Unheimliche Perspektiven

"Wir leben in einer Gesellschaft, die sich außerhalb unserer Vorstellungskraft entwickelt"

(Cafè Morgenland)

Eine Zäsur hätte spätestens nach Auschwitz stattfinden müssen. Nach diesem Faktum müßten eigentlich alle Räder still stehen, alles in Frage gestellt werden, alles - um sicher zu gehen - anderes gemacht werden, als bisher: Wie, das wissen wir nicht.
Was wir aber mit absoluter Sicherheit wissen, ist, daß es auf jeden Fall anders als bis dahin hätte sein müssen. Dies ist nicht geschehen. Die bis dahin gemachten Erkenntnisse aus der Entwicklung der Menschheitsgeschichte wurden nicht über den Haufen geworfen. Emanzipatorische Theorien und Praxen, die bis dahin entwickelt worden waren, wurden nicht in Frage gestellt.
Die unabdingbare radikale Perspektivenänderung auf vergangene und gegenwärtige Erkenntnisse, solche, die Auschwitz unwiederholbar machen würden, blieb aus.
Im Gegenteil: es wurde weiter so getan, wie bis zu dieser Einmaligkeit. Eine groteske Situation entstand: Auschwitz wurde der Schatten, der an der bisherigen Entwicklungsrichtung klebt.
Je mehr es ignoriert wird, um so krasser, um so bedrohlicher wird seine Nähe. Seine Auswirkungen bestimmen nach wie vor die Gegenwart und die Zukunft.
In den letzten Jahren wird dieses Thema mit Vorliebe mittels Gedenkveranstaltungen, Denkmalen, Museen, Ausstellungen und intensivster Diskussionen in Deutschland "abgewickelt".
Um unsere Auffassung dazu deutlich zu machen: Gedenkveranstaltungen und ähnliches finden im wesentlichen aus zwei Gründen statt: Zum einen wird seitens der den Opfern nahe stehenden Personen an die Opfer und ihre Leiden gedacht (ein menschliches Bedürfnis) und zum anderen, um sich an das Geschehene zu erinnern, damit es nie wieder passiert.
Die Überlebenden und ihre Angehörigen haben erst was davon, wenn eine gewisse Hoffnung auf die Verhinderung von solchen Verbrechen sich verstärkt bzw. überhaupt aufkommt.
Dann ist dieser Gedanke "daß ihre Liebsten nicht umsonst gestorben sind, daß sie nicht umsonst gelitten haben", daß ihr sinnloser Tod doch einen Sinn hatte, sei es für die nächsten Generationen. Dies ist für die Überlebenden und ihre Angehörigen ein prägender Gedanke, ja ein existentieller.
Nun, die Entwicklung ist nicht so. Gedenkveranstaltungen, Gedenkstätten, Museen und Denkmäler in Deutschland sind - mit Ausnahme der der Opfer und ihrer Angehörigen - "die Südfrüchte der nationalen Identität" (W. Pohrt).
W. Benjamin's Warnung, daß die Sieger vor den Toten nicht Halt machen würden, hat sich bewahrheitet.
"In der Bundesrepublik hat die völkische Wahrnehmung und Inbesitznahme der Ermordeten die Form einer kollektiven Selbsttherapie angenommen" (W. Pohrt). Und die Opfer? Sie werden noch mal und noch mal, Jahr für Jahr, ob am 8. Mai oder am 9. November regelrecht geopfert und geschändet: Für das Antlitz des "neuen demokratischen Deutschlands", für die Rechtfertigung von Bundeswehr-Einsätzen (also für neue Verbrechen), für die Selbstdarstellung der "guten Deutschen", für die Betroffenheitsfloskeln und andere Errinerungsformen des Germanen-Kults, während die braunen Wolken immer dichter werden. Das ist nicht die Alternative zu "Nichts wird Vergessen". ("Entweder machen es die Deutschen falsch oder verkehrt", H. Broder).
Wir haben kein gewißheitstiftendes Kriterium für die Beantwortung der Frage, ob die tödliche Wirkung von Auschwitz ein definitives und definierbares Ende hat.
Auschwitz ist längst in der deutschen Wohnstuben und den deutschen Stammtischen integriert. Die vor kurzem bekannt gewordene Versteigerung von KZ-Kleidung und anderen Gegenständen der Opfer durch das "Berliner Auktionshaus für Geschichte" ist nur die Spitze des Eisbergs.
Wie jede Revolution, bewirkte auch die nationalsozialistische radikale Veränderungen in der Gesellschaft und in den zwischenmenschlichen Beziehungen; sie vollbrachte revolutionäre Errungenschaften, die auch nach der Niederlage arisch gezüchtet und gründlich gepflegt wurden.
Der letzte Überlebende von Treblinka, Richard Glazar (bekannt auch aus "Shoa" von Lanzmann) hat sich im Dezember 1997 in Prag, 52 Jahre nach seiner Befreiung aus dem Vernichtungslager Treblinka umgebracht. Wie J. Amèry, wie P. Levi, wie hunderte andere zuvor. Auschwitz tötet bis heute seinen ehemaligen Insassen.
Hanna Arendt schrieb schon früher über dieses Phänomen, daß viele der Überlebenden hoffnungsvolle Artikel in den Zeitungen über die neue freie und friedliche Welt verfaßten, die jetzt nach dem Holocaust kommen würde, und sie begingen am nächsten Tag Selbstmord. Sie wollten sich nicht selbst belügen: "In uns lebte die unklare Vorstellung, nach Auschwitz müsse alles anders, besser werden. Die Menschheit würde unsere Erfahrungen als Lehre aufnehmen. Dann mußten wir spüren, daß sie sich gar nicht dafür interessierten. Leeres, aufdringliches Mitleid, das wir stattdessen fühlen, gleicht nur zu oft einer Flucht in konventionelle Gefühle - ja erweckt den Eindruck von Unehrlichkeit" (Hermann Langbein, Überlebender).
Eine Welt, die nach Auschwitz nicht ganz anders ist, ist eine, die Auschwitz bewußt in Kauf nimmt: "Ich habe Angst - ich habe Angst vor der Zukunft, denn, daß dies alles geschehen konnte, daß es andere zuließen, zulassen mußten, eröffnet unheimliche Perspektiven." (Grete Salus, Überlebende)
Gedenkveranstaltungen in Deutschland sind etwas ganz anderes als Gedenkveranstaltungen z.B. in Israel. Diesen kolossalen Unterschied dürfen wir nie vergessen. Wenn also die Warnung, "daß Ähnliches nicht wieder passiert" als Bedrohung verstanden wird, dann ist es schon längst an der Zeit, darüber nachzudenken, ob in Deutschland solche Formen eine bestimmte Funktion erfüllen bzw. "unheimliche Perspektiven eröffnen" (siehe Holocaust-Denkmal in Berlin, siehe Wehrmachtsausstellung).

