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Berlin: 71. UND 72. Verhandlungstag im Weinrich Verfahren

Ein nachträglich unerreichbarer Zeuge mit "Erinnerungsinseln"

Der 71. Verhandlungstag im Weinrich-Prozeß


Der Vorsitzende eröffnete den heutigen Verhandlungstag mit der üblichen Nachfrage an die Prozessbeteiligten, ob Anträge o.ä. zu erwarten seien.
Weder die Verteidigung, noch die Nebenklagevertretung hatte jedoch Anträge vorbereitet, sodass der Kammervorsitzende mitteilte, dass die Kammer einige Beschlüsse und Mitteilungen vorbereitet hätte.

Wie in den vorangegangenen Verhandlungstagen, verkündete die Kammer diverse Ablehnungen von Anträgen der Verteidigung, die sich auf u.A. auf neue Übersetzungen der französischen Aktenteile bezogen.
Der Verteidigung war aufgefallen, dass es bei den Übersetzungen des angeblichen Vernehmungsberichtes aus Jordanien in den Übersetzungen zu Abweichungen der Seitenzahlen gekommen war.
Die Kammer verlas eine Mitteilung des Dr. Salem, der in seinem Schreiben versuchte, die Abweichungen zu erklären. Er habe bei seiner Übersetzung die Seiten "dem Sinne nach" neu geordnet, es bestehe aber dennoch Wortgleichheit zwischen den beiden aus Frankreich überlassenen Kopien des "Berichtes".

Der Antrag von RA. Tzschoppe einen Sachverständigen für Fotokopien zu laden, wurde von der Kammer mit dem Hinweis abgelehnt, dass sie, aufgrund der langjährigen Erfahrung, ausreichend eigenen Sachverstand habe, um aufklären zu können, ob an den Kopien manipuliert worden sei.

Ein weiterer Beschluss betraf die Verlesung von Zeugenaussagen von Geschädigten in Frankreich.
Die beiden Zeugen waren in Frankreich kommissarisch vernommen worden, da sie aus persönlichen Gründen die weite Reise nach Berlin nicht antreten konnten.
Die beiden Zeugenaussagen wurden verlesen. Es ergaben sich jedoch keine neuen Erkenntnisse, die zur Aufklärung der lange zurückliegenden Geschehnisse beitragen konnten.

Der dritte Beschluss betraf die Anträge der Verteidigung und der Nebenklage, die von ihnen eingereichten, umfangreichen Fragenkataloge durch den DST-Mitarbeiter Riou beantworten zu lassen.
Herr Riou konnte in der bisherigen Verhandlung von der Verteidigung und der Nebenklage nicht abschließend befragt werden und verweigert nunmehr ein weiteres Erscheinen in der Verhandlung.

Die Kammer lehnte die Anträge der Verteidigung und er Nebenklage mit der Begründung ab, dass der Zeuge "nachträglich unerreichbar sei".
Es hätte sich gezeigt, dass dieser Zeuge nicht mehr gewillt sei weitere Aussagen zu machen.
Nach Auffassung der Kammer sei auch keine weitere Sachaufklärung durch den Zeugen zu erwarten, er könne über einige wenige "Erinnerungsinseln" hinaus nichts weiter berichten, was nicht auch in seinem "Bericht" stehen würde.
Alle konnten sich über diesen Zeugen ein "ausreichendes Bild" machen und eine evtl. Vernehmung des Zeugen in Frankreich würde wahrscheinlich zu Anfechtungen durch die Verteidigung führen, da die französischen Behörden die am Verfahren in Berlin beteiligten in der Regel nicht darüber in Kenntnis setzen, wann, wo und durch wen die Vernehmung stattfindet und die Beteiligten so nicht an der Vernehmung teilnehmen könnten.

Es erging daraus folgend der Beschluss der Kammer, dass der "Bericht" des Zeugen im Selbstleseverfahren in die Verhandlung eingeführt wird.
Dem widersprach die Verteidigung nochmals, da an diesem Bericht und seinem Zustandekommen erhebliche Zweifel bestehen.

Nächster Verhandlungstag 19.5.04 Saal 700


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Ein Oberstaatsanwalt mit Verständnis für Folter

Der 72. Verhandlungstag im Weinrich-Verfahren


Die Kammer teilte zu Beginn des heutigen Verhandlungstages mit, sie habe nur "ein kleines Programm", die Verteidigung und die Nebenklage hatten jedoch umfangreiche Anträge vorbereitet.

