2. Gespräch mit Suna Parlak

Suna Parlak war wegen Mitgliedschaft bei der PKK siebeneinhalb Jahre im Istanbuler Gefängnis Bayrampasa in Haft. Sie war 20 Jahre alt, als sie die Haft antreten musste. Noch ist ihr Fall nicht abgeschlossen, und sie muss damit rechnen, für weitere Jahre hinter Gittern zu landen. Sie sollte am Tag der Operationen freigelassen werden. Wegen der Erstürmung des Gefängnisses verschob sich ihre Freilassung um einen Tag, sodass sie Opfer und zugleich Zeugin der Operation wurde. Bleich aber gefasst sitzt sie uns gegenüber. Nichts deutet darauf hin, dass sie erst seit ein paar Tagen aus einer langen Haft entlassen worden ist. Sie ist mit ihrer Schwester ins Kaffee in der Istanbuler Innenstadt gekommen, wo wir uns im oberen Stock in eine ruhige Ecke setzen.
Kurz vor Abschluss des Gesprächs setzen sich drei Männer direkt neben uns, die wir eindeutig als Polizisten identifizieren. Suna muss vorsichtig sein, da politische Gefangene nach ihrer Freilassung eine Zeit lang beobachtet würden. Je nach dem mit wem sie zusammentrifft, müssen diese Personen ebenfalls mit Inhaftierungen rechnen. Sie bleibt denn auch nicht zum Abendessen, sondern begibt sich beim Eindunkeln direkt nach Hause.

2.1. Der Grund für den Hungerstreik
"In der Nacht bevor die Operationen begannen, erfuhren wir, dass wir definitiv alle in die F-Typ-Gefängnisse überführt werden sollten. Wir beschlossen, dies zu verhindern. Zusammen mit anderen hätte ich an diesem Tag freigelassen werden sollen, doch nichts geschah. Unsere Familien warteten vergeblich vor dem Eingang. Wir "rochen", dass sich etwas zusammenbraute, da am 14. Dezember ein Treffen zwischen dem Justiz- und Innenminister mit Vertretern der Sicherheitskräfte, Jitem und dem Geheimdienst MIT stattfand. Sie hatten die Verhandlungen abgebrochen, deshalb wussten wir, dass etwas bevorstand. So versuchten wir, mit dem Gefängnisdirektor und anderen Verantwortlichen einen Dialog zu finden, doch vergeblich: wir erhielten keine Auskunft. Vertreter der Unterstützergruppe und aller Parteien (ausser MHP) kamen ins Gefängnis und erklärten, sie hätten das Gefühl, dass sich die Probleme nicht im Sinne der Gefangenen lösen liessen. Wir spürten auch hier: irgend etwas lief sehr schief. Das Gespräch fand im Frauenflügel statt, sodass ich Zeugin des Gesprächs war. Eine Vertreterin einer europäischen Anti-Folter-Vereinigung war ebenfalls anwesend. Wir erklärten ihr, dass sich total 2'000 Gefangene dem Hungerstreik angeschlossen hatten.

Unsere Zielsetzungen und Forderungen waren eindeutig:

1. Der Transfer in die F-Typ-Gefängnisse musste suspendiert werden.
2. Eine Delegation, bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern europäischer Menschenrechtsorganisationen, NGO, ParlamentarierInnen, ÄrztInnen und Kulturschaffenden sollte überprüfen, ob die F-Typ-Gefängnisse europäischen Standards entsprechen und danach Gespräche mit der Regierung führen, um die Menschenrechtsverhältnisse im Land generell zu verbessern. Danach wären wir bereit gewesen, den Widerstand aufzugeben.
3. Menschenrechtsdelegationen müssten auch alle anderen Gefängnisse überprüfen und es müssten entsprechende Verbesserungen vorgenommen werden.
Die Gesetze sind übrigens in Bezug auf die Lebensbedingungen nicht eindeutig, was die F-Typ-Gefängnisse betrifft. Diese Fragen müssen geklärt werden.

