~~==++ Antirassistische Gruppe Leipzig ++==~~
veröffentlicht in: CEE IEH 84/02

Linker Antirassismus im Wandel der Zeiten

Veranstaltung für Jugendliche bis 21 im Tomorrow-café, B12, Braustr. 20 am 01.02.2002, 19:00

Der Text untersucht die Geschichte der Antirabewegung anhand der Leipziger Gruppe Kahina kritisch und in Auseinandersetzung mit Thesen der ANG-Veranstaltung zu Antirassismus(1) und konzentriert sich dabei auf einzelne Aspekte. Eine ausführlichere und kontinuierlichere Betrachtung leistet der Text: „Analyse der Antira-Szene“ aus dem CEE IEH #77 (Mai 2000).

Antirassismus: the very short history

Die Auseinandersetzung mit Rassismus als einem Phänomen, das nicht der Vergangenheit (Kolonialismus) angehört oder in geographischer Ferne (Apartheidsregime in Südafrika) liegt, sondern eine Basis der gesamten bundesdeutschen Politik und Gesellschaft bildet, findet innerhalb der Linken erst Mitte der 80er Jahre statt. Durch die Verschärfung der Ausländergesetze und -politik in den 80er Jahren bildet sich in der gesamten Linken ein Bewusstsein für den institutionellen und staatlichen Rassismus heraus. Es gründen sich erste autonome Antiragruppen. Diese konzentrieren sich anfänglich auf den staatlichen Rassismus als auslösendes Element ihrer Politik. Viele dieser Gruppen verstehen sich als antiimperialistisch und sozialrevolutionär. Sie nehmen infolgedessen Flüchtlinge und MigrantInnen als politische Subjekte ernst und als neues revolutionäres Subjekt wahr. Die Opfer der Weltwirtschaftsordnung und der imperialistischen Staaten sollen nun den Kampf in die kapitalistischen Metropolen tragen, als verlängerter Arm und zur Unterstützung der Befreiungsbewegungen aus dem Trikont.
Ab 1990 lösen die de-facto-Abschaffung des Asylrechtes, weitere Verschärfungen im Ausländerrecht und die rassistische Hetze auf allen gesellschaftlichen und politischen Ebenen einen Aufschwung innerhalb der Bewegung, die sich später in Antifa und Antira trennt, aus. Die Analyse erweitert sich z.B. um den Rassismus in der Bevölkerung und rückt vom staatlichen Rassismus im Handlungszentrum auf die vom Rassismus Betroffenen: Flüchtlinge und MigrantInnen. Dadurch verschiebt sich ihre Wahrnehmung: Aus dem politischen Subjekt werden nun Objekte von antirassistischer und antifaschistischer Hilfe, die den Opfern des rassistischen Systems und faschistischer Übergriffe gilt.
Ab 1993 trennen sich beide Teilbereiche vor dem Hintergrund der Desillusionierung. Sie bleiben erfolglos bei dem Versuch, die Verschlechterung der politischen Rahmenbedingungen aufzuhalten. Anstatt Antira-Politik wird nun Antira-Arbeit gemacht: Der Wirkungsmächtigkeit des staatlichen Rassismus wird Flüchtlingssozialarbeit entgegengesetzt. Infolgedessen professionalisiert und institutionalisiert sich Antirassismus.
Seit Mitte der 90er Jahre wurde wiederum mittels antirassistischen Grenzcamps, Abschiebehaftdemos (z.B. Büren als antirassistisches und antifaschistisches Event) und der Gründung des Netzwerkes „kein mensch ist illegal“ (das Gruppen und Personen aus verschiedenen politischen Spektren und aus dem künstlerischen Bereich bündelt) eine erneute politische Ausrichtung auf breiterer inhaltlicher und struktureller Basis vorgenommen.

