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Die Existenzgelddiskussion
vom Kopf auf die Füße stellen!

Einige Anmerkungen und Vorschläge zur März-Konferenz

Vorweg: Alles, was jetzt kommt, sind Gedanken, die innerhalb der Gruppe Blauer Montag nicht unumstritten sind und die auf keinen Fall irgendeine Gruppenposition wiedergeben.

Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe unterschiedlicher Texte zur Existenzgeld-Konferenz von F.e.l.S und anderen. So wie die Texte im Internet präsentiert werden (Stand 20.2.1999), fällt auf den ersten Blick auf, daß an keiner Stelle hervorgeht, wer oder was, konkreter: welche politische Erfahrung und Praxis sich hinter den Texten verbirgt. Aus den Gruppennamen erschließt sich das i.d.R. nicht. Es fällt auch auf, daß i.d.R. nicht erläutert wird, vor welchem politischen Hintergrund und mit welcher politischen Absicht die Texte verfaßt worden sind. Sind sie Ausdruck eines politischen Interventionsversuchs? Sind sie Ausdruck einer kontroversen Debatte innerhalb einer Bewegung? An wen waren oder sind sie gerichtet? Alles, was man eigentlich für eine politische Bewertung und Diskussion der Papiere wissen müßte, fehlt. Was übrig bleibt, ist der Geschmack von nivellierten Seminartexten, in denen die politischen Spezifika der Texte und ihre jeweils besondere politische Bedeutung nicht mehr vorkommen.

Dieser Eindruck wird verstärkt, wenn man sich anschaut, von was die Texte - ihres politischen Hintergrundes beraubt - reden und von was nicht. Da werden verschiedene Existenz- und Grundsicherungsmodelle von einander abgegrenzt und diskutiert, über "den Sozialstaat" oder die "Entwicklungstendenzen des Kapitalismus" wird gesprochen. Aber Aufarbeitungstexte, Darstellungen und Diskussionen der eigenen sozialen und politischen Praxis fehlen genauso wie eine politische Diskussion über vorhandene oder nicht vorhandene Klassenbewegungen oder politisch-strategische Vorschläge für eine klassenorientierte Linke. Die derart "entleerten" Diskussionsbeiträge bilden einen Fordismus-Postfordismus-Diskurs der radikalen Linken ab, dessen Beiträgen zur "Krise der Arbeitsgesellschaft" ein universitär-akademischer Seminarstil anhaftet; die "Beschäftigung" mit "der sozialen Frage" wird so gewissermaßen zu einer Auseinandersetzung mit einem neuen "Forschungsfeld".

Bevor jetzt der vorschnelle Reflex auf die "Theoriefeindlichkeit" erfolgt: Die theoretische Kritik an der Arbeit ist gerade heute wichtiger denn je. Interessanterweise wird aber genau diese Frage in den meisten Texten mehr oder weniger ausgespart. Ist Arbeit nun Scheiße oder nicht? Meinen wir mit Arbeit Lohnarbeit oder menschliche Tätigkeiten allgemein? Bekämpfen wir diese Arbeit und wollen eine andere? Gibt es einen emanzipatorischen Arbeitsbegriff, oder sollten wir die Arbeit als Bezugspunkt von Befreiung fahren lassen? Diese Fragen werden bei der Konzentration auf das Für und Wider der Existenzgeldforderung nicht diskutiert, sondern höchstens in mehr oder weniger wohlklingenden Floskeln zwischengeparkt. Die Debatte um den kapitalistischen Produktionsprozeß, seine Veränderungen und was in diesem Zusammenhang "Kampf gegen die Arbeit" heißen könnte, fehlt in den meisten Existenzgeldpapieren. Für eine Konferenz, bei der es schließlich auch um die "Krise der Arbeitsgesellschaft" ist es ein erhebliches Armutszeugnis, wenn Diskussionspapiere eben zur "Arbeit" so sehr Mangelware sind.

