| 
 Quellenstr. 31 Postfach 2228 CH-8031 Zürich 
        Telefon 01/444 19 19 Fax 01 444 19 90
 e-mail: info@sah.ch www.sah.ch Postkonto 80-188-1
 Bericht zu den Operationen gegen Hungerstreikende 
        in 20 türkischen Gefängnissen 
 Von Marianne Roth Einleitung
 Vom 21. bis 28. Dezember weilten Therese Jäggin und die Autorin dieses 
        Berichts, Marianne Roth, beide vom Schweizerischen Arbeiterhilfswerk SAH, 
        in Istanbul. Wir versuchten, in verschiedensten Gesprächen mit möglichst 
        vielen Personen die Umstände in Bezug auf die Erstürmung der 
        Gefängnisse zu ergründen. Die Berichterstattung in den türkischen 
        Medien ist arbiträr, spekulativ und zum Teil schlicht erfunden. Die 
        Aussagen von Seiten der Regierung oder der Sicherheitskräfte waren 
        meist verdreht, verschwiegen wichtige Tatsachen, waren geschönt und 
        gespickt mit Lügen, sodass es schwierig war, sich einen Überblick 
        zu verschaffen.
 Nebst Gesprächen mit persönlichen Bekannten und MitarbeiterInnen 
        unserer Partnerorganisation in Istanbul, TOHAV, hatten wir die Möglichkeit 
        mit einer Gefangenen zu sprechen, die am Tag nach der Stürmung des 
        Gefängnisses Bayrampasa entlassen wurde und den Überfall direkt 
        miterlebte. Wir unterhielten uns auch ausführlich mit der Anwältin 
        und TOHAV-Mitarbeiterin Filiz Köstak, die sich zusammen mit drei 
        BerufskollegInnen gleich nach Ausbruch der Operationen zum Gefängnis 
        Bayrampasa und später nach Ümranyie begab.
 Operation "Zurück zum Leben"
 Unter dem Titel "Zurück zum Leben" stürmte ein Grossaufgebot 
        von Polizisten, Soldaten und Sondereinheiten der Armee und der verschiedenen 
        Geheimdienste 20 Gefängnisse im ganzen Land. Ziel der Operation war 
        es nach offiziellen Angaben, das Leben der Häftlinge zu retten und 
        den seit zwei Monaten dauernden Hungerstreik von gegen 2000 Häftlingen 
        gewaltsam zu brechen. Diese protestierten dagegen, in die sogenannten 
        F-Typ-Gefängnisse verlegt zu werden. 200 der Hungerstreikenden hatten 
        sich zum Todesfasten entschlossen, einige von ihnen waren bereits in kritischem 
        Zustand.
 Die umstrittenen F-Typ-Gefängnisse sind mit Zellen eingerichtet, 
        die zwischen 1-3 Personen fassen können. Bisher waren die Gefangenen 
        in Grosszellen untergebracht, wo zwischen 20 bis 250 Personen zusammenlebten. 
        Häufig gehörten die Gefangenen der gleichen politischen Organisation 
        oder Gruppierung an, was dazu führte, dass die Gefangenen einen hohen 
        Politisierungs- und Organisationsgrad besassen. Die Regierung bezeichnet 
        diesen Zustand nun plötzlich als unhaltbar und brandmarkt die Grosszellen 
        als Horte der Mafia und ideologische Machtzentren politischer und religiöser 
        Extremisten. Die Gefängnisse seien in Wahrheit in den Händen 
        von Terroristen und der Mafia, die Gefängniswärter hätten 
        sich seit zehn Jahren nicht mehr in die Zellen hineingewagt. Dabei wird 
        kein Unterschied gemacht zwischen politischen Gewissensgefangenen, tatsächlichen 
        Mafiamitgliedern, denen nicht selten Kontakte zu höchsten Regierungskreisen 
        nachgewiesen werden können, und Gefangenen, die aus religiösen 
        Gründen in Haft sitzen. Der Hürriyet-Kolumnist Cüneyt Ülsever 
        titelte dazu: "Der Staat hat die staatlichen Gefängnisse gerettet". 
