Kampfformen und -bedingungen sehr verschieden 
              sind - die Inhalte einer radikalen Orientierung z.B. von Grundsicherung 
              und Arbeitszeitverkürzung als gemeinsame Bezugspunkte sind 
              keineswegs so weit voneinander entfernt. 
            In der jetzigen Situation ist deshalb diese inhaltliche Debatte 
              selbst eines der wichtigsten Momente der Organisierung. Sie ist 
              real die "Vernetzung", von der andauernd die Rede ist 
              und deren Einforderung ein Übermaß an Verbindungen herstellt, 
              Verbindungen, in denen viel geschieht, jedoch auch nur wenig kommuniziert 
              wird. Sich zu organisieren, heißt nicht, den Ort der eigenen 
              Praxis zu verlassen, sondern sich in der Debatte jedem Modell eines 
              privilegierten Ortes - etwa der Zentralität des Großbetriebes 
              und der Fabrik oder der rein lokalen Organisierung in Sozialläden 
              und Sozialzentren - zu verweigern.  
            II. Kampf gegen die(se) Arbeit
            Gerade die Forderungen nach Existenzgeld und Arbeitszeitverkürzung 
              (AZV) zeigen, wie schwach die inhaltlich Bezugnahme unterschiedlicher 
              Diskussionen ausgeprägt ist. Obwohl diese Forderungen sowohl 
              im Rahmen der Prekarisierungsdiskussion als auch bei den (neuen) 
              Erwerbslosenprotesten eine erhebliche Rolle spielen, ist es bisher 
              nicht gelungen, eine gemeinsame inhaltliche Klammer in diesen Diskussionen 
              zu entwickeln. Dies liegt auch an der Art und Weise, wie diese Forderungen 
              heute i.d.R. vertreten werden, nämlich losgelöst von der 
              ursprünglich in ihnen enthaltenen Kritik an der (Lohn-)Arbeit. 
              Gerade in der radikalen Kritik der real existierenden Arbeit liegt 
              aber der Schlüssel für eine inhaltliche Klammer, die über 
              zugewiesene Identitäten hinausgeht. Es geht darum, den umfassenden 
              Anspruch des Kapitals auf die grenzen- und bedingungslose Verfügbarkeit 
              über die Ware Arbeitskraft zurückzuweisen. Die Teilhabe 
              am gesellschaftlichen Reichtum muß nicht erst "verdient" 
              werden; der Zwang, arbeiten gehen zu müssen, bedeutet nicht, 
              daß die Ansprüche an Arbeitsbedingungen, Löhne etc. 
              unberechtigt wären. Und vor allem bedeutet dieser Zwang nicht, 
              daß man sich für "die Arbeit" entwürdigen 
              muß. Eine solche Orientierung gegen die Unterwerfung des eigenen 
              Lebens unter die Arbeit wäre eine inhaltliche Gemeinsamkeit 
              sowohl der Kämpfe gegen Prekarisierung als auch derjenigen 
              der Erwerbslosen. Unterschiedliche Forderungen wie z.B. Existenzgeld 
              oder Arbeitszeitverkürzung können dann Ausdruck einer 
              gemeinsamen inhaltlichen Stoßrichtung sein.  
