~~==++ Antirassistische Gruppe Leipzig ++==~~
veröffentlicht in: Camp-Mailinglisten

Geteilte Camps sind doppeltes Leid.

Grenzcampauswertung der Antirassistischen Gruppe Leipzig

Vorab

Wir, die Antirassistische Gruppe Leipzig(1), waren an der Vorbereitung des diesjährigen Grenzcamps in Jena beteiligt. Ausserdem besuchten wir – wenn auch mit unterschiedliche Intensität – die Camps in Hamburg, Straßbourg und Cottbus. Dieses Nachbereitungspapier hat keinen umfassenden Anspruch, vielmehr wollen wir selbstkritisch unsere eigene Beteiligung auswerten und unsere Meinung zu den für uns wichtigen Punkten darlegen. Unsere Gruppe existiert seit dem Grenzcamp in Frankfurt/Main (2001), allerdings sind wir in wechselnder Zusammensetzung in die Vorbereitung der antirassistischen Grenzcamps seit 1998 involviert.

Jena

Wir waren eine der Gruppen, die sich nach der Abspaltung eines Teils der Campvorbereitung Richtung Hamburg sehr deutlich und öffentlich pro-Jena positionierte.(2) Insofern waren etliche von unserer Beteiligung an Vorbereitung und Durchführung des Camps in Jena sichtlich enttäuscht. Dies ist insofern berechtigt, als dass wir unsere partielle Abwendung von Jena im Laufe der Mobilisierung nicht genügend transparent gemacht haben. Diese Enttäuschung beruhte allerdings auch auf einer Fehleinschätzung unserer Gruppe durch andere. Nur weil wir in der Gruppe versucht haben, Diskussionen zu führen und deren Ergebnisse zu veröffentlichen anstatt die Auseinandersetzung (z.B. mit Hamburg) zu ignorieren, heisst dies noch lange nicht, dass wir eine mitgliedsstarke und tatenkräftige, die auf dem Camp selbst viele Aufgaben übernehmen könnte. Grosse Fresse und nichts dahinter – wäre eine treffende Selbstbezeichnung für uns, womit mit dem ”Nichts” die Muskeln und nicht die klugen Gedanken – die wir natürlich für uns reklamieren – gemeint sind.
Von Anfang an sahen wir unsere Rolle darin, der befürchteten Verengung des Camps auf das Thema Residenzpflicht und die Zusammenarbeit mit MigrantInnen entgegenzutreten. Wichtig war uns dabei weniger eine aktionistische Erweiterung auf andere Themenfelder, die dann pluralistisch und zusammenhangslos nebeneinander stehen, sondern eine inhaltliche Vertiefung. Dies sollte u.a. mit unserem eigenen Aufruf(3) , Artikeln(4) in linken Zeitschriften und einer Veranstaltung auf dem Camp zum Verhältnis von Kapitalismus und Rassismus geschehen. Dies ist schon vor dem Camp gründlich gescheitert. Wir waren weder in der Vorbereitung noch auf dem Camp in der Lage, unsere intensiven Gruppen-Diskussionen an andere zu vermitteln – bzw. wurden vielmehr unsere Versuche beflissentlich ignoriert. Wir hatten nicht das Gefühl, dass irgend jemand unsere Artikel und den Aufruf ernst oder überhaupt auch nur zur Kenntnis genommen hat. Uns ist unklar, warum wir mit unseren Inhalten auf ein derartig massives Desinteresse der Campvorbereitung und des Camps selbst gestoßen sind. Die Veranstaltung auf dem Camp musste im typischen Campalltags-Chaos nach hinten und in ein kleines Zelt verschoben werden und war somit kaum besucht.
Zwei weitere Gründe für die nur halbherzige Beteiligung am Jenaer Camp seien noch genannt: Die Leipziger Szene, die die letzten Jahre mit ihrer Beteiligung Rückhalt für unsere Aktionen und Funktionen auf den Camps gab, interessierte sich dieses Jahr kaum für antirassistisches Campen – und schon gar nicht in Jena. Aus eher touristischen als politischen Gründen entschieden sich die wenigen, die überhaupt noch mitkommen wollten, mehrheitlich für Straßbourg. Wir selbst wiederum fanden die Diskussionsbeiträge aus der Hamburg-Vorbereitung, die über die gemeinsame camp-Mailingliste kamen, weitaus spannender als z.B. das organisatorische Hickhack