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Inhaltsverzeichnis Inhalt Karl Heinz Roth: Auf dem Glatteis Aufwärts

Voherige Seite 1. Zur Theorie des gegenwärtigen Zeitalters 3. Neoliberalismus und politische Macht Nächste Seite

2. Metropolitane Varianten des neuen Akkumulations- und Deregulierungsmodells

In Italien folgte seit Beginn der Niederschlagung der Arbeiterkämpfe in den achtziger Jahren ein wirtschaftspolitisches Regime, das in vielem den Konzepten der Reaganomics und Thatcheristen verwandt war, allerdings unter »sozialistischen« Vorzeichen. Dabei entstand eine Polarisierung der Gesellschaft in zwei Machtblöcke: Big Business, die großen Gewerkschaften, die politischen Machtstrukturen und die Staatsunternehmen auf der einen Seite, neoliberale Unternehmensstrukturen und Strukturen prekärer und selbständiger Arbeitsverhältnisse, die aus dem Regulationssystem zunehmend ausgegrenzt wurden, auf der anderen Seite. Die nach wie vor dominante Variante A, die eine durchaus verlangsamte Transformation kennzeichnete, schien zu zerbrechen, als seit 1992 Übergangsregimes an die Kernbestände des sozialen Nachkriegskompromisses - Scala Mobile, Cassa Integrazione [automat. Teuerungsausgleich über eine gleitende Lohnskala und umfassende Lohnausgleichskasse] usw. - herangingen und die Eliten als korrupte Machtsymbiose decouvriert wurden. Hier begann vor wenigen Monaten die Ära Berlusconi. Er band die politisch-ökonomische Variante B - prekäre, selbständige Arbeiter und Kleinunternehmer der Lega Nord - in den politischen Machtblock ein und versuchte, neue autoritäre mediale Voraussetzungen für die erst noch bevorstehende, entscheidende Deregulierungsoffensive (Deregulierung des Staatssektors, Zerstörung der Sozialrenten, völlige Liberalisierung des Arbeitsmarktes, Budgetrestriktionen) zu schaffen. Bevor er damit durch war, zwang ihn das Finanzkapital vorfristig zu diesem Angriff. Das war, wie die neu aufgeflammten Massenkämpfe zeigen, zu früh. Die Wiederherstellung des sozialen Friedens als Gradmesser jeder effizienten Aufspaltung des Widerstands und als Vorbedingung der endgültigen Durchsetzung des Deregulierungsmodells wird jetzt nur noch gelingen, wenn der ökonomisch verschlankte Staat ihn politisch-diktatorisch erzwingt. Andernfalls muß die Sozialrevolte in einer neuen Reregulierung aufgefangen werden.

Dagegen Deutschland. Die Umstrukturierung erfolgte eher zögerlich. Ein Durchbruch zu schlanker Produktion, Produktionsauslagerung und schlankem Staat setzte erst ab 1990/91 ein, wobei sich der Anschluß der DDR im Zug schlagartiger monetärer Substanzvernichtung als entscheidender Hebel erwies. Seither ist der sozialstaatliche Nachkriegskompromiß nicht nur konzeptionell, sondern auch praktisch-politisch erfahrbar zu Ende. In den letzten Jahren begann nicht nur eine breite Privatisierungswelle der öffentlichen Unternehmen im Transportsektor, gleichzeitig wurden auch die Tarifautonomie offen zur Disposition gestellt und die Sozialversicherung als Instrumentarium zur Abfederung der Risiken eigentumslos lohnabhängiger Existenzweisen in vielen kleinen Einzelschritten ausgehöhlt (vor allem die Bereiche Arbeitslosenversicherung und Krankenversicherung, noch nicht das Rentensystem). Das Recht auf Sozialhilfe ohne Gegenleistung ist beseitigt. In Riesenschritten beginnt auch in der BRD der Übergang von Welfare zu Workfare. Damit ging 1992/93 die erste Ausgrenzungsoperation als Angriff auf das Existenzrecht einher: Zwangsinternierung von Flüchtlingen und radikalisierte Abschiebepraxis wurden durchgesetzt.

Nach der Bundestagswahl vom 16. Oktober haben die Financiers und Unternehmenslobbyisten ganz große Keulen geschwungen. Die Drohungen mit Vermögens- und Kapitalflucht gehen einher mit Forderungen zu einem Sozialabbau, wie sie seit Beginn der dreißiger Jahre nicht mehr gehört wurden. Falls sie durchgesetzt werden, was durchaus noch offen ist, würde die bundesrepublikanische Gesellschaft in einen Strukturbruch hineingetrieben, wie wir ihn bisher nur aus England, den USA und teilweise Frankreich kennen.

Der Fall Schweiz. Sie scheint mir, aus dem Blickwinkel des Nordens, noch eindeutiger als Nachzügler. Auch die Schweiz hat in den achtziger Jahren Produktivitätssprünge durch Auslagerungen, Rationalisierungswellen und Verschlankung des sozialen Status quo hinter sich gebracht. Der Schwerpunkt liegt inzwischen offensichtlich ebenfalls auf angebotsorientierten Deregulierungen. In einigen Agglomerationen erreicht die Arbeitslosigkeit das Niveau der dreißiger Jahre. Das alternative Grundmuster zur sozialstaatlichen Integration heißt jetzt offensichtlich auch in der Schweiz Ab- und Ausgrenzung. Die ersten sozialen Stigmatisierungen der Ausländerinnen und Ausländer stehen bevor, wahrscheinlich der erste Akt eines breiteren Angriffs auf den sozialstaatlichen Status quo, der die Lohnabhängigen verängstigt. Aber gerade auch im Vergleich zur BRD verläuft der Umbau offensichtlich weniger hart und schnell. Dies liegt, wie Res Strehle mehrfach ausgeführt hat, vor allem an der weltwirtschaftlichen Sondersituation. Die Schweiz ist internationaler Finanzplatz, Zentrum vieler transnational operierender Konzerne und ein Standort für Qualitätsarbeit. Wenn, dann wird sie in die neue soziale Unfriedlichkeit erst nach Italien, Frankreich und wahrscheinlich auch Deutschland geraten. Die Schweiz ist eine Art letzter Dominostein, an dem sich ablesen lassen wird, inwieweit es den Utopisten des neoliberalen Irrsinns tatsächlich gelingt, den Globus nach ihren Visionen umzugestalten. Vielleicht besteht also gerade hier noch die Möglichkeit, die Erfahrungen aus den schon weiter transformierten Nachbarländern in die Widerstandsperspektive dieses Landes einzubeziehen. Aber auch für die Linken der Schweiz dürfte die Zeit drängen. Die weitere Deregulierung der Finanzmärkte wird den globalen Standort Schweiz bald um seine Privilegien bringen, und dann steht recht schnell eine Massenarbeitslosigkeit der Bankangestellten ins Haus.



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