Zuerst teilte der Kammervorsitzende mit, dass das Selbstleseverfahren der angeblichen Aussage des angeblichen Zeugen aus Jordanien Issawi abgeschlossen sei, die Schöffen und Richter hätten bestätigt, gelesen zu haben.
Danach verkündete die Kammer 2 weitere Beschlüsse.
Der Antrag von RA. Elfferding, den Zeugen Genthial noch einmal zu laden, wurde abgelehnt.
Der Zeuge sei trotz einer falschen Aussage für die Kammer glaubwürdig!
Auch der Antrag auf Beiziehung der Akten und Vernehmungsprotokolle die den Zeugen betreffen, wurde von der Kammer abgelehnt.

Der Antrag der Verteidigung, den Zeugen Molina zu laden wurde von der Kammer ebenfalls abgelehnt.
Der Zeuge hatte, nach den Akten, abweichende Angabe zur Farbe und zum Kennzeichen des Autos gemacht, das in der Rue Marbeuf als Tatfahrzeug identifiziert worden war.
Für die Kammer sei es k l a r, dass es sich bei dem Tatfahrzeug um das in Jugoslawien angemietete Fahrzeug gehandelt habe.

Nach Verkündung der Beschlüsse stellte RA. Ehrig für die Nebenklage den Antrag, den Zeugen Sanchez (Carlos) zu laden, da er bekunden werde, dass der Angeklagte Weinrich die Anschläge im Auftrag des syrischen Geheimdienstes ausgeführt habe.
RA. Ehrig erläuterte den Antrag eindringlich mit der Bemerkung, dass es für ihn nicht hinnehmbar sei, dass die Exekutive (Senatsverwaltung für Justiz) hier den Verlauf des Verfahrens in dieser Weise beeinflusst (s. 70. Verhandlungstag). Er wolle den Antrag auch als Unterstützung für die Kammer verstanden wissen um, trotz Weigerung der Exekutive, eine Aussage des Zeugen in Berlin doch noch zu erreichen. Es sei der Nebenklage auch unverständlich, warum sich die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung nicht deutlicher für die Aussage des Zeugen stark mache.
Staatsanwalt Mehlis nahm hierzu Stellung und bemerkte, dass der Zeuge "Carlos" sich durch seine Bedingung, nur in Berlin aussagen zu wollen, zum "Herren des Verfahrens" aufschwinge, was er nicht zulassen wolle. Ramirez Sanchez habe sich bisher geweigert auszusagen.
Für ihn sei der Zeuge "unerreichbar".
Dem widersprach RA. Ehrig entschieden mit der Bemerkung, Ramirez Sanchez schwinge sich keinesfalls zum Herren des Verfahrens auf und er wünsche sich die Unterstützung durch die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung, was Oberstaatsanwalt Mehlis zu der Bemerkung veranlasste, sein Einfluss auf die Senatsverwaltung für Justiz sei "mehr als gering"!
RA. Elfferding nahm ebenfalls zu dem Antrag Stellung und machte deutlich, dass die Erfahrung aus dem bisherigen Verfahrensverlauf zeige, dass die "Wünsche der Verteidigung" bisher kaum Beachtung gefunden hätten, ihn erstaune es allerdings auch, dass sich die Staatsanwaltschaft in diesem Fall so unbeteiligt zeige.

Nach diesem "Schlagabtausch" verlas RA. Tzschoppe eine Gegenvorstellung zur Ablehnung seines Antrags bzgl. der Ladung eines Gutachters für die Fotokopien.
Ein weiterer umfangreicher Antrag von RA. Tzschoppe befasste sich mit der Mitteilung des Dr. Salem, der habe die unterschiedlichen Exemplare der "Aussage" des Issawi sinngemäß neu geordnet und nummeriert.
In seinem Antrag wies RA. Tzschoppe darauf hin, dass diese Aussage des Dr. Salem fehlerhaft sei und der Zeuge zu laden sei, um die Ungereimtheiten in den verschiedenen vorliegenden Übersetzungen aufzuklären. Ebenfalls wurde beantragt, den Original-Bericht aus Frankreich anzufordern.

Oberstaatsanwalt Mehlis bemerkte zu diesem Antrag, er könne den Sinn des Antrages nicht verstehen?

Nach einer kleinen Unterbrechung stellte RA. Häusler 4 Anträge, die sich ausführlich mit dem Zustandekommen der angeblichen Issawi-Aussage befassten.

Es wurde im ersten Antrag beantragt, sämtliche Unterlagen beizuziehen, die die drei französischen Rechtshilfeersuchen an Jordanien bzgl. der angeblichen Aussage des Issawi
betreffen. Die Verteidigung wies in ihrem Antrag darauf hin, dass keinerlei Unterlagen in den Akten seien, die den Schluss zulassen, dass die offiziellen jordanischen Behörden an einem förmlichen Rechtshilfeersuchen beteiligt waren, was die Unverwertbarkeit der angeblichen Aussage bedeuten würde. RA. Häusler beantragte ebenfalls, den Generalstaatsanwalt beim Berufungsgericht in Paris, Herrn M. Garrec, in der Hauptverhandlung zu diesem Themenkomplex als Zeugen zu hören.