um Dixieklos, Platzfrage und Schutzschichten der Jena-Vorbereitung. Das lag nicht nur daran, dass ”verbotene Früchte” mehr reizen, das Jenaer Camp und damit der Orga-Kram früher begann und die Verantwortung für Jena eher als Last denn als Herausforderung begriffen wurde. Sondern es war ja auch wirklich so, dass die Hamburger Vorbereitung im Vorfeld viel kontroverser, interessanter und umfassender diskutierte, als die am Jenaer Camp beteiligten Gruppen, die eher routiniert und pflichtschuldig das alljährliche Campprogramm abspulten – so wie wir das auch taten.
Aus all dem zogen wir dann ca. 2 Monate vor dem Camp die Konsequenz, dass wir – weniger politisch begründet, mehr sich der Macht des Faktischen in Leipzig beugend und aufgrund der oben genannten gruppeninternen Gründe – nur halb zu den Camps in Jena und Straßbourg mobilisieren wollten. Unser Konzept lautete ”Mittwoch bis Mittwoch”, d.h. eine halbe Woche in Jena, Karawane nach Straßbourg, um dann dort ebenfalls eine halbe Woche zu verweilen. Dabei hatten wir nicht berücksichtigt, dass die Camps eine gewisse Eigendynamik entwickeln, so dass es eigentlich nur heißen kann: Ganz oder gar nicht. Auf zwei Camps nur halb präsent zu sein, ergibt eben nichts ganzes.
Allerdings hätte eine andere Mobilisierung nicht viel an dem Resultat geändert. Wir fühlten uns für Leipzig, Sachsen und Sachsen-Anhalt verantwortlich. Im Gegensatz zu den vorhergehenden Jahren waren unsere Mobilisierungsveranstaltungen kaum besucht, sofern sie überhaupt stattfanden. Unser Angebot an Gruppen in anderen Städten, bei ihnen eine Veranstaltung durchzuführen oder wenigstens die Referate zukommen zu lassen, wurde kaum angenommen. Letztendlich hielt sich niemand an das ominöse Mittwoch-bis-Mittwoch-Konzept. Einige aus Leipzig waren die ganze Zeit in Jena, viele aus unserer Gruppe konnten jedoch erst ab Wochenbeginn – und in Straßbourg blieben die meisten dann bis zum Ende; an der Karawane wiederum beteiligte sich fast niemand.
Die bei uns ständig abnehmende Motivation bezüglich Jena schlug sich auch in den Aufgabenbereichen nieder, die wir übernommen hatten. Die Leipziger Redaktion für die Campzeitung sowie für die Internetseiten(5) leistete noch eine halbwegs gute Arbeit (an dieser Stelle wären eher die eingeschickten Beiträge zu kritisieren), das Layout der Zeitung wurde dann von uns allerdings nur noch hingeschludert. Ähnlich lieblos wurde mit dem Webjournal(6) verfahren. Es lag natürlich auch hier an der fehlenden inhaltlichen Zuarbeit durch andere Gruppen, an technischen Problemen, die sich in der kurzen Zeit nicht mehr lösen ließen, und an der Überlastung der dafür verantwortlichen Gruppenmitglieder – Fakt ist jedoch: es hätte auch besser gehen können. Das zeigt sich ja zum einen darin, mit wieviel Elan und Kreativität wir zu Beginn der Vorbereitung an das Layout von Aufklebern oder den später zu Postkarten mutierten Plakaten(7) gingen. Oder wie nachgiebig wir uns wichtige Debatten pushten, sei es der von uns geplante Schwerpunkt zu ”Kapitalismus und Rassismus” oder die ”Antisemitismus-Debatte”. Ausdauernd und mit viel Akribie wurde auch der zweite von uns geplante Schwerpunkt ”Haeckel und die Entstehung der rassistischen Moderne”(8) vorbereitet – auch wenn niemand was davon mitbekommen hat (außer das Haeckel-Museum, welches aus Sicherheitsgründen das ganze Camp über geschlossen blieb).