            Existenzrecht unabhängig von Arbeit
            Die Existenzgeldforderung entwickelte sich in der politischen Auseinandersetzung 
              der BRD Beginn der achtziger Jahre. Die gewerkschaftsunabhängigen 
              Erwerbslosen- bzw. Jobberinitiativen stellten sie ausdrücklich 
              den gewerkschaftlich orientierten Forderungen nach Arbeit für 
              Alle und Arbeitszeitverkürzung entgegen. Es sollte nicht mehr 
              um einen Platz im Verwertungssystem der Lohnarbeit gekämpft 
              werden, sondern um die Anerkennung einer Existenzberechtigung für 
              jede unabhängig von ihrer Verwertbarkeit. Die Forderung richtete 
              sich nicht an den Staat, sondern war als Orientierung für die 
              Kämpfe gedacht, die in den achtziger Jahren um die Fragen von 
              Arbeit und Einkommen erwartet wurden. Folgerichtig wurde die Forderung 
              in den ersten Jahren ausdrücklich nicht beziffert. Vielmehr 
              suchte man nach Aktionsformen, die ausdrücken: "Wir nehmen 
              uns, was wir brauchen!" Diese Forderung drückte sich in 
              vielen Aktionen aus, die teilweise in erbitterten Auseinandersetzungen 
              mit anderen Teilen der Erwerbslosenbewegung durchgesetzt wurden: 
              Forderungen nach Nulltarif für (mindestens) alle öffentlichen 
              Einrichtungen wie Nahverkehr, Kultureinrichtungen, Schwimmbäder, 
              Büchereien, Volkshochschule etc., aber auch Mietstreiks, Besetzungen, 
              Nachdrucken von Fahrausweisen oder die gemeinsame Beschaffung von 
              Lebensmitteln und anderen benötigten Dingen  
            Um den Unterschied in der Orientierung zu den seit einigen Jahren 
              diskutierten "Grundsicherungsmodellen" deutlich zu machen, 
              geben die Erwerbsloseninitiativen seit etwa 1992 auch eine Höhe 
              an. Zwischen 1200,-DM bis 1500,- DM plus Mietkosten für jede/n 
              wird gefordert. Unabhängig vom exakten Betrag ist aber der 
              Gedanke wesentlich, daß auch ohne den Zwang - oder die Möglichkeit 
              - zur entfremdeten Arbeit eine Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum 
              möglich sein soll. Dennoch ist klar, daß durch diese 
              Festlegung auf einen Betrag viele Kompenenten der ursprünglichen 
              Forderung nicht mehr mitgedacht werden. 
            Damals wurde die Existenzgeldforderung von einer politischen Bewegung 
              getragen. Die Hoffnung auf eine massenhafte Bewegung von Erwerbslosen, 
              SozialhilfeempfängerInnen oder prekär Beschäftigten, 
              also all denen, die aus dem Normalarbeitsverhältnis herausfielen 
              und -fallen, hat sich in den vergangenen 15 bis 20 Jahren aber nicht 
              erfüllt. Warum sollten auch ausgerechnet diejenigen die Vorkämpfer 
              gegen die gesellschatlichen Enrwicklungen sein, die aus den sicher 
              scheinenden Lebenssituationen ausgeschlossen werden? Hinzukommt, 
              daß Bewegungen, die Menschen auf eine bestimmte Lebenssituation 
              festlegen und entsprechende Teilbereichsidentitäten formulieren, 
              letztlich Spaltungsmechanismen nachvollziehen: hier die Erwerbslosen, 
              dort die Beschäftigten und schließlich noch die Flüchtlinge. 
             
            Die politische Bewegung von damals gibt es derzeit nicht. Was es 
              heute noch in großer Zahl gibt, sind kleine, sehr unterschiedlich 
              orientierte Gruppen mit dem Themenschwerpunkt Erwerbslosigkeit ohne 
              einen klar erkennbaren Bezug aufeinander. Das wird auch nicht durch 
              die erfreuliche Entwicklung des Frühjahres 1998 mit den Erwerbslosenaktionstagen 
              relativiert. So wunderbar es ist, daß wieder in vielen Städten 
              Menschen auf die Strasse gehen um gegen die Erwerbslosigkeit und 
              die damit verbundene Ausgrenzung zu protestieren, sowenig kann hier 
              von einer politischen Bewegung mit erkennbaren gemeinsamen Zielen 
              oder Strategien gesprochen werden. Die direkte Aneignung, und sei 
              es symbolischer Art, ist nur sehr vereinzelt Bestandteil dieser 
              Aktionstage. Das politische Vakuum, das entsteht, wenn nicht mehr 
              erfolgreich die Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben 
              und Reichtum eingefordert werden kann, wird überbrückt 
              durch die Forderung an die Regierenden nach "Arbeit" und 
              nach Rücknahme der letzten Verschärfung. Bestenfalls könnte 
              ein so orientierter Protest eine neue Festschreibung auf erreichtem 
              schlechten Niveau sichern. Das wäre zwar immer noch besser, 
              als weitere Verschlechterungen, hat aber mit der Existenzgeldforderung 
              nichts zu tun. 
            Verblüffenderweise ist aber gerade im jetzigen Protest die 
              Forderung auf dem Papier viel unumstrittener als es Anfang der achtziger 
              Jahre der Fall war. Das ist nur erklärbar über eine Änderung 
              des - gedachten - Inhaltes. Reduziert auf eine Geldforderung an 
              den Staat, deren Höhe dann allemal von politischen Kräfteverhältnissen 
              bestimmt würde, werden all die weitergehenden Vorstellungen 
              von einer Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum ausgeblendet. 