Antirassistische Sozialarbeit vs. Politik

Die Leipziger autonome Flüchtlingshilfegruppe Kahina steht als Beispiel für den Ansatz, Flüchtlinge als politische Subjekte und nicht als Opfer politischer Verhältnisse wahrzunehmen. Sie bezeichnen sich explizit als „antiimperialistische Gruppe“(2). Kahina arbeiten seit 1993 in der Flüchtlingshilfe, Asylpolitik und explizit auch politisch mit Flüchtlingen. Sie verorten sich innerhalb der autonomen Szene.(3)
Flüchtlingshilfe ist laut Kahina praktische Solidarität, zumal es im Osten kaum eine liberale oder kirchliche Öffentlichkeit gäbe, die Beratung macht und Infrastruktur stellt, ebenso wenig Communities, die Flüchtlinge „auffangen“ könnten. Konsequenterweise bieten sie sich daher als Ansprechpersonen für Flüchtlinge an, die dieses Angebot auch wahrnehmen.(4)
Flüchtlingshilfe und antirassistische Sozialarbeit ist wohl der Kritikpunkt, der von linksradikaler Seite (z.T. auch von AntirassistInnen selbst, meist wird diese aber überzeugt verteidigt) am meisten vorgebracht wird. Der Vorwurf: Durch Sozialarbeit mit Flüchtlingen mildern AntirassistInnen die Auswirkungen des staatlichen Rassismus und übernehmen unbezahlt Aufgaben des Staates, wenn sie z.B. medizinische Versorgung für illegalisierte Menschen oder Beratungsangebote für AsylbewerberInnen organisieren. Wie genehm derartige Arbeit staatlichen Behörden ist, beweist sich dann in Zusammenarbeit mit und Anerkennung von ungewollter Seite.(5) Obwohl z.B. per Gesetz jegliche Hilfe für Illegalisierte kriminalisiert wird, verweisen Behörden des öfteren auf Angebote wie medizinische Hilfe für Illegale. Der Anspruch, durch Einzelfallhilfe die staatliche Politik am reibungslosen Ablauf zu stören, offenbart sich in der Realität dann meist als Trugschluss. Vielmehr übernimmt sie z.T. staatliche Aufgaben und glättet Widersprüche.
Bei Kahina liest sich dieser Anspruch so: Ausländer- und Asylrecht sei Ausdruck des strukturellen Rassismus und Einzelfallhilfe konkreter Widerstand dagegen.(6) Ob eine solche antirassistische Tätigkeit linksradikal, christlich oder humanitär motiviert ist, sei für die Wirkung gegen die staatliche Politik sekundär. Gruppen mit linksradikalem Anspruch hingegen könnten darüber hinaus ihre weitergehenden politischen Forderungen mittels antirassistischer Politik umsetzen und würden die Ressourcenaufteilung zwischen den beiden Handlungsperspektiven gemäß ihren Prioritäten setzen.
Diese Unterscheidung zwischen antirassistischer Tätigkeit und Politik klingt erst mal gut, zumal jedem Versuch einer linksradikalen Flüchtlingshilfe, die sich in der Wirkung unterscheiden soll von der, die liberale oder kirchliche Gruppen leisten, eine deutliche Absage erteilt wird. In der Tat ist die Wirkung für Flüchtlinge fast dieselbe. Deshalb denken wir ja auch, dass Flüchtlingshilfe die Aufgabe bürgerlicher Organisationen bzw. dort, wo es in seine Verantwortung fällt, eben des Staates ist und linke Antira-Gruppen linke Politik machen sollten, zumal sie dann als Linke wahrgenommen werden und eine politische Alternative aufzeigen können. Dann aber jeder Hilfetätigkeit eine antistaatliche Wirkung zuzuschreiben, bewertet den Einfluss derartiger Initiativen über. Auch die Prioritätensetzung in der Praxis ist in den meisten Fällen eine Illusion: Flüchtlingshilfe ist derart zeitintensiv und verlangt eine solche Professionalisierung(7), dass politische Arbeit schnell an den Rand gedrängt wird.
Ein anderer Aspekt, der zu unterscheiden ist von Einzelfallhilfe für Flüchtlinge ausschließlich wegen ihres Flüchtlingsstatus, ist die praktische Solidarität durch Hilfe und Beratung mit denjenigen Flüchtlingen, mit denen mensch politisch zusammenarbeitet.