Obwohl wir merkten, dass wir eine der wenigen Camp-erfahrenen Gruppen innerhalb der Vorbereitung waren, wollten wir uns der uns quasi automatisch zufallende Verantwortung nicht annehmen, sondern übernahmen sehr wählerisch Aufgaben, die uns am Herzen lagen. Während wir in der Vorbereitung wenigstens quantitativ (wenn eben auch nicht qualitativ) gut am Start waren, glänzten wir auf dem Camp scheinbar durch Abwesenheit. Dies lag daran, dass wir – zu großen Teilen nicht von Beginn an anwesend – eine fertige und funktionierende Campstruktur vorfanden, in der wir zwar Schutz- und Kochschichten übernehmen konnten, uns mit so schwierigen Fragen, wie der Plenumsmoderation u.ä. aber gar nicht erst befassen zu müssen glaubten. Die von uns gesetzten Akzente, nämlich zwei Veranstaltungen und eine Aktion(9), fielen zwar nicht ins Wasser, aber wurden außerhalb unserer Bezugsgruppe kaum wahrgenommen.
Zum Camp selbst fiel uns bei unserer gruppeninternen Nachbereitung nicht viel ein. Im letzten Jahr haben wir noch versucht, ein Nachbereitungspapier(10) zu verfassen, welches alle Aspekte beleuchtet. Vieles davon ließe sich auch über das diesjährige Camp sagen. Mit einer gewissen Distanz und einem sicher vielen unverständlichen Zynismus verfolgten wir die Dinge, die auf so einem Camp halt passieren: gutes Essen und ekliger Dauerregen, langatmige Plenas, gelungene Aktionen und gelangweilte Polizei, sexistische Übergriffe und Naziprovokationen, Filmvorführungen und Tanzvergnügungen. Wir stürzten uns nicht ins Getümmel , denn wir waren nicht der Auffassung, dass wir in einem einwöchigem Camp Modelle alternativen Zusammenlebens ausprobieren könnten – wie dies von allen Camps postuliert wurde. Wir erhoffen uns inzwischen keine anregenden Diskussionen auf den Camps mehr (dies gilt – theoretisch – nur eingeschränkt auch für die Camp-Vorbereitung, allerdings war nach der Fokusierung auf die Residenzpflicht-Kampagne für uns klar, dass selbst die Vorbereitung nicht besonders “spannend” wird) und glauben auch nicht, dass wir im Camp-Stress zu neuen Aktionsformen finden. Dafür sind unserer Meinung nach eher Wohngemeinschaften, Kongresse und kontinuierlich arbeitende Zusammenhänge zuständig. Wir träumen nicht vom richtigen Camp-Leben im falschen während des restlichen Jahres. Insofern waren nach einer latenten Frustrationsphase während der Vorbereitung unsere Ansprüche zu Camp-Beginn gering und konnten deswegen auch nur schwer enttäuscht werden. In unseren Augen war das Camp deswegen “erfolgreich”: es hat erreicht, was es erreichen konnte. Es war zwar nicht so groß wie in Frankfurt im Vorjahr, es stand aber auch nicht für das Scheitern der Campidee als solchen. Vielmehr gab es eine neue, nicht besonders gute, aber auch nicht gerade schlechte Neuauflage der Camps, wie sie in Forst, Rothenburg oder Zittau stattfanden.
Das diesjährige Camp muss sich auch an dem im Vorfeld formuliertem Anspruch messen lassen, die Vorbereitung und Durchführung gemeinsam und gleichberechtigt zwischen MigrantInnen und Deutschen hinzubekommen – und dabei weder Identitäten festzuschreiben noch bestehende Ungleichheitsverhältnisse zu ignorieren. Obwohl dies besser geklappt hat als die Jahre zuvor, sind wir trotzdem der Meinung, dass das Camp seinem Anspruch nicht gerecht geworden ist. Auch wenn einige organisatorische Fragen (Übersetzung etc.) und inhaltliche Debatten (Extra-Meetings(11) im Vorfeld, Auseinandersetzung über den sexistischen Vorfall auf dem Camp) gut über die Bühne gebracht wurden, müssen wir konstatieren, dass das Camp weit von der “hybriden Assoziation” entfernt ist. Es beteiligten sich nur wenig MigrantInnen an der Vorbereitung und am Camp selbst, die MigrantInnenzusammenhänge waren inhaltlich kaum präsent (kein eigener Aufruf, keine Texte in der Campzeitung), die Extra-Meetings verkamen im Lauf der Zeit zu Treffen mit hehren Zielen und geringer Außenwirkung. Wir sind nicht in der Lage, Gründe für dieses Scheitern zu benennen und denken, dass sich die “Schuldfrage” nicht personalisieren oder einer Gruppe zuschieben lässt.

