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4. Neue Proletarität

Auffächerung in der Homogenisierung oder Homogenisierung in der Auffächerung?

In globaler Perspektive öffnen sich die Klassenverhältnisse. Wenn die analytischen Voraussetzungen zutreffen, dann lassen sich für den proletarisierten und pauperisierten Teil des neuen Panoramas von Klassengesellschaft unzweideutige Homogenisierungsprozesse ausmachen. Ich spreche erstens von einer strukturellen Homogenisierung. Bedingt durch eine weltweite Freisetzung von relativer Übervölkerung [nicht beschäftigte Teile des Proletariats, vgl. Karl Marx, Kapital, MEW 23, S. 657] entstehen strukturell gleiche Wechselbeziehungen von industrieller Reservearmee, aktiver Arbeiter- und Arbeiterinnenarmee und Unterbeschäftigten. Ich spreche zweitens von einer ökonomischen Homogenisierung. Tendenziell werden überall gleichartige Neuzusammensetzungsstrukturen sichtbar: moderne Gruppenarbeiter, prekäre Schwitzbudenproletarier und Proletarierinnen, self-employed des informellen Sektors. Sie alle werden arbeitsteilig in die reorganisierten Ausbeutungsketten hineingezwungen. Und drittens behaupte ich, daß wir eine Tendenz zur geografischen Homogenisierung zu beobachten haben. Dem transnationalisierten Kapital stehen auf allen Stufen der Mehrwertkette die erforderlichen Arbeitskräftepotentiale tendenziell weltweit, standortunabhängig zur Verfügung. Swissair kann eben Computerzentralen inzwischen nach Indien auslagern.

Das alles kann natürlich, je nach Entwicklungsstadien, mit ungeheuer verschärften Einkommensdifferenzierungen unterschiedlichsten Ausmaßes von Prekarisierung, Ausgrenzung, Ghettoisierung und Überlebenschancen einhergehen. Aber das alles ist zunächst einmal nur von quantitativer Bedeutung.

Ich gebe zu, daß diese analytische Dimension völlig anders wahrzunehmen ist, wenn wir einen lokalen Blickwinkel einnehmen, wenn wir den jeweiligen Bezugspunkt an der bestimmten, definierten Ausbeutungskette als Ausgangspunkt formulieren und vor allem natürlich im aktuellen politischen Tageskampf. Die Zerklüftung des neuen Proletariats schreitet voran in eine generationen- und geschlechtshierarchische Neuzusammensetzung. Die wichtigsten Faktoren der Auffächerung - Kinderarbeit und Frauenteilzeitarbeit - werden als Durchbruchspunkte der prekären Arbeitsverhältnisse überhaupt sichtbar. Frauen sind am stärksten betroffen. Sie haben oft nur als prekäre Arbeiterinnen die Möglichkeit, unbezahlte Reproduktionsarbeit zu finanzieren. Zusätzlich nehmen völlig unsichtbare, weil nicht mehr oder nicht entlohnte Arbeitsformen zu. Ein Beispiel ist die Katastrophe der Frauen in der Ex-DDR, die in die unbezahlte Hausarbeit zurückgetrieben werden.

Als weiteren Fächer der Ausdifferenzierung erleben wir eine Ausweitung unfreier Arbeitsverhältnisse: »Forced commerce« [erzwungener Handel], Arbeitsleistung für Mieten, Arbeitsleistung für Pachtschulden, eine zunehmende »decommodification« der Arbeitsmärkte, obwohl sie voll in den Wertschöpfungsprozeß mit unbezahlten Arbeitsanteilen integriert bleiben. Wir erleben eine Auffächerung in verdeckte Lohnbeziehungen der »Subcontractors« [Zulieferer], Werkvertragsarbeiterinnen und -arbeiter, der selbständigen ArbeiterInnen. Diese Differenzierungen werden konzernintern reproduziert. Und wir erleben - vielleicht die dramatischste Form der Auffächerung - Ausgrenzungen bis zur völligen Beseitigung des Existenzrechts bei den Flüchtlingen.

Diese beiden Momente - Homogenisierung und Differenzierung - müssen wir gegeneinander stellen. Unabhängig von der Frage, wie in der Beziehung Homogenisierung und Differenzierung tendenziell überwiegende Momente zu finden sind, gibt es aber eine Möglichkeit der Synopse beider Beziehungen, und das selbst in solchen metropolitanen Reservaten, in denen sich erstens Krisengewinnler und Aufsteiger, zweitens flexibilisierte und abstiegsbedrohte Arbeiterinnen und Arbeiter sowie drittens prekarisierte und ausgegrenzte Drittel in etwa die Waage halten. Homogenisierung heißt auch »making«, Solidarisierung, gegenseitige Hilfe, Assoziation. Differenzierung heißt »unmaking«, Entsolidarisierung, Entassoziation, Individualisierung. Ich glaube, es sind beides untrennbare Teile des heutigen Sozialprozesses in der globalen Krise.

Das »unmaking« geschieht nicht von selbst, sondern durch systematische Deformation der Fähigkeiten zur Wahrnehmung der realen Grundlagen postfordistischer Ellbogenideologie: Telekratie als politische Artikulation verdoppelter und zugleich deformierter Wirklichkeitswahrnehmung. Die Auffächerung der neuen Klassenverhältnisse wird letztlich erst durch die kulturelle Hegemonie des neoliberalen Regimes befestigt, das sich gleichzeitig mit den individualisierten und flexibilisierten Arbeitsverhältnissen auf die allgemeine Flucht aus der Arbeit einstellt.

Aber auch das »making« von unten kommt keineswegs automatisch. Es gibt keinen Automatismus, der von der Wahrnehmung der realen Lage zu kollektiven Verhaltensweisen - Solidarisierung usw. - führt. Wir sollten die Debatte über Homogenisierung und Auffächerung mit einem Verweis auf den großen britischen Historiker E.P.Thompson versehen, der in seinem »Making of the english working class« dazu eine ganze Menge gesagt hat. Er wies nach, daß das »making«, die Homogenisierung eines außerordentlich differenzierten Proletariats, zwischen 1780 und 1830 ein breit angelegter Lernprozeß war, der im übrigen die Homogenisierungshoffnungen der nachfolgenden marxistischen Utopie, das große industrielle Fabrikarbeiterproletariat als Kern des Umsturzes, sozusagen ex ante (und aus der Sicht des Exkommunisten Thompson ex post) widerlegt hat.

Auch wir selbst sind Teil dieser Prozesse und müssen zuerst einmal davon ausgehen, daß wir uns zwar in der klassenanalytischen Annäherung nicht grundsätzlich irren sollten, wenn wir von sozialempirischen Evidenzen und Massenerfahrungen - Selbstuntersuchung auf breiter Ebene - ausgehen. Der reale Prozeß der kollektiven Neuzusammensetzung kann aber trotzdem ganz anders verlaufen, als wir ihn theoretisch vorwegnehmen. Zwischen gesellschaftspolitischer Analyse - militanter Untersuchung - und emanzipatorischem Handeln gibt es immer nur Annäherungen, die laufend der Korrektur durch die Massenerfahrung und die in sie eingebundene politische Praxis bedürfen. Wir sollten die Dialektik von Homogenisierung und Dissoziation des neuen Proletariats in dieser Sichtweise angehen und nicht voreilig beantworten.



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