2.2. Die lange Nacht
Die Nacht vor der Operation war ungewöhnlich ruhig. Um 03.00 Uhr wurden wir durch Geräusche geweckt. Um 03.30 Uhr wurden die Gefängniswärter entfernt. Gegen 04.00 Uhr sahen wir plötzlich durch das Fenster, wie sich Scharfschützen auf den Dächern des Gefängnisses postierten. Sie richteten ihre Gewehre durch jedes Zellfenster auf uns. Wir hörten, dass sich Soldaten auf den Gängen verteilten, wussten aber noch nicht, was vor sich ging. Wir waren 26 Frauen in unserer Zelle. Um genau 04.00 Uhr kamen die Soldaten in unsere Gänge. Unsere Zelle befand sich an der Stirnseite des Ganges. Ein Mitgefangener aus einer PKK-Zelle hatte die Soldaten als Erster erspäht. Er wollte zur Nebenzelle laufen, um die Mitgefangenen zu warnen. Da schoss ihm ein Soldat einfach in die Beine. (Dieser Gefangene war Ali Ekber Düzova, ein Klient von Anwältin Filiz Köstak.) Wir hörten, wie die Soldaten ins Innere der Zellen schossen. Ausserhalb der Zellen hatten sich Sondereinheiten aus Ankara und Silivri postiert, die wir an ihren Uniformen erkannten. Wir verschanzten uns und verbarrikadierten die Zelltür. Darauf schlugen die Soldaten mit Vorschlaghämmern Löcher in die Dächer und liessen Tränengas und Pfeffergas in die Zellen fallen. Ein drittes Gas, das braun war und das wir nicht kannten, verursachte starkes Brennen auf der Haut sowie Übelkeit, einige von uns fielen in Ohnmacht. Wir hielten uns Lappen vor das Gesicht, um uns ein wenig zu schützen. Wir hörten Geschrei und wilde Schiessereien. Die Schüsse stammten eindeutig aus Gewehren der Armee. Da inzwischen der Kontakt zwischen uns abgebrochen war, wussten wir nicht, was mit den andern vor sich ging.
Um 08.30 Uhr stürmten Sondereinheiten in Plastikrüstungen, die wie Robocops aussahen, in unsere Zelle. Vor unserer Frauenzelle gab es einen Vorraum, der durch eine einzige Tür direkt in den Freihof führte. Unsere Zellensprecherin war eine Frau namens Elif. Sie verlangte, mit dem Anführer der Einsatztruppe zu sprechen, um zu erfahren, was in den anderen Zellblöcken vor sich ging. Sie begab sich in den Vorraum und sah, dass links und rechts den Wänden entlang Soldaten postiert waren, die ihre Gewehre auf sie richteten, durch die sie wie bei einem Spiessrutenlaufen gehen musste. Sie erhielt jedoch keinerlei Auskunft und wurde zurück in die Zelle gedrängt.

Der lange Tag
Schliesslich wurden wir eine nach der anderen in Handschellen gelegt und ins Freie geführt. Hier legten sie jeweils zwei von uns Handschellen an. Sie stellten uns weit auseinander auf, und jedes Gefangenenpaar war von einer Gruppe von Soldaten eingekreist. Dann mussten wir ein ganzes Stück über offenes Gelände gehen, wo wir um 09.00 Uhr in einem Gebäude der Armee eingesperrt wurden. Wir waren alles PKK-Mitglieder aus unserem Zellblock, die schliesslich hierher gebracht wurden, insgesamt 123 Personen, Männer und Frauen. Wir durften uns nicht setzen und auch nicht miteinander sprechen. Jede halbe Stunde wurden wir gezählt. Einige fielen in Ohnmacht, viele mussten sich erbrechen, sodass wir schliesslich etwas Wasser und ein Sandwich erhielten. Auch Verletzte waren unter uns und ein alter Mann mit Herzproblemen. Wir erfuhren nichts über die anderen Gruppen. Bis um 21.00 Uhr mussten wir so stehen bleiben. Alle waren wir in einem sehr schlechten physischen und psychischen Zustand. Elif versuchte erneut, mit dem Kommandeur zu sprechen, der nur unflätige Schimpfworte zurückbrüllte. Sie wies auch immer wieder darauf hin, dass ich eigentlich nicht hierher gehöre und frei gelassen werden müsse. Wir Frauen wurden dann nach Bakirköy gebracht. Wir wussten nicht, was mit den Männern geschah.
Ich selbst traf um 21.30 Uhr mit den anderen Frauen in Bakirköy ein und sah drei der anderen linken Frauen. Wir durften aber erneut nicht miteinander sprechen. Auch hier wies Elif auf meine Freilassung hin, die endlich erfolgen müsse. Alle erkenntnisdienstlichen Aktivitäten wurden von Soldaten durchgeführt, die sehr grob und erniedrigend waren. Sie verteilten uns in verschiedene Zellen. Wir hatten nur auf dem Leib, was wir beim Aufwachen angehabt hatten. Einige waren in Unterwäsche, andere in Nachthemden, sodass uns in den ungeheizten Zellen unerträglich kalt war.
Am folgenden Tag erhielt ich endlich Besuch von meiner Anwältin. Dann ging alles sehr schnell. Im Laufe des Nachmittags wurde ich endlich freigelassen."

Istanbul, 26. Dezember 2000/MR