Straßbourg(12)

Auch wenn Straßbourg ursprünglich nur als kleines KaderInnen-Vernetzungstreffen geplant war, überraschte und freute uns, welche Sogwirkung das Camp schon im Vorfeld entfaltete. Nach Jena war es nicht allein wegen dem besseren Wetters und Zeltplatzes sowie den kulinarischen Verlockungen erfrischend, an einem internationalen (wenn auch deutsch dominiertem) und großem Camp teilzunehmen.
Um Straßbourg gab es im Nachhinein ja die heftigsten Debatten. Die einen feiern es unkritisch als großen Erfolg, andere jammern, dass sie erst keine gekaufte Marmelade verzehren durften und dann sogar noch in Erdlöcher scheissen mussten. Es mag so einige unerfreuliche Vorfälle gegeben haben, allerdings halten wir die Reduzierung des Camps auf diese für fatal. Da wir der Meinung sind, dass die Idee eines internationalen Camps nicht leichtfertig verworfen werden sollte, denken wir, dass die Kritik (deren Inhalt wir teilen, aber nicht deren Intention) der Verbesserung und nicht der Verhinderung eines weiteren Camps zu dienen hat.
Als Fehler der Campvorbereitung werten wir den Versuch, mit mehreren tausend Menschen aus verschiedenen Ländern und mit unterschiedlichem politischem Background innerhalb nur einer Woche ”Basisdemokratie” (vor allem in organisatorischen Fragen) einüben anstatt ausüben zu wollen. Es wurden unserer Meinung nach viel zu wenig Vorgaben gemacht, wie ein Camp zu funktionieren hat. Das Camp wurde der Selbstverwaltung überlassen – was aber verantwortungslos war, weil dies im Chaos münden musste, wie es dann auch teilweise geschah. Die Plenas diskutierten tagelang über das Schutzkonzept und das Alkoholproblem, anstatt sich um politische Ausrichtung, die Pressearbeit, die Vorbereitung von Aktionen oder inhaltliche Grundsatzdebatten zu kümmern. Die Campvorbereitung muss der Tatsache Rechnung tragen, dass die anwesenden, vom Kapitalismus deformierten Menschen, sich selbst überlassen, nicht automatisch das richtige tun (und das heisst für uns nicht, aus einem vermeintlichen antikapitalistischem Reflex heraus, Handel und feste Preise zu verbieten) – mal ganz abgesehen davon, dass für viele Camp gleich Urlaub ist und somit ein Bemühen um Selbstorganisierung nur bei einigen vorhanden. Sich im Vorfeld weiterführende Gedanken über die Abschlussdemonstration, Pressearbeit, Schutzkonzept zu machen – und diese dann zur Diskussion zu stellen –, hat nichts mit Bevormundung zu tun.
Die negative Außenwirkung des Camps auf weite Teile der Linken (so kursierte in Hamburg der Witz: Ein Glück, dass das Camp im Hafen ist. Da kann es nämlich keinen Schaden anrichten – mangels Synagoge(13)) hat einen wahren Kern, auch wenn etliche Berichte über das Camp unsachlich und einseitig sind. Wir sind allerdings der Meinung, dass das Camp in dieser Hinsicht nicht aus dem Rahmen fiel, sondern den Stand der Linken gut auf den Punkt gebracht hat. Insofern wurde uns in Straßbourg ein Spiegel vorgehalten, was alles noch im Argen liegt.