Die Debatte in ihrer bisherigen Form umgeht das grundlegende strategische Problem, daß die Kritik heutzutage eher eine Leidenschaft des Kopfes ist, aber nicht zum Kopf der Leidenschaft wird. Die äußerlich-akademische Herangehensweise an "die soziale Frage" wie auch die faktische Schwerpunktsetzung nicht etwa auf die Arbeit sondern auf die Existenzgeldforderung ist m.E. in erster Linie ein weiterer Ausdruck dafür, daß wir alle, d.h. auch die Reste der klassenorientierten Linken, uns in einer Phase des Trockenschwimmens befinden. Wir führen eine mehr oder weniger marginalisierte Debatte für und über eine soziale Bewegung, die es so nicht gibt. Die Existenzgeld-Konferenz im März ist deshalb auf dem besten Wege, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Es werden Forderungen entwickelt und diskutiert, für richtig oder falsch, reformistisch oder revolutionär befunden, auf ihr emanizpatorisches Potential und auf ihre Integrationsfallen abgeklopft. Doch alle so entwickelten Forderungen und Parolen - sei es die Existenzgeldforderung oder irgendeine andere - bleiben blutleer und hohl. Und zwar eben nicht, weil sie "falsch" wären, sondern weil sie kein Ausdruck eines sich artikulierenden sozialen Bedürfnisses sind. Solange diese Diskussionen keine materielle Gewalt werden, nicht in den real existierenden sozialen Prozessen verankert sind, bleiben sie folgenlos. Vor der Diskussion um die Sinnhaftigkeit der einen oder anderen Forderungen muß daher über die real existierenden oder eben nicht existierenden Bewegungen gesprochen werden, über die Subjekte und TrägerInnen sozialer Kämpfe, über soziale Bedürfnisse und über die eigenen Erfahrungen und Gehversuche im sozialen Terrain.

Die Realität der meisten politischen Gruppierungen und Zirkel ist die theoretisch-analytische Betrachtung der vermeintlichen Klassenrealität. Selten hingegen ist die Reflektion eigener individueller oder kollektiver Praxis. Und Vorschläge für eine klassenorientierte oder sozialrevolutionäre Praxis traut sich (bis auf Karlo Roth) überhaupt niemand mehr zu. Allgemein scheint es so etwas wie ein Warten auf Godot zu geben. Unser Godot sind die sozialen Bewegungen, die sich wie der Phönix aus der Asche erheben werden und die dann auch noch für die Forderungen kämpfen, die wir vordiskutiert haben.

Bewegungen kann man in der Tat nicht voluntaristisch als Kopfgeburten ins Leben rufen. Das heißt aber nicht, daß die Linke in einer Position des Abwartens verharren muß. Gerade dort, wo AktivistInnen in sozialen Zusammenhängen kontinuierlich arbeitend überwintert haben, oder wo linke soziale Einrichtungen und Initiativen auch in flauen Zeiten nicht die Segel gestrichen haben, können sie bei neu entstehenden Konflikten schnell die Rolle des Katalysators spielen. Das haben die Streikbewegungen in Frankreich ebenso gezeigt wie die Erwerbslosenbewegung dort wie auch hier. Die dauerhafte organisierte Verankerung und Intervention einer sozialrevolutionären, Linken in den sozialen Prozessen ist meiner Ansicht nach dringend angesagt. Das bedeutet, über den Aufbau organisierter Strukturen etwa in Form von MieterInneninitiativen, Betriebsgruppen, Erwerbslosenläden, Suppenküchen, Untersuchungsarbeit usw. usw. nachzudenken und entsprechende Versuche auszuwerten. Das heißt nicht, daß das einfach wäre, im Gegenteil. Zumal eine solche Entscheidung nicht einfach revidierbar wäre wie der Wechsel von einer Politgruppe in die andere, von einem Teilbereich in den anderen oder von einem "Thema" zum anderen. Aber nichtsdestotrotz sollte in eine solche Richtung von "Klassenpolitik" diskutiert werden.

Dabei ist "Klasse" nicht so sehr als eine "objektive" soziologische Kategorie, der dann noch diese oder jene Eigenschaften, Bewußtseinsstrukturen oder Interessen zugeschrieben werden, gemeint. "Klasse" umschreibt vielmehr einen sozialen Prozeß. E. P. Thompson hat sehr eindrücklich dargestellt, wie die unterschiedlichen Gruppen von HandwerkerInnen, entwurzelten Bauern/Bäuerinnen, LandarbeiterInnen und ManufakturarbeiterInnen, die im England des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts das Proletariat bzw. die "unteren Klassen" bildeten, im Laufe langer offener und verdeckter Klassenauseinandersetzungen voller Niederlagen und Lernprozesse und unter dem Einfluß verschiedenster theoretischer Strömungen die britische ArbeiterInnenklasse mit bestimmten hegemonialen Ideologien, Interessen und Bewußtseinsformen erst konstituiert haben. Thompson hat damit unter anderem gezeigt, daß die Vorstellung von "Klasse" als homogenem Block damals genauso unzutreffend war, wie sie das heute ist. Ob also aus den zersplitterten und atomisierten proletarischen Lebenswirklichkeiten nicht imaginierte objektive, sondern tatsächliche subjektive, sich auf einander beziehende Emanzipationsinteressen entwickelt werden, ist auch heute offen und ausschließlich davon abhängig, von wem wie wofür gekämpft wird und wie Siege wie Niederlagen kollektiv verarbeitet werden. "Klassenpolitik" heißt somit vor diesem skizzierten Hintergrund erstmal, sich auf diesen sozialen Prozeß zu beziehen bzw. sich als Teil dieses Prozesses zu begreifen und in ihm Emanzipationsinteressen, d.h. das Bedürfnis nach umfassender Befreiung, nach Kommunismus zu artikulieren.