Antirassismus als Erbe des Antiimperialismus

Kahina sehen darüber hinaus Einzelfallbetreuung als praktische Unterstützung für antiimperialistischen Kampf: es geht um die „Destabilisierung und Bekämpfung der imperialistischen Metropolen von innen“ und um die „Diskussion um nationale und national-revolutionäre Befreiungsbewegungen“.(8)
Mal abgesehen vom Vokabular: Nun kann Flüchtlingshilfe momentan nicht mal die rassistische Politik in der BRD ernstlich behindern. Und im Kampf gegen den Kapitalismus weltweit wird auf diesem Sektor auch nichts zu holen sein: Flüchtlingshilfe ist kein politisches Kampfmittel. Hinter der Hoffnung, dass Flüchtlinge den Kampf jetzt in diejenigen kapitalistischen Länder zurücktragen, die die Ausbeutung ihrer Herkunftsländer zu verantworten haben, kann sich die Hoffnung auf das revolutionäre Subjekt Flüchtling verbergen. Und derartige Hoffnungen auf Gruppen von Menschen, die bestimmte soziale Bedingungen gemeinsam haben, sind immer nur hilflose und träumerische Projektionen.
Derartige Positionen scheinen die These der ANG zu bestätigen: sie unterstellen eine ideologische Ablösung der Antiimp-Bewegung durch die Antirabewegung.(9) Die Konstruktion einer solchen Erbfolge ist jedoch eine tendenziöse Verkürzung, die sich gut in die Diffamierung des linken Antirassismus einpasst, aber wenig zu einer ernsthaften Auseinandersetzung beiträgt. Es gab teilweise personelle und ideologische Kontinuitäten.(10) Aber es gab gleichermaßen eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Tendenzen. In Bezug auf die rassistische Politik in d. BRD gab es die Kontinuität nicht: Antiimperialistische Gruppen haben sich nicht darauf bezogen. Antirassismus hat demzufolge in diesem Bereich die ideologische Grundlage neu besetzt.