"Wir Auferstandenen sahen alle ungefähr so aus, wie die in Archiven aufbewahrten Fotos aus den April- und Maitagen von 1945 uns zeigen: Skelette, die man belebt hatte mit angloamerikanischen Cornedbeef-Konserven, kahlgeschorene, zahnlose Gespenster, gerade noch brauchbar, geschwind Zeugnis abzulegen und sich dann dorthin davonzumachen, wohin sie eigentlich gehörten...
Die mich gepeinigt und zur Wanze gemacht hatten wie einst dunkle Mächte den Protagonisten von Kafkas "Verwandlung" - sie waren selbst der Abscheu des Siegerlagers. Nicht nur der Nationalsozialismus - Deutschland war Gegenstand eines allgemeinen Gefühls, das vor unseren Augen aus Haß zu Verachtung erstarrte...
Ich muß die Ressentiments einkapseln. Noch kann ich glauben an ihren moralischen Rang und ihre geschichtliche Gültigkeit. Noch. Für wie lange? Allein, daß ich mir eine solche Frage stellen muß, zeigt das ungeheure und Ungeheuerliche des natürlichen Zeitgefühls. Vielleicht wird es mich schon morgen zur Selbstverurteilung führen, indem es nämlich das moralische Verlangen nach Umkehrung mir als den absurden Halbklugschwatz erscheinen lassen wird, der es für die weltvernüftigen Ganzklugen heute schon ist. Dann wird das stolze Volk, endgültig gesiegt haben...
Unsere Sklavenmoral wird nicht triumphieren. Die Ressentiments, Emotionsquelle jeder echten Moral, die immer eine Moral für die Unterlegenen war - sie haben geringe oder gar keine Chancen, den Überwältigern ihr böses Werk zu verbittern. Wir Opfer müssen "fertigwerden" mit dem reaktiven Groll, in jenem Sinne, den einst der KZ-Argot dem Worte "fertigmachen" gab; es bedeutet soviel wie umbringen. Wir müssen und werden bald fertig sein. Bis es soweit ist, bitten wir die durch Nachträgerei in ihrer Ruhe Gestörten um Geduld." (Jean Amèry, Ressentiments, 1969).


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