        Und die englischsprachige Turkish Daily News (TDN) setzte die Schlagzeile: 
        "Überfälle beseitigen die Schande in unserem Staat", 
        frei nach einem Zitat des Innenministers Sadettin Tantan. In dem dazugehörigen 
        Artikel geisselt sie allerdings die türkischen Behörden als 
        unfähig und inkompetent. Hauptsächlich an die ausländische 
        Wohnbevölkerung gerichtet, kann sich die TDN einen etwas kritischeren 
        Ton erlauben.
 Nach offiziellen Angaben sind bei den Operationen 28 Personen ums Leben 
        gekommen, davon 2 Polizisten, über 100 Gefangene sind bei den gewaltsamen 
        Erstürmungen verletzt worden. Die Ordnungskräfte setzten verschiedene 
        Gase und Schusswaffen ein. In den Gefängnissen, wo Gefangene sich 
        in Zellen verschanzt hatten, drangen Soldaten mit schweren Baumaschinen 
        ein, indem sie Löcher in die Gefängniswände rissen. Noch 
        ist es nicht möglich, genaue Zahlen von Toten und Verletzten zu nennen. 
        Menschenrechts-Organisationen rechnen jedoch aus Erfahrung mit einer höheren 
        Zahl von Getöteten und Verletzten. Noch immer herrscht ein Chaos, 
        suchen verzweifelte Verwandte nach ihren Angehörigen und müssen 
        die Namenslisten der Getöteten und Verletzten täglich korrigiert 
        werden.
 Istanbul im Belagerungszustand
 Bereits bei unserer Ankunft in Istanbul spürten wir die bedrohliche 
        Stimmung, die in der Innenstadt herrschte. Das bevorstehende Ende des 
        Fastenmonats Ramadan erhöhte die Nervosität wohl noch zusätzlich. 
        Der Menschenrechtsverein, IHD, und andere Menschenrechts- und politische 
        Organisationen, hatten seit Beginn der Operationen täglich Demonstrationen 
        organisiert, die auf der Istiklâl Caddesi, einer der Haupteinkaufsstrassen 
        Istanbuls, stattfanden. Die Hälfte des Taksim-Platzes ist bis heute 
        von der Polizei abgeriegelt, um grössere Ansammlungen von Menschen 
        zu verhindern und Präsenz zu markieren. Die Demonstrationen verliefen 
        alle nach einem ähnlichen Muster: Ein Grossaufgebot von Polizisten 
        drängte die Demonstrierenden in eine der Seitenstrassen, beschoss 
        sie mit Gummigeschossen und spritzte sie mit kaltem Wasser ab. Nachdem 
        ein Kälteeinbruch stattgefunden hatte und die Temperatur in den Tagen 
        während und nach den Operationen nur knapp über Null Grad lag, 
        eine harte Prozedur. Die Polizeikräfte waren dabei klar darauf aus, 
        sich für die beiden getöteten Polizisten zu rächen. Sie 
        skandierten: "Menschenrechtler und Linke raus", "wir kriegen 
        euch" und "Rache, Rache, Rache...". Dabei gingen sie täglich 
        brutaler auf die Demonstrierenden los und schlugen mit Gummiknüppeln 
        auf sie ein. Zahlreiche AktivistInnen wurden dabei festgenommen.
 Problematische Berichterstattung
 Die TV-Sender sendeten stundenlange Live-Berichte zu den Operationen, 
        die jedoch zur Hauptsache von Kameramännern der Polizei stammten, 
        die auf den Dächern der Gefängnisse postiert waren. Es herrschte 
        strikte Zensur. Der Justizminister, Sami Türk, warnte gar einen Moderator 
        am Fernsehen: "Wagen Sie es nicht, die Operationen des Staates in 
        Frage zu stellen!" Journalisten hatten zu diesem Zeitpunkt noch keinen 
        Zutritt zu dem Gelände, jedoch überschlugen sich die Spekulationen. 