Das Objekt antirassistischer Begierde

Kahina gehören der starken Strömung derjenigen innerhalb der Antira-Szene an, die den Kontakt zu Flüchtlingen als unabdingbar für antirassistische Politik sehen. Sie begründen diese Notwendigkeit mit der sozialen Marginalisierung von Flüchtlingen und Linken gleichermaßen, aus der heraus sich Anknüpfungspunkte für eine „solidarische Interaktion in sozialen Kämpfen“(11) ergeben. Ein weiterer Grund ist die z.T. vorhandene politische Vorgeschichte von Flüchtlingen und MigrantInnen, die sie hier fortsetzen wollen und daher gleichberechtigte BündnispartnerInnen im gemeinsamen politischen Kampf sind. Kahina leben diesen Anspruch in ihrer politischen Praxis: Kriterium für die Zusammenarbeit und Unterstützung von Flüchtlingen und MigrantInnen ist die Übereinstimmung in politischen Grundsätzen. Sie wollen mit ihrer Arbeit politische und MigrantInnenstrukturen befördern(12) und ihnen so die Fortsetzung ihrer politischen Arbeit in Deutschland ermöglichen. Diese politische Positionierung in der Flüchtlingshilfe heben sie von vielen Gruppen ab, die „nur helfen“. Sie knüpfen dabei (bewußt oder unbewußt) an das historische Verständnis von Flüchtlingshilfe an: politische Gruppen vor ca. 100 Jahren haben diejenigen Flüchtlinge unterstützt, die ihnen nahestanden, und dies als Teil ihres Kampfes gesehen. Sie haben Flüchtlingen nicht geholfen wegen ihres Status als Flüchtlinge, sondern weil sie politische Genossen waren. Dieses Konzept von Flüchtlingshilfe ist schwer auf heute zu übertragen: Flucht ist zu einem sehr großen Teil Armuts- und Arbeitsmigration und nicht politisch motiviert. Das erfordert eine spezifischere Auseinandersetzung als ein reduziertes Verständnis von politischer Flucht. Antirassismus kann keinesfalls eine Unterteilung von berechtigter politischer Flucht und „falscher“ aus wirtschaftlichen Gründen mittragen, sondern sollte die Forderung nach freier Bewegung ohne Grenzen und die Dekonstruktion von Nationen auch ernst nehmen und jede Form von Flucht in diesem erweiterten Verständnis verteidigen. Weil Kahina diese Auffassung teilen, gehen sie in ihrer politischen Arbeit von diesem Fluchtbegriff aus und setzen aber politische Maßstäbe in der Flüchtlingshilfe.
Nun ist ein gleichberechtigter politischer Kampf, wie ihn Kahina für die gesamte Linke einfordern, anstrebenswert – antirassistische Politik gegen institutionellen Rassismus oder die staatliche Ausländerpolitik gemeinsam mit Flüchtlingen als politische Subjekte wäre ein Idealfall gerade im Vergleich „klassischer“ Antirapolitik, in der Flüchtlinge nur als Opfer vorkommen. Flüchtlinge und MigrantInnen gleichberechtigt zu behandeln und ernst zu nehmen heißt, nicht wegen ihres Aufenthaltsstatus, sondern wegen ihrer politischen Vorstellungen mit ihnen zusammenzuarbeiten und sie politisch auch zu kritisieren. Antirassistische Politik braucht keinen Kontakt zu Flüchtlingen wegen ihres Status, sondern linke Politik braucht den gemeinsamen Kampf aller Menschen, die in politischen Grundsätzen und Zielen übereinstimmen.

Betreff: Heimat

Antirassismus hätte als Grundlage einen positiven Bezug auf Heimat, wie es sich im Bezug auf Kämpfe in anderen Ländern, Fluchtursachen und die Verknüpfung von Flüchtlingen mit ihrem Herkunftsland sichtbar äußert und in der ständigen „Betonung der kulturellen und ethnischen Andersartigkeit als Ausgangsposition“(13). Dieser Vorwurf der ANG trifft wunde Punkte. In der Tat gibt es zu wenig Auseinandersetzung mit dieser Problematik, einerseits mit der realen Wirkungsmächtigkeit von Konstruktionen wie Nation und Heimat umzugehen und diese Konstrukte andererseits durch ihre Benennung zu reproduzieren.(14) Aus dieser politischen „Fahrlässigkeit“ jedoch einen positiven Bezug und Absicht abzuleiten, ist mit Sicherheit falsch. Die Entwicklung einer antirassistischen Praxis, die sich diesem Widerspruch stellt, ist schwer möglich: bestehende Unterschiede zu negieren, kann einen verstärkenden Effekt auf die darauf basierende reale Unterdrückung haben. Rassistische Unterdrückung nicht zu benennen und die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen zu ignorieren, mag ja jede Gefahr vermeiden, den Anschein eines positiven Bezuges auf Heimat und Rasse zu erwecken. Die Realität wird damit aber nicht bekämpft.(15) Nationen und Nationalismus werden von AntirassistInnen als Ursache für Rassismus benannt – und zwar nicht etwa deswegen, weil sie künstliche Gebilde im Gegensatz zur natürlichen Heimat sind (das wäre eine mögliche Rezeption), sondern weil Nation und Heimat als gemeinschaftsbildende Konstrukte, die die „Anderen“ implizieren, analysiert werden.