              Dabei geraten die Vorstellungen darüber, wie diese Teilhabe 
              denn praktisch aussehen müßte, gleich mit aus dem Blick. 
             
            Arbeitszeitverkürzung wozu?
            Es ist nicht verwunderlich, daß der konkrete Inhalt der Forderung 
              nach Arbeitszeitverkürzung eine vergleichbare Entwicklung erlebte 
              wie die Existenzgeldforderung. Sie ist heute fast unumstritten, 
              dafür aber eines klaren Inhalts beraubt. 
            Die ursprüngliche gewerkschaftliche Forderung entstand zu 
              einer Zeit, als der Einfluß auf die Gestaltung der Arbeit 
              - jedenfalls in den Debatten - noch eine wesentliche Rolle spielte. 
              Arbeitszeitverkürzung meinte eine Verringerung der Arbeitsmenge 
              bei Erhalt der Einkommensmöglichkeit und -höhe. Die Verwirklichung 
              dieser Idee hätte eine weit stärkere Einflußnahme 
              auf den Inhalt der Arbeit vorausgesetzt, als sie dann möglich 
              war. Tatsächlich ist es in den letzten Jahren zwar gelungen, 
              Arbeitszeitverkürzung tarifpolitisch zu vereinbaren. Die Einflußnahme 
              auf die Gestaltung und Organisation der Arbeit hat jedoch eher ab- 
              als zugenommen: Arbeitsverdichtung, vermehrter Einsatz von LeiharbeiterInnen, 
              Vergrößerung der nicht mehr tarifierten Bereiche innerhalb 
              eines Betriebes, Auslagerung von Produktion, untertarifliche Bezahlung 
              als Regel in zahlreichen Branchen. All diese Veränderungen 
              der Arbeit waren Gegenstand von Auseinandersetzungen, die schließlich 
              bis heute weitgehend erfolglos blieben.  
            Die Erfolglosigkeit liegt vor allem darin, daß die Verfügungsmöglichkeit 
              über die Arbeit heute mehr als vor zwanzig Jahren den Chefs 
              zugestanden wird. Das Bewußtsein, daß die Lohnabhängigen 
              auf die Gestaltung ihrer Arbeit einen Anspruch erheben könnten, 
              ist geringer geworden. Nicht erst seit den Debatten um den Standort 
              Deutschland machen deshalb die Beschäftigten die Probleme der 
              Chefs zu ihren eigenen: "Wie soll der Betrieb kurze Arbeitszeiten, 
              viel Urlaub und hohen Lohn erwirtschaften?" Mit solchem Denken 
              ist der Erpressung von oben nicht viel entgegenzusetzen. 
            Die Entwicklung der AZV-Forderung hat zu diesem Denken beigetragen. 
              In erster Linie wurde über die Verteilung der Produktivitätsgewinne 
              diskutiert: Lohnerhöhungen oder kürzere Arbeitszeit. Es 
              stand nicht das Lebensgefühl im Vordergrund "Wir wollen 
              weniger kaputt nach Hause kommen, aber das Gleiche verdienen". 
              Es gab keinerlei betriebliches Selbstbewußtsein dafür, 
              daß der Anspruch berechtigt sein könnte, nicht kaputt 
              nach Hause zu kommen. Oder es wurde zugelassen, daß innerhalb 
              des Betriebes KollegInnen als LeihartbeiterInnen o.ä. weniger 
              Geld für die gleiche Arbeit bekamen. Vor diesem Hintergrund 
              entwickelte sich die Arbeitszeitverkürzung zu Lohnkürzung 
              und Arbeitsverdichtung. Dabei war den KollegInnen eine verkürzte 
              Arbeitszeit weit weniger wichtig als ein gesichertes Einkommen oder 
              der Erhalt des Arbeitsplatzes. Das führte dazu, daß in 
              zunehmenden Bereichen der Tarif nur noch auf dem Papier steht. So 
              trifft man etwa im Bereich Metall und Elektroindustrie betriebliche 
              Vereinbarungen zwischen 28.8 Stunden und über 40 Stunden Regelarbeitszeit, 
              und das nicht nur in kleinen Betrieben. 