Hamburg(14)

Angesichts der längs der Elbe weit verbreiteten feuchten Umstände konnten wir uns über das Hamburger Motto ”Land-In-Sicht” auf der trockenen Uferseite des Camps so richtig freuen. In Hamburg war auf den ersten Blick vieles cooler als in Jena: Das Wetter und die Stadt, der Platz und die Musik, die Internetpräsenz und die Mobilisierungsmaterialien, das Camp-Café, das Plenum und die Aktionen – sowie selbst die Dixie-Klos. Wer genauer hinschaut, erkennt allerdings viele Ähnlichkeiten mit Jena bzw. der traditionellen Camp-Idee, von der sich der Vorbereitungskreis im Vorfeld mehr oder wenig polemisch abgegrenzt hatte. Die TeilnehmerInnen in Hamburg waren genauso träge wie anderswo – und “diskurs-mäßig” nicht so “weit”, die MacherInnen sich das gern gewünscht hätten. Ob dies nun gut oder schlecht ist, steht auf einem anderen Blatt. Weiter oben hatten wir ja schon geschrieben, dass Hamburg reizvoll erschien, weil das Versprechen im Raum stand, dass linke Debatten thematisch breiter und tiefer geführt werden würden. Die Offenheit der Diskussion führte aber an einigen Punkten auch zu gezielten ”Tabubrüchen” (z.B. in der Sexismus-Diskussion), Verstößen gegen einen (vermeintlichen) innerlinken Konsens, die als fortschrittlich verstanden werden sollten, in Wirklichkeit aber genau das Gegenteil darstellten. Ausführlicher gingen wir anhand der Auseinandersetzung um die Anlaufstelle (zum Schutz von Betroffenen sexistischer oder rassistischer Übergriffe) in unserem Nachbereitungspapier(15) aus dem letzten Jahr auf diesen Punkt ein.
Die Diskussionen – soweit wir sie mitbekommen haben – waren nicht besser, als in Straßbourg oder in Jena. Es gab ein sich nicht gegenseitig befruchtendes Nebeneinander von Veranstaltungen. Während in dem einen Zelt ein Antiimp der alten Schule seinen antiamerikanischen Ressentiments freien Lauf ließ, wurde im Nachbarzelt eine umfassende Analyse des Antisemitismus geliefert. Eine gemeinsame Diskussion fand nicht statt, alle schmorten im eigenen Saft.
Aufgrund der Zersplitterung der diesjährigen Camps waren in Hamburg eigentlich zu wenig Menschen anwesend, um vielfältige Aktionen durchzuführen. Bei wenigen hundert TeilnehmerInnen werden Demonstrationen zu einem Witz und die Kleingruppenaktionen gingen in der Großstadt Hamburg (natürlich mehr als in Jena) unter. Die Anzahl der TeilnehmerInnen war gut geeignet für Diskussionen und Selbstorganisierungsprozesse, also genau für die Sachen, die auf dem Massencamp in Straßbourg nicht funktionieren konnten. Diese Chance wurde aber kaum genutzt, weil Hamburg zum einen gut vorbereitet war, andererseits die eher autoritär orientierten Teile der Campvorbereitung etliches vorweggenommen hatten bzw. das Camp streckenweise dominierten.