Remove the System

Und schon wird der nächste Vorwurf vorgebracht: Antirassismus sei reformistisch und bekämpfe nur das Symptom Rassismus, könne sich aber ohne diesen Schönheitsfehler gut in der bürgerlichen Herrschaft einrichten. Das ist ein altbekannter Vorwurf gegen den Ansatz von Teilbereichs- und symbolischer Politik, die bei der Bekämpfung von konkreten Widersprüchen immer die Überwindung des Herrschaftssystems zum Ziel hat. Bislang konnte aber keinE WertkritikerIn ein besseres Konzept präsentieren, aus dem auch eine Praxis folgt.
Die ANG geht noch strenger ins Gericht: Der Antirassismus strebe „die Vervollkommnung der Ausbeutung [an], weil ihm die Überwindung objektiver Verhältnisse egal ist“ und „seine Gleichheitsbestrebungen als Verdoppelung bürgerlicher Herrschaft erfolgen“(16). So kommt die ANG dann zu so unbegründeten Folgerungen wie diese, dass sich AntirassistInnen nur „unter der gänzlichen Selbstaufgabe des antirassistischen Unterfangens“ vom Multi-Kulti-Gedanken befreien könnten. Auf diese Weise wischt die ANG sämtliche antirassistische Kritik an der Betonung kultureller oder gar ethnischer Besonderheiten und entsprechender Zuschreibungen als positiven oder Multikulti-Rassismus erklärungslos beiseite und wendet diese gegen den Antirassismus selbst.
Die ANG negiert jegliche Auseinandersetzungen innerhalb der Antirabewegung mit grundlegender Gesellschafts- und Staatskritik. Da liegt auch einiges im Argen – mehr Radikalität und Kapitalismus-Kritik könnte der Antirabewegung nicht schaden. Die antirassistische Staatskritik hat die entscheidenden Impulse auch erst durch antinationale Kritik erhalten.
Dennoch gibt es in Teilen der Antirabewegung politische Inhalte, Ziele und Forderungen, die eine grundlegende Gesellschaftskritik transportieren und die Abschaffung der bürgerlich-kapitalistischen Herrschaft zum Ziel haben(17). In der Vergangenheit hat sich die Antiraszene als die offenste Teilbereichsbewegung erwiesen. Die Forderung nach einem Miteinander und dem Aufbau einer linken Organisation besteht für die gesamte Linke und sollte in der Zukunft auch verstärkt das Anliegen von linksradikalem Antirassismus sein.