Die radikale Linke in der Bundesrepublik ist, zumindest heute, in allen ihren Ausprägungen eine vornehmlich subkulturelle Erscheinung. Das bedeutet in erster Linie, daß linke Politik im Alltag und in den alltäglichen großen und kleinen Auseinandersetzungen der Lebensgestaltung überhaupt nicht mehr vorkommt. In diesem Sinne gibt es die Linke als sinnlich erfahrbare politische Kraft überhaupt nicht mehr. Dort, wo Menschen Unterdrückung und Ausbeutung, Hierarchien, Ungerechtigkeiten und die tägliche Quälerei, das eigene Leben einigermaßen zu organisieren, erfahren und damit - auf die eine oder andere Art und Weise - täglich umgehen, da tritt die Linke nicht auf, da "verhält" sie sich nicht. Das ist um so absurder, weil Linke wahrscheinlich kaum andere Alltagsprobleme haben: die tägliche Arbeit oder die Auseinandersetzung mit Arbeits- und Sozialämtern, Miete und Wohnungsnot, Kinderversorgung, Absicherungen im Alter oder bei Krankheit, Einkommenslosigkeit etc. etc. Der alltägliche Kampf um die eigenen Arbeits-, Reproduktions- und Lebensbedingungen ist für die selbstisolierte radikale Linke jedoch kein Terrain und Thema politischer Betätigung; damit wird ein wesentlicher Teil des eigenen Lebens und der eigenen Gesellschaftlichkeit aus dem politischen Blickwinkel schlicht verdrängt.

Es ist diese alltägliche Organisation des eigenen Lebens, in denen Menschen Hierarchien, Herrschaft und Unterwerfung, Ausbeutung und Unterdrückung, die Konstruktion von Einschluß- und Ausschlußmechanismen, Solidarität und Spaltung konkret sinnlich jeden Tag erleben. Hier deuten sie die Welt, hier werden konfrontative oder unterwürfige Überlebensstrategien entwickelt, und hier müssen sich Menschen gewissermaßen jeden Tag in einem Dickicht unterschiedlichster Machtverhältnisse positionieren. In dieser völlig widersprüchlichen Klassenrealität kommen Linke als organisierte politische Kraft kaum noch vor. Damit fehlt aber eine sinnlich und konkret erfahrbare Entscheidungs- und Handlungsalternative, die in den alltäglichen Auseinandersetzungen andere als Unterwerfungsstrategien verdeutlicht. Das Fehlen einer linken "gelebten Alltagsalternative" unterminiert aber auch jedes Gerede von Befreiung, Emanzipation etc. Wer sich in der Arbeit dem Raub am eigenen Leben widerspruchslos unterwirft, wer gegenüber Chefs oder Vermietern die Klappe hält und sich auf den Arbeits- und Sozialämtern genauso schikanieren läßt wie alle anderen auch, macht sich als LinkeR mit dem ganzen Befreiungsgerede unglaubwürdig.

Wenn die Existenzgeld-Konferenz also ein politischer Erfolg und nicht lediglich ein "event" und Medienereignis werden soll, dessen mehr oder weniger spannenden Beiträge man später in Sammelbänden nachlesen kann, muß genau diese Problematik in der Vordergrund gestellt werden: Welche organisierten Gehversuche in den unterschiedlichsten Bereichen der Klassenrealität hat es gegeben, sind versucht worden, waren erfolgreich oder sind aus welchen Gründen auch immer gescheitert? Und welche dauerhaften Vernetzungsstrukuren zwischen den unterschiedlichen Bereichen (und oft genug auch politischen Herangehensweisen und Kulturen) lassen sich aufbauen? Das setzt auch voraus, daß es in Berlin gelingt, erstens unterschiedliche politische Praxen und Erfahrungen tatsächlich zusammenzubringen (z.B. auch aktive Betriebs- und Gewerkschaftslinke), und daß es zweitens gelingt, diese unterschiedlichen Erfahrungen auch mit einander ins Gespräch zu bringen, ein Unterfangen, das wahrscheinlich höchste Anforderungen an Konzentration, Toleranz und Moderation stellt.

Dirk Hauer
Gruppe Blauer Montag/Hamburg

 
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