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Inhaltsverzeichnis Inhalt Karl Heinz Roth: Auf dem Glatteis Aufwärts

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3. Neoliberalismus und politische Macht

Im Gegensatz zu den Wirtschafts- und Finanzeliten sind die politischen Führungsschichten dort, wo sie wirkliche Macht ausüben, nur national und nur in marginalen Ansätzen supranational organisiert. Die gesamtgesellschaftlichen Regulierungs- und Umverteilungsfunktionen sind oder waren im Gegensatz zur Kapitalakkumulation an den Staat gebunden. Sie aber kommen den politischen Eliten zunehmend abhanden. Ihre Macht verfällt, je mehr sie zu subalternen Verwaltern von Staubecken für die Geld- und Kapitalströme degenerieren. Oberflächlich kommt dieser Prozeß in den vielfältigen Korruptionsaffären zum Ausdruck, mit denen sich die politischen Herrschaftsgrenzträger inzwischen herumschlagen müssen.

Was sich aber wirklich hinter »tangentopoli« usw. verbirgt, ist weitaus wichtiger. Unter dem Diktat von flexibilisierten Währungen, Zinsregimes und allgemeiner Bereicherungssucht sind politische Ideologien zusammengebrochen, deren Bandbreite von der Rechten bis tief in die sozialistischen und grünen Bewegungen hineinreicht. Diese Anpassung und Unterwerfung haben nicht nur den späten europäischen Arbeiterreformismus, sondern auch große Teile der linken Intelligenz, beispielsweise in Lateinamerika, betroffen und von innen heraus zerstört. In vielen Fällen sind »sidepayments« der neoliberalen Weltwirtschaftsinstitutionen auf den Mythos der Guerilla gefolgt. In den Metropolen entspricht diesem Prozeß am ehesten die Involution [Einwicklung] der grünen Bewegungen, die nun vor den internationalen Sachzwängen der Deregulierung genauso kapitulieren wie vor ihnen die Sozialdemokratie und die mit ihr verbündete Gewerkschaftsbewegung.

Besonders grausam ist es den osteuropäischen Oppositionsbewegungen ergangen. Seit Ende der sechziger Jahre haben wir beispielsweise viele Hoffnungen auf die Kader der späteren Solidarnosc gesetzt - Kuron, Geremeck, Modzelewski. Wir haben von der Arbeiteropposition als Massenbewegung gegen den versteinerten Tonnenindustrialismus geträumt. Wir haben gesehen, wie diese Perspektive im Ausnahmezustand zu isolierten antikommunistischen Kadern transformiert wurde, wie sich diese überlebenden Kader 1989/90 umstandslos und ohne jedes Nachdenken dem »dernier cri« des Neoliberalismus und dessen Beratern verschrieben haben. Das Fiasko der thatcheristischen Transformation vom Staatskapitalismus zur Utopie selbstregulierter Märkte ist riesig. Solidarnosc ist als populistische Randszene der neokonservativen Rechten geendet. Karol Modzelewski hat inzwischen Bilanz gezogen (»Le monde diplomatique«, November 1994). Er gehört zusammen mit der alten intellektuellen Riege von Solidarnosc heute zu denen, die die präsidialdiktatorische Fortsetzung einer Wirtschaftspolitik bekämpfen, die die Hälfte der Bevölkerung pauperisiert. Die Niederlagen meiner Generation der »new left« - auch diese Solidarnosc-Kader sind in unserem Alter - haben viele Facetten.

All diese Beispiele, vor allem aber Italien und Polen zeigen, daß der deregulierte Kapitalismus im Kampf um das rettende Ufer nicht einfach nur auf eine immer größere ökonomische Depressionsspirale zutreibt, sondern inzwischen auch politisch extrem destruktiv wird. Der Massenkonsens schwindet. Die Fassaden der Telekratie bröckeln, sobald die »common people« am eigenen Leib erfahren, wie hinterhältig sie um ihre existentiellen Sicherheiten gebracht werden. Die Revolution der Erwartungen ist durch diese neue kulturelle Hegemonie des »enrichissez-vous« aber keineswegs gedämpft worden. Die politische Destabilisierung der Verhältnisse ist die notwendige Konsequenz des Neoliberalismus. Das Band zwischen sozialstaatlichem Status quo und repräsentativ-parlamentarischer Massendemokratie beginnt tatsächlich zu reißen. Autoritäre politische Lösungen werden zu einer zwingenden Option der Wirtschafts- und Finanzeliten, ihrer Expertokratie und ihrer wachsenden Klientel von Spekulanten, Unternehmensrationalisierern und Couponschneidern. Entwicklungen zu mehr als nur formierten Demokratien müssen wir gerade auch dann ins Auge fassen, wenn wir davon ausgehen, daß die ethnisch nationalistischen Anbiederungen einiger ost- und südosteuropäischer postsozialistischer Eliten an die internationalen Finanzmärkte in ihrer Resonanz wohl eher marginal geblieben sind. Es wäre jedoch falsch, vorschnell eine Wiederholung des Umschlags von der Deflationspolitik zur faschistischen Arbeitsschlacht mit rüstungsparasitärer Nachfragemobilisierung anzunehmen, wie sie in Mittel- und Südeuropa die frühen dreißiger Jahre geprägt hat. Ich glaube, es kommt etwas ganz anderes als das, was wir unter dem Faschismus analysiert haben. Das macht die Faschismusanalyse aber keineswegs überflüssig. Im Gegenteil: Die Herausarbeitung der Unterschiede wird uns helfen, politische Alternativen zu finden.



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