Antisemitismus im antirassistischen Weltbild und Handeln

In der Antirassismusbewegung gab es zwar Auseinandersetzungen mit „Erbteilen“ des Antiimperialismus z.B. um den problematischen Bezug auf nationale Befreiungsbewegungen. Ganz in antiimperialistischer Tradition nehmen AntirassistInnen jedoch im Nahostkonflikt (wie sie es in scheinbar ähnlich gelagerten Konflikten auch tun) einseitig den Blickwinkel der „unterdrückten“ Gruppe gegen die „unterdrückende“ Staatsmacht ein. Sie berücksichtigen nicht die spezifische Situation Israels als Folge- und Zufluchtsstaat von JüdInnen nach dem Holocaust, die es unbedingt erforderlich macht, diesen Staat trotz grundsätzlicher Staatskritik gegen die permanente Bedrohung insbesondere durch arabische Staaten und gegen alle anderen, die ihn in Frage stellen, zu verteidigen. Diese Weglassung besonders im Zusammenhang mit Kritik an israelischer Politik macht den Antisemitismus oder die antisemitischen Bezüge innerhalb der Antirabewegung aus, obwohl es ansonsten eine ständig präsente Auseinandersetzung mit Antisemitismus gibt. Dabei machen allerdings viele Antiragruppen (wie Kahina auch) den Fehler, in der Praxis aufgrund ähnlicher Elemente von Rassismus und Antisemitismus die Spezifik von Antisemitismus aus dem Blick zu verlieren und ihn nur als eine Spielart von Rassismus zu verstehen.(18)
In der Kritik von Antiragruppen wird meist ausschliesslich die israelische Politik für die Situation der PalästinenserInnen verantwortlich gemacht. Kahina hingegen vertreten eine in der Antirassismus-Szene eher marginale Position: sie thematisieren, dass Flüchtlinge immer auch politisch instrumentalisiert und palästinensische Flüchtlinge zum Druckmittel gegen Israel eingesetzt werden.(19)
Ausgehend von dieser Grundeinschätzung kritisieren sie sowohl israelische als auch palästinensische Politik. Dennoch setzen sie sich nur mit linken palästinensischen Gruppen auseinander, arbeiten mit ihnen zusammen und ergreifen innerhalb des Konfliktes Partei für die palästinensische Linke. Sie versuchen also, sich in die palästinensische Binnenperspektive zu begeben und den Konflikt einseitig daraus zu erklären(20). Genau diese Einseitigkeit macht den Ansatz problematisch.
Ebenso problematisch ist ihre Sicht auf arabischen Antisemitismus: Kahina betonen, die spezifischen historischen und gesellschaftlichen Bedingungen von deutschem Antisemitismus (Nationalsozialismus, Vernichtungswillen) seien nicht übertragbar auf die palästinensische Gesellschaft. Sie sprechen nicht von arabischem Antisemitismus, sondern von Judenfeindlichkeit. Antisemitische Argumentationen europäischen Musters würden nur instrumentell eingesetzt, um die Legitimationsgrundlage des Staates Israel anzugreifen.(21) Eigentlich ginge es jedoch nur um Boden und Heimat.(22)
Es ist absurd, antisemitische Argumentationen und Handlungen als Judenfeindlichkeit zu entschuldigen, sondern sie müssen genauso ernst genommen und als das bezeichnet werden, was sie sind: arabischer Antisemitismus. Wenn auch der europäische Einfluß auf die Entstehung unbestreitbar und der deutsche Vernichtungsantisemitismus nicht in eins zu setzen ist mit arabischen Antisemitismus, so ist doch dessen faktische Wirkung für JüdInnen bedrohlich.
Trotz derartiger problematischer Bezüge, deren Anschlußstellen an Antisemitismus innerhalb der antirassistischen Linken zu wenig reflektiert werden, trifft die Behauptung der ANG, „Der Judenstaat Israel ist dem Antirassismus ein besonderes Übel“(23), in keiner Weise zu. Dies solle sich auch in der UNO-Antirassismus-Konferenz in Durban gezeigt haben, auf der anwesende NGOs antizionistische Inhalte in der Abschlusserklärung mitgetragen haben und im Gegensatz zu jüdischen Organisationen auch keinen demonstrativen Rückzug unternommen haben. Nun gibt es zwischen NGOs und AntirassistInnen zum Glück noch inhaltliche Unterschiede, daher ist ein Rückschluss vom Verhalten der einen auf die Position der anderen schlicht falsch. Vorzuwerfen ist AntirassistInnen jedoch, dass sie keine klare Gegenposition zu dem in Durban manifestierten Antisemitismus geäußert haben und wohl auch nicht hatten und sich nicht distanziert haben.