Cottbus(16)

Noch deutlicher als in Hamburg zeigte Cottbus, dass die Zersplitterung der Camps keine erfrischende Vielfalt bedeutet sondern lähmende Einfalt. Aktionen fanden kaum statt, dafür wurde sieben Stunden über die Frage debattiert, ob und wie offensiv gegen Nazis vorgegangen werden sollte. Während die ortsansäßigen Antifas dafür plädierten, war den meisten TeilnehmerInnen der Schreck in die Glieder gefahren – schließlich besuchte doch auch die Polizei das Camp nicht jeden Tag umsonst, um es vor den Gefahren der feindlichen ostzonalen Außenwelt zu schützen. Der wirklich sehr gute Aufruf zur Abschlussdemonstration wurde kontrastiert durch eine Nicht-Demonstration am letzten Tag, die von Nazis, Polizei und PassantInnen zu Recht verhöhnt oder belächelt wurde. Guter Wille meets Unentschlossen- und Unerfahrenheit – so der heimliche Leitspruch des Cross-Over-Camps.(17)

All together

Dass es dieses Jahr nicht ein sondern gleich vier antirassistische Grenzcamps in Deutschland bzw. mit starker deutschen Vorbereitung und Beteiligung gab, ist auf politische Differenzen, unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und persönliche Frustrationen zurückzuführen. Während allerdings letztere zumindest zwischen Jena und Hamburg zu Beginn offensiv auf der Camp-Mailingliste ausgetragen wurden (einige titulierten dies als Hahnenkampf), herrschte in Bezug auf die politischen Gründe Ignoranz, billige Polemik und Sprachlosigkeit vor. Uns ist bis heute nicht so richtig klar geworden, worin denn nun die unüberbrückbaren Differenzen bestehen, die eine Durchführung eines Camps verunmöglichten. Wir möchten vielmehr nach Besichtigung der vier Camps behaupten, dass diese nicht bestehen und schlagen vor, entweder die Camps wieder zu vereinen oder die Trennung regional zu begründen: Die Fahrtkosten in der BRD sind so hoch und somit wird aus Cottbus Grenzcamp Ost, aus Jena Süd, aus Hamburg Nord und Kehl bei Straßbourg liegt ziemlich weit im Westen. Am 1. Mai in Berlin verstehen wir es sehr wohl, dass es neben diversen Partei- und Gewerkschaftsdemos dieses Jahr drei sich linksradikal verstehende Demonstrationen gab. Wir haben uns nur an der einen beteiligt und hätten bei den zwei anderen, davor stattfindenden aus politischen Gründen nicht teilnehmen wollen. Auf den vier Camps dieses Jahr haben wir uns allerdings “wohlgefühlt” (d.h. teilten nicht aus Harmoniesucht, sondern aufgrund der inhaltlichen Nähe die politischen Schwerpunkte und stimmten mit den Umsetzungsstrategien überein) – und die verrückten Ideen, Aktionen oder Menschen waren (im Gegensatz zum 1. Mai, wo die nationalistischen StalinistInnen alle in einer Demo laufen) auf alle Camps gleichmäßig aufgeteilt. Die Trennung der Camps hat also genau das Gegenteil von dem bewirkt, was ursprünglich damit beabsichtigt war. Weil einige dachten, dies und jenes wäre im klassischen Camp-Konzept nicht umsetz- oder diskutierbar, spalteten sie sich ab, um es dann im eigenen Camp mangels Beteiligung oder Widerspruch erst recht nicht verwirklichen oder vertiefen zu können. Auf allen Camps standen die Themen (wie Verhältnis von Rassismus und Sexismus, Rechtspopulismus), die vermeintlich für die Abspaltung sprachen, auf der Tagesordnung – und die Teilnahme der selbsternannten ExpertInnen wäre auch für die anderen Camps befruchtend gewesen.
Wir plädieren für nächstes Jahr – sofern es überhaupt noch Interesse gibt, denn nur der Tradition wegen sollte die Camp-Idee nicht krampfhaft am Leben gehalten werden! – für zwei Camps: Ein deutsches Camp für die inhaltliche Vertiefung und ein internationales für den Blick über den Tellerrand. Beide haben ihre Berechtigung, das eine Ziel lässt sich nicht auf dem jeweils anderem Camp verwirklichen, und unserer Meinung nach hat die Existenz des Straßbourg-Camps nicht demobilisierend auf die anderen Camps gewirkt. Für das Camp in der BRD stellen wir uns vor, dass weiterhin an der antirassistischen Ausrichtung festgehalten wird, diese allerdings nicht nur auf ein Aktionsfeld wie Residenzpflicht heruntergebrochen wird, sondern eine gesamtgesellschaftlichtliche Verortung stattfindet, ohne jedoch eine inhaltliche Aufweichung wie in Hamburg oder Cottbus vorzunehmen.
Inwieweit wir uns nächstes Jahr an einer Campvorbereitung beteiligen wollen, ist zur Zeit noch unklar. Wir finden die Camp-Idee immer noch reiz- und sinnvoll (für die Vermittlung von Diskussionen, die Vernetzung von linken Gruppen, beides personell und inhaltlich über das klassische Antira-Spektrum hinaus; für die inhaltlich-aktionistische Außenwirkung sowohl auf die linke Szene als auch generell auf die Öffentlichkeit) und unsere schönsten Ferienerlebnisse stammen von den Camps. Allerdings sind wir, zum Teil schon fünf antirassistische Camps vorbereitend habend, etwas ausgelaugt und skeptisch, inweit sich unsere Vorstellungen (als Gruppe, die nicht aus der antirassistischen Praxis – im Sinne von Flüchtlingsunterstützungsarbeit – kommt und auch nicht dort angelangen will(18)) verwirklichen lassen, – und auf der Suche nach einer politischen Qualifizierungsmaßnahme bzw. Neuorientierung.