        Die Polizeiüberfälle wurden richtiggehend abgefeiert und mit 
        jedem "Sieg" gegen die sich zum Teil heftig zur Wehr setzenden 
        Häftlinge traten die Regierungsvertreter selbstbewusster auf. Gross 
        zu Reden gab ein sogenannter Telefonanruf, den die Polizei abgehört 
        haben will. Dabei sollen die Angehörigen der verbotenen, von der 
        Türkei als terroristisch bezeichneten, marxistisch-leninistischen 
        Organisation DHKP/C vom Hauptquartier in Brüssel aus dirigiert worden 
        sein. Ein fragwürdiger Tonbandmitschnitt, der aus Sicht politischer 
        Linker aufgrund der Wortwahl eindeutig aus der Polizeiküche stamme, 
        wollte zudem weismachen, ein "Chef" im Gefängnis habe den 
        Gefangenen den Befehl erteilt, sich selbst in Brand zu setzen. Die Berichterstattung 
        reichte von drei Gefangenen, die sich angezündet hätten, bis 
        hin zu 16 Gefangenen, die sich auf Befehl von Oben in lebendige Fackeln 
        verwandelt hätten. Laut diesem Bericht stammen alle Kugeln, die die 
        restlichen Gefangenen und zwei Soldaten getötet haben sollen, aus 
        Waffen der Insassen, was laut Augenzeugenbericht schlicht ausgeschlossen 
        ist. Rechtsnationalistische Revolverblätter unterstellen den Häftlingen 
        wahre Waffenlager, die sie in den Gefängnissen gehortet hätten. 
        Allerdings stellt ein Hürriyet-Journalist die Frage, wie die Waffen 
        denn in die Gefängnisse kommen könnten, wenn nicht mit Unterstützung 
        der Gefängisse selbst. (Siehe auch Pressespiegel (Anhang I) am Schluss 
        des Berichts.)
 Ebenfalls im Anhang befindet sich die deutsche Übersetzung der Erklärung 
        des Zentralsekretariats des Menschenrechtsvereins IHD in Ankara (Anhang 
        II).
 Fazit
 Das Klima in der Türkei ist infolge dieser Operationen merklich repressiver 
        geworden. Menschenrechts- und Nichtregierungsorganisationen sowie progressive 
        Parteien und Personen sind schockiert und ratlos ob der Härte, die 
        sämtliche Konventionen verletzt, die der Staat gegen die Gefangenen 
        angewendet hat. Die Gefängnisse sind faktisch im Ausnahmezustand 
        und in den Händen der Armee. Alle Gesprächspartner befürchten 
        weitere Schläge gegen die sogenannte Linke. Immer wieder hat man 
        uns erklärt, das öffentliche Klima sei wie Ende der Siebzigerjahre, 
        kurz vor dem Militärputsch. Antidemokratische Kräfte gewinnen 
        immer mehr die Oberhand - bei den Behörden und in der Politik gleichermassen. 
        Die Bevölkerung wird mit falscher Berichterstattung systematisch 
        irregeführt.
 Wir unterstützen die Forderung nach einem internationalen Monitoring. 
        Die Vorkommnisse müssen untersucht und die Gefangenen dürfen 
        ihren Peinigern nicht schutzlos ausgeliefert werden. Beim allergrössten 
        Teil der Inhaftierten handelt es sich um Gewissensgefangene, die aufgrund 
        ihrer politischen Gesinnung im Gefängnis sitzen und nicht weil sie 
        ein Verbrechen begangen haben. Aber selbst jene Gefangenen, die ein schweres 
        Delikt begangen haben, haben Anrecht auf menschenwürdige Behandlung.
 Wir fordern PolitikerInnen, NGO, Ärzte- und Anwaltsorganisationen 
        sowie Medienschaffende auf, sich gemeinsam mit den lösungswilligen 
        Kräften vor Ort ein Bild zu verschaffen und nach nachhaltigen Lösungen 
        zu suchen.
 Marianne Roth
 Beilagen:1. Gespräch mit Filiz Köstak, Anwältin
 2. Gespräch mit Suna Parlak, Gefangene
 Anhang I: Pressespiegel
 Anhang II: Erklärung des Türkischen Menschenrechtsvereins 
        IHD
    |