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Strassenmedizin
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4. Diskussion

Wie die Befragung zeigt, treten bei Demonstrationsteilnehmerinnen und -teilnehmern eine Vielzahl toxischer Reaktionen auf, wenn sie in (Haut-) Kontakt mit den polizeilich eingesetzten Reizstoffen CN und CS kommen. Darunter finden sich in Einzelfällen solche, die eine ernstzunehmende Schädigung des Atmungssystems bedeuten. Der Anteil an Hautsymptomen ist dagegen mit 59% der Betroffenen recht gross, während immerhin knapp 20% im Epicutantest positiv reagierten.

4.1 Abgrenzung allergischer gegen toxische Testreaktionen

Angesichts der grundsätzlichen Schwierigkeit, bei derartig toxischen Testsubstanzen wie CN und CS, die sogar in Verdünnungen von 0,0004 bzw. 0,0005% (hergestellt aus den Emulgator- und Lösungsmittelhaltigen Stammlösungen für Wasserwerfer, s. Gollhausen et al. 1988) noch toxische Dermatitiden hervorrufen können (ebd., Fuchs und Ippen 1986, Maucher et al. 1986), dürfen die acht fraglich bis schwach positiven Reaktionen jedoch nicht als eindeutig allergisch angesehen werden. Daran ändern auch die anamnestisch festgehaltenen Hautsymptome bei der Mehrzahl dieser Personen (Nrn. 1/13/19/20/53) nichts, da sie keinen eindeutigen Aufschluss über eine mögliche frühere allergische Reaktion geben (s. im Anhang 6.2.1/2). Ebenso könnte die in sechs Fällen (Nrn. 1/8/10/19/20/53) unterschiedliche Reaktion auf die zwei CN-Präparate eine Kontaktallergie in Frage stellen. Ausserdem fand sich bei Nr. 8 zusätzlich ein insgesamt unruhiges Umfeld des Testareals, während Nr. 13 sich an keinerlei CS-Kontakt erinnern konnte.

Bleiben drei männliche Testpersonen im Alter von über 30 Jahren (Nrn. 3/11/18), die alle von Wasserwerfern getroffen worden waren - zwei zusätzlich aus Reizstoffsprühgeräten - und über einen längeren Zeitraum durchfeuchtete Kleidung getragen haben. Auffallend ist, dass jede von ihnen eine bestehende Hautkrankheit (Liehen ruber planus, Psoriasis vulgaris) bzw. weitere Kontaktallergien (Nr. 18, gegen Konservierungsmittel) in der Anamnese hat. In einem Fall (Nr. 3) führte bereits der zweite CN-Kontakt zu ausgeprägten, wahrscheinlich allergischen Hautreaktionen an exponierten Körperstellen (s. Anhang 6.2.3), während Nr. 18 vermutlich schon bei der Bundeswehr seine Induktionsdosis erhielt. In diesen beiden Fällen ist mit höchster Wahrscheinlichkeit von einer Sensibilisierung gegen CN auszugehen wie auch bei Nr. 11, die trotz nicht so beeindruckender Anamnese deutlich positive Testergebnisse auf CN zeigte (weniger eindeutig auf CS, vgl. Abb. 4 im Anhang).

Doch ist eine Kontaktsensibilisierung in den acht fraglichen Fällen keineswegs völlig auszuschliessen: Zumindest für CS konnten Marzulli und Maibach (1974) nachweisen, dass eine Testkonzentration von 0,1%, wie sie hier aus Sicherheitsgründen verwendet wurde, um eine iatrogene Sensibilisierung möglichst zu vermeiden, unter Umständen zu falsch negativen Ergebnissen führen kann.

4.2 Verzicht auf Kontrollgruppe

Dass solche Sicherheitsbedenken keineswegs aus der Luft gegriffen sind, wird durch die Einschätzung mehrerer französischer Autoren bestätigt, die grundsätzlich von einer Allergietestung mit CN oder CS abraten (Forestier et al. 1986, Schmutz et al. 1987). Tatsächlich wurde von Foussereau et al. (1968) die Sensibilisierung eines zunächst nicht allergischen Probanden durch Testung mit einer 0,l%igen CN-Lösung beschrieben. Aus diesem Grund erschien es angesichts der grossen Zahl von 45 testnegativen Teilnehmerinnen und Teilnehmern vertretbar, auf die Durchführung einer Kontrolle an nicht kontaminierten Personen zu verzichten.

Darüberhinaus verspricht eine statistischen Standardverfahren folgende Auswertung hier keine zusätzlichen Erkenntnisse, da der Nachweis durch polizeiliche Reizstoffeinsätze hervorgerufener CN- oder CS-Sensibilisierungen mit einiger Sicherheit nur zu erbringen wäre, wenn entweder der Anteil der testpositiven Personen (bei geringer Möglichkeit von Kreuzallergien) sehr hoch wäre oder aber zunächst ein »Leertest« unmittelbar vor dem in Frage kommenden Demonstrationsgeschehen erfolgen könnte. Dies dürfte jedoch kaum zu realisieren sein.

4.3 Kreuzreaktionen

Wie den Testergebnissen zu entnehmen ist, reagierte keine der untersuchten Personen auf das mitgetestete Chloracetamid. Damit scheidet eine mögliche Kreuzreaktion zu CN auch bei stark sensibilisierten Personen offenbar aus.

Die einzigen bisher an Menschen festgestellten Kreuzallergien von CN-Sensi-bilisierten bestehen gegenüber dem Antimykotikum Clofenoxyd (Foussereau et al. 1968), das in Frankreich inzwischen aus dem Handel genommen wurde und in der BRD nie eine Rolle spielte (Mancher et al. 1986; die Pharmazeutische Stoffliste (ABDA 1988) verzeichnet kein Fertigarzneimittel mit diesem Wirkstoff2), und der Substanz 1,1-Dichloracetophenon (Penneys et al. 1969), für die Römpps Chemie-Lexikon (Neumüller 1979) keine Angaben zur Verwendung macht. Eine CS ist bisher nicht bestätigt worden (z.B. Levin und Mershon 1973).