In diesem Sinne:
Antirassistische Gruppe Leipzig
Leipzig, Ende September 2002

(1) http://www.nadir.org/nadir/initiativ/antira-leipzig
(2) siehe unseren Artikel in der interim 545/2002, http://www.nadir.org/nadir/kampagnen/camp02/artikel_interim545.htm
(3) http://www.nadir.org/nadir/kampagnen/camp02/aufruf2d.htm
(4) siehe: http://www.nadir.org/nadir/kampagnen/camp02/artikel.htm
(5) http://www.nadir.org/camp02
(6) http://www.nadir.org/nadir/kampagnen/camp02/produced/index.shtml
(7) siehe: http://www.nadir.org/nadir/kampagnen/camp02/material.htm
(8) siehe: http://www.nadir.org/nadir/kampagnen/camp02/artikel_haeckel.htm
(9) http://www.nadir.org/nadir/initiativ/antira-leipzig/archiv/a25.htm
(10) http://www.nadir.org/nadir/initiativ/antira-leipzig/archiv/a1.htm
(11) http://www.nadir.org/nadir/kampagnen/camp02/themen.htm#extrameeting
(12) http://www.noborder.org/camps/02/int/display.php?id=78
(13) Zu dem antisemitischen Vorfall in Straßbourg und die Diskussionen über den Nahost-Konflikt gibt es von einem Mitglied unserer Gruppe einen extra Text: http://www.nadir.org/nadir/initiativ/antira-leipzig/archiv/a28.htm
(14) http://www.nadir.org/nadir/kampagnen/landinsicht/
(15) http://www.nadir.org/nadir/initiativ/antira-leipzig/archiv/a1.htm#2
(16) http://www.summercamp.squat.net/
(17) Eine ausführlichere Kritik findet sich in der incipito 02/2002, http://left-action.de/incipito/text/37.htm
(18) zur Begründung siehe z.B.: http://www.nadir.org/nadir/initiativ/antira-leipzig/archiv/a11.htm


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09.11.2003
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