            Die flexible Verfügbarkeit wurde in den letzten Jahren in 
              vielen Betrieben Normalität, mit Unterstützung großer 
              Teile der Gewerkschaften, mit Unterstützung der Betriebsräte 
              sowieso. Mit Arbeitszeitverkürzung ist so immer öfter 
              nur noch eine Anpassung an die Auftragslage gemeint. Wenn der Laden 
              nicht läuft, beinhaltet diese Tendenz die Verringerung der 
              Arbeitzeit bei voller Lohnkürzung oder auch die Verlängerung 
              ohne Überstundenzuschläge. Für mehr Freizeit und 
              das Bedürfnis, weniger kaputt nach Hause zu kommen, ist damit 
              nichts erreicht. Arbeitszeitverkürzung ist bei den Beschäftigten 
              zunehmend unpopulär, an einen vollen Lohnausgleich glaubt auch 
              niemand mehr. Arbeitszeitverkürzung mit Lohnkürzung wird 
              gegen befristete Arbeitsplatzgarantien getauscht.  
            "... können wir nur selber tun"
            Die unterschiedliche Situation in den verschiedenen Betrieben und 
              die zunehmenden "atypischen" Arbeitverhältnisse sind 
              allein mit tarifpolitischen Mitteln nicht zu steuern.  
            Dennoch wird in der Orientierung auf weitere Arbeitszeitverkürzung 
              keineswegs der Schwerpunkt darauf gelegt, wie denn in den Betrieben 
              wieder eine Haltung der Solidarität entwickelt und Kämpfe 
              nicht nur für uns sondern für uns und Alle wieder entstehen 
              könnten. Die jetzige AVZ-Forderung richtet sich stattdessen 
              an zentrale (staatliche) Instanzen, die Lohnsenkungen und die Verschlechterung 
              der Lebensbedingungen eindämmen sollen. Das ist bestenfalls 
              Ausdruck von Hilf- und Ratlosigkeit. Dabei gibt es durchaus erfolgreiche 
              Kämpfe zur Sicherung von tariflichen Regularien. Wenn in einem 
              Betrieb die KollegInnen zu kämpfen beginnen, ist plötzlich 
              Tarifflucht gar kein Thema mehr. Natürlich gibt es auch die 
              vielen Fälle, wo sich die KollegInnen nicht durchsetzen können. 
              Aber keine zentrale Vorschrift wird die praktische Änderung 
              der Kräfteverhältnisse ersetzen können.  
            Wenn wir ausreichendes Einkommen für Alle wollen, wenn wir 
              besser leben wollen, statt uns kaputt zu schuften, dann geht der 
              Weg erstmal nicht allein über Re-Regulierungsforderungen wie 
              Arbeitszeitverkürzung oder Existenzgeld. Wenn wir über 
              diese Forderungen nachdenken und streiten, sollten wir uns zunächst 
              den gesamten Umfang der Idee ins Gedächtnis zurückrufen. 
              Keine Forderung wird und kann den gesamten Anspruch auf Aneignung 
              gesellschaftlichen Reichtums transportieren. Aber wenn dieser Inhalt 
              zum Maßstab gemacht wird, wird auch klar, daß sich beide 
              Forderungen nicht widersprechen, sondern zwei Seiten einer Medaille 
              sind.  
            Natürlich müssen aus der Idee die konkreten Vorschläge 
              und Forderungen entwickelt werden, um die dann gekämpft werden 
              soll: Nulltarif für Alle mit wenig Einkommen, billigere Mieten, 
              der Abbau von Überstunden, weniger Arbeit, mehr Lohn. Der Sozialstaat 
              in seiner reduzierten heutigen Form ist ein umkämpftes Terrain. 
              Der Rückzug des Staates aus der Sicherung der Sozialeinkommen, 
              der neue militante Produktivismus mit immer massiveren Elementen 
              von Ausgrenzung und workfare verschlechtert die Arbeits- und Lebensbedingungen 
              der Menschen ganz erheblich. Dagegen gab und gibt es Widerstand. 
              Der kann sich auf bloße Forderungen an den Staat zur Aufrechterhaltung 
              des Status Quo beziehen. Er kann aber auch Ansprüche entwickeln, 
              die weit über den Anteil des Kuchens hinausgehen, der uns heute 
              zugestanden wird.  
            Gruppe Blauer Montag, August/September 1998 
            
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