An Meerschweinchen konnte ausserdem gezeigt werden, dass 1-Bromacetophe-non und Acetophenon bei CN-allergischen Tieren ebenfalls positive Reaktionen hervorrufen (Chung und Giles 1972). Diese Stoffe werden in der Farbstoffsynthese (Bromacetophenon), als Lösungsmittel für Farben, Zelluloseäther sowie Kunst-und Naturharze, in der Riechstoffindustrie, in Desinfektions- und Reinigungsmitteln sowie in der Pharmazeutika- und Kunstharzproduktion (Acetophenon) verwendet (Neumüller 1979). Stark sensibilisierte Meerschweinchen reagierten darüberhinaus schwach auf einige weitere Acetophenon-Derivate (Chung und Giles 1972).

Eine Sensibilisierung der in dieser Untersuchung getesteten Probandinnen und Probanden durch derartige Substanzen kann also nicht vollständig ausgeschlossen werden, auch wenn die Berufe der elf positiven Testpersonen (abgesehen von der Ableistung des Wehrdienstes bei der Bundeswehr, s. Nr. 18) keine entsprechende Exposition erwarten lassen.

4.4 Abschliessende Bewertung

Eine statistisch abgesicherte Aussage lässt sich anhand der vorgelegten Untersuchung sicher nicht treffen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass unter Demon-strationsteilnehmerinnen und -teilnehmern nach CN'/CS-Exposition ebenso Kon-taktsensibilisierungen auftreten können wie unter Polizisten und Soldaten. Inwieweit diese unmittelbar und eindeutig Folge polizeilicher Reizstoffeinsätze sind, ist unter den gegebenen Umständen nicht feststellbar, wenngleich recht wahrscheinlich. Um Hinweisen auf ein grösseres Sensibilisierungspotential des CN - vor allem in seiner Zubereitung für Reizstoffsprühgeräte - nachgehen zu können, wären breiter angelegte Studien unter Polizisten möglicherweise erfolgversprechender.

Festzuhalten bleibt demgegenüber, dass die (beabsichtigte) Hauptwirkung der Reizstoffe CN und CS in der Auslösung akuter Vergiftungserscheinungen insbesondere an den zugänglichen Schleimhäuten besteht. An der Haut machen die toxischen Symptome, besonders in Verbindung mit durchfeuchteter Kleidung, ebenfalls den Hauptaspekt der Schädigung aus (vgl. Gollhausen et al. 1988, Daunderer 1986).

Darüberhinaus existieren nach wie vor eine Reihe ungeklärter Fragen:

- CN und CS werden zu den alkylierenden Substanzen gezählt (Cucinell et al. 1971, de Bruin 1976). Dennoch gibt es bisher nur recht wenige Untersuchungs-ergebnisse über die mögliche Karzinogenität dieser Substanzen. Eine leichte Mutagenität im Ames-Test konnte zumindest für CS festgestellt werden (Däniken et al. 1981). CN dagegen zeigte im Tierversuch eine signifikante Co-karzinogenität (Gwynn und Salaman 1953). Ob eine gegenüber dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung alarmierende Erhöhung beim Auftreten maligner Melanome, wie sie der Polizeiarzt Dr. Dyer in Washington an 12 von 4800 Polizisten bemerkte (Jones 1975), auf deren Kontakt mit CN zurückgeführt werden kann, ist insofern weiterhin offen.

- Auch die Frage nach der Auslösung von Fehlgeburten taucht wiederholt auf (Himsworth Committee 1969/1971), aktuell im Zusammenhang mit den Reiz-stoffeinsätzen israelischer Streitkräfte in den von ihnen besetzten Gebieten Westbank und Gazastreifen (Physicians for Human Rights 1988). Hinsichtlich CS konnte ein solcher Verdacht an Ratten und Kaninchen jedoch nicht bestätigt werden (Upshall 1973). CN-Tests an Hühnerembryonen schliessen Terato-genität allerdings nicht aus (Lakshmi 1962, Mulherkar et al. 1967). Gerade diese und weitere mögliche teils akute (z.B. Bewusstlosigkeit, die eine stark verlängerte Exposition bewirken kann, vgl. Himsworth Committee 1971), teils chronische (z.B. Verschlimmerung einer chronischen Bronchitis oder eines Asthma bronchiale, vgl. Himsworth Committee 1969/ 1971) Folgen vor allem für sehr junge, alte oder vorerkrankte Menschen (z.B. Hypertoniker: CS-Exposition kann zu einer kritischen Blutdrucksteigerung führen, s. Himsworth Committee 1971 und Ballantyne et al. 1976) sind völlig unzureichend untersucht (vgl. Eiskamp 1982, Däniken 1983). Wer mit der Forderung des Himsworth Committee (1971) übereinstimmt, "In considering the allowable margin of safety we must (...) require that this be substantially greater than that which we would accept in a case ofa drug which could be dispensed precisely under strictty controlled conditions" (S. 3), kann daher angesichts der über die Reizstoffe CN und CS sowie deren Einsatzformen und -praxis bekannten Fakten nur zu dem Schluss kommen, dass diese Substanzen zur staatlichen Durchsetzung umstrittenener politischer Ziele gegen die eigene Bevölkerung nicht zu rechtfertigen sind.

  1. Strukturformel im Anhang 6.4.2
  2. Hagers Handbuch der Pharmazeutischen Praxis (List und Hörhammer 1973) gibt den Handelsnahmen Stamicyl an.