Antirassistische Gruppe Leipzig

Fußnoten
(1) „Die Terroranschläge vom 11. September und der bedingungslose Flankenschutz durch das linke Erklärungsmodell von der Weltgesellschaft als Streichelzoo“ vom 30.10.01, Klarofix Dezember
(2) Interim 290, 1994, S 12
(3) „Um es gleich vorwegzunehmen, [...] wir gehören weder zu links-liberalen noch zu kirchlichen Kreisen, sondern arbeiten und bewegen uns innerhalb der autonomen ‘Szene’ unserer Stadt und in der Region.“ (Interim 290/1994, S. 12)
(4) telegraph 100/2000
(5) Dem widerspricht keinesfalls, dass andere Angebote auf erbitterten behördlichen Widerstand stoßen können.
(6) telegraph 100/2000, S. 19: „So erfolgende Beratung bezweckt den Aufenthalt für Flüchtlinge und setzt sich somit konträr zur herrschenden Flüchtlingspolitik.“
(7) Allein schon aus Verantwortung Flüchtlingen gegenüber: So ist Beratung einer linken Gruppe über Asylrecht ohne ausreichende Kenntnis juristischer Details und Neuerungen für AsylbewerberInnen unter Umständen schlechter als gar keine oder eine von anderer Stelle.
(8) Interim 290/94, S. 12
(9) „der linke Antirassismus [...] als Erbe des Antiimperialismus[...]“ (Veranstaltungsankündigung der ANG, Klarofix Dezember)
(10) Ein Beispiel ist das Antirassismus-Büro Bremen (welches sich in dem Papier „Antirassismus 2000“ kritisch mit diesen Kontinuitäten auseinander gesetzt hat), oder auch die Flüchtlingskampagne der RZ 1986-89. Inhaltliche Kontinuitäten sind positive Bezüge auf Befreiungsbewegungen oder die Beschäftigung mit Fluchtursachen in den Herkunftsländern.
(11) telegraph 100, S. 20
(12) „Unterstützung der Selbstorganisation von Flüchtlingen“, telegraph 100
(13) Veranstaltungsankündigung der ANG
(14) Dies geschieht z.B., wenn von afghanischen Flüchtlingen die Rede ist und damit die Herkunft als bestimmendes und unveränderliches Element reroduziert wird, oder indem von „Fluchtursachen in der Heimat des Flüchtlings“ gesprochen und dadurch ein positiver Bezug auf das Konstrukt „Heimat“ als reale Kategorie vorgenommen wird.
(15) Nur zum Vergleich das Konstrukt Geschlecht: die Wirkungsmächtigkeit patriarchaler Unterdrückung ist nicht deswegen aufgehoben, dass Geschlechter dekonstruiert werden und gefolgert wird, „Wenn es keine Geschlechter gibt, hat Sexismus keine Grundlage, und deswegen kann sich bei uns doch jede Frau genauso einbringen wie ein Mann“. Ohne einen Umgang mit dem bestehenden Sexismus und Instrumentarien wie RednerInnenliste und Quotierung in politischen Gruppen wird sich an der sexistischen Aufteilung nichts ändern. Natürlich darf es bei strukturellen Maßnahmen nicht stehenbleiben. Praxis und Theorie wirken aufeinander ein.
(16) alles Zitate aus der Veranstaltungsankündigung der ANG
(17) Exemplarisch die Kritik am „Leistungsrassismus“, die zumindest teilweise auch eine antikapitalistische Kritik beinhaltet
(18) Als Beispiel für die Spezifik sei nur genannt, dass Rassismus von der Minderwertigkeit der diskriminierten „Rassen“ oder Kulturen ausgeht und Antisemiten die JüdInnen als überlegene und deswegen gefährliche „Rasse“ ansehen
(19) telegraph 2/99: „[...] müssen sie [PalästinenserInnen] darunter leiden, daß die betreffenden Staaten [Syrien, Libanon, andere arabische Staaten] die ‘Flüchtlingsfrage’ als Druckmittel gegen Israel benutzen, sie also als bloße Verhandlungsmasse dienen.“
(20) siehe Artikel im telegraph 2/99: „Endlich Frieden in Palästina... oder: merkwürdige Verwandlungen durch Verhandlungen“
(21) Hauptsächlich aus diesem Grund und aus Unwissenheit würde angeblich die Shoah im arabischen Raum geleugnet (siehe dazu Klarofix 1/2001, S. 47).
(22) Israel liegt auf heiligem islamischen Boden, und aus diesem Grund wäre die Existenz Israels nicht akzeptabel. Auch rassische Vorstellungen spielten angeblich keine Rolle.
(23) Veranstaltungsankündigung der ANG


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09.11.2003
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