Der zweite Antrag befasste sich mit der Stellung des GID im jordanischen Königreich.
Die angebliche Vernehmung des Zeugen Issawi hatte nach den vorliegenden Unterlagen beim GID stattgefunden. Rechtsanwalt Häusler beantragte den Leiter des für Jordanien zuständigen Referats des Auswärtigen Amtes zu laden und als Zeugen zu hören.
Der Zeuge werde bekunden, dass die Stellung des GID im jordanischen Königreich faktisch seine Immunität bedeute, da die Mitarbeiter des Dienstes allein dem König unterstellt seien und keinen rechtsstaatlichen Regeln unterworfen seien, weshalb die angeblichen Aussagen in Frankreich auch nicht verwertbar seien.

Der dritte Antrag betraf die Ladung des Leiters des Referats Menschenrechte im Amt für Auswärtiges.
Der Zeuge werde bekunden, dass die Vereinigten Staaten von Amerika und Jordanien seit Jahren eine wechselseitige Kooperation bei der Anwendung von Folter unterhalten würden.
RA. Häusler ging anschließend ausführlich auf die angewendeten Methoden ein und führte aus, dass die Amerikaner, wenn sie bei ihren Vernehmungsmethoden nicht zum gewünschten Ergebnis kämen damit drohen würden, die Gefangenen zur weiteren Vernehmung an Jordanien auszuliefern, wo die gewünschten Aussagen aus ihnen "herausgeprügelt würden",
was auch tatsächlich geschehen würde.
Diese Verfahrensweisen würden beweisen, dass Jordanien ein Folterland sei und besonders im Falle von Terrorismusverdacht besonders hart vorgehen würde.
Der angebliche Zeuge Issawi stand unter diesem Verdacht, sodass die angebliche Aussage, sollte eine Vernehmung denn tatsächlich stattgefunden haben, dem Generalverdacht unterliege, unter Folter zustande gekommen zu sein und von daher nicht verwertbar sei.

In seinem vierten Antrag nahm RA. Häusler Bezug auf die aktuell aufgekommenen Foltervorwürfe gegen die USA im Irak und beantragte den US-amerikanischen Islamwissenschaftler Bernard Haykel zu laden.
Der Wissenschaftler werde in einer Analyse des arabischen Selbstverständnisses und Kulturempfindens bekunden, welche Tabuverletzungen in einem "Folterprogramm" angewendet werden um den gewünschten Grad der Erniedrigung, Unterwerfung und Identitätsverletzung zu erreichen.
Die Entwicklung eines solchen "Programms" sei ohne die Mitwirkung einzelner arabischer Geheimdienste nicht möglich gewesen und insbesondere der jordanische GID sei nach seinen Recherchen maßgeblich an der Entwicklung des "Folterprogramms" beteiligt gewesen.
Die Aussage werde beweisen, dass Jordanien nicht nur auf dem Gebiet der physischen, sondern auch auf dem Gebiet der psychischen Folter große Erfahrung habe und dass die Aussage des DST- Mitarbeiters Riou, " er habe keine Schreie gehört", auch vor diesem Hintergrund, besonders zynisch sei.


Die Anträge von Rechtsanwalt Häusler veranlassten Oberstaatsanwalt Mehlis zu der Stellungnahme, er könne den Zusammenhang der Anträge zu diesem Verfahren nicht erkennen und er hätte erwartet, dass die Verteidigung in Betracht gezogen hätte, dass schließlich in New York 4000 Menschen aus den Fenstern gesprungen, in Madrid hunderte Menschen gestorben und in der Rue Marbeuf eine junge Frau gestorben sei.

Diese Äußerung des Oberstaatsanwaltes hatte scharfe Reaktionen der Verteidigung zur Folge.
RA. Häusler entgegnete, dass er erwartet hätte, dass sich die Staatsanwaltschaft weiterhin auf dem Boden der Rechtsstaatlichkeit hätte bewegen wollen und dass die Stellungnahme des Oberstaatsanwalts Mehlis empörend sei.
RA. Elfferding sprach dem Oberstaatsanwalt jede ethische Kategorie ab und bemerkte, er habe Herrn Mehlis offensichtlich bisher überschätzt. Der Oberstaatsanwalt stelle sich durch seine Bemerkung an die Seite von Verbrechern.


Nächster Verhandlungstag: 1.6.2004 um 9,30 Uhr in Saal 701

 

24.05.2004
anonym zugesandt   [Aktuelles zum Thema: Repression]  [Schwerpunkt: Weinrich-Prozess]  Zurück zur Übersicht

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