nadir start
 
initiativ periodika archiv adressbuch kampagnen aktuell

Berlin: Weinrich-Prozess: 42. Verhandlungstag

Operativer Vorgang "C 79"

42. Verhandlungstag im Weinrich-Prozeß

Ursprünglich war für den heutigen Verhandlungstag lediglich die Verlesung von Vernehmungen ehemaliger ungarischer Geheimdienstler vorgesehen. Die Verteidigung hatte jedoch im Nachklang zum letzten Verhandlungstag noch Einiges zu beantragen.

Staatsanwalt Mehlis hatte während des letzten Verhandlungstages im Zusammenhang mit der Vernehmung Rious von der Verteidigung gefordert, sie möge ihm doch bitte einmal eine Liste folternder Staaten liefern, auf der Jordanien verzeichnet sei und Namen von in Jordanien gefolterten Gefangenen nennen.

Diese Anregung aufgreifend, machte die Verteidigung eine zweitägige intensive Recherche zum Inhalt eines Antrages. Darin wurde festgestellt, daß sowohl in Berichten von US-Medien - hier speziell die "Washington Post" - als auch in diversen US-Menschenrechtsberichten und Berichten des US-State Departments insgesamt 12 Staaten aufgeführt sind, in die US-Behörden Gefangene verschicken, um sie dort foltern zu lassen. Unter diesen Staaten ist Jordanien als einer der brutalsten Folterstaaten aufgelistet. RA Elfferding zitierte einen CIA-Mitarbeiter, welcher der "Washington Post" in diesem Zusammenhang gesagt hatte: "Wir treten nicht die Scheiße aus ihnen heraus. Wir schicken sie in andere Länder, die können dann die Scheiße aus ihnen heraustreten." Dabei sei es gängige Praxis, den Behörden der Folterstaaten einen Fragenkatalog zu übermitteln, der dann von Spezialisten "abgefragt" werde.

Neben Berichten von amnesty international, die belegen, daß Gefangene des jordanischen GID systematisch von der Außenwelt isoliert und gefoltert wurden, seien dies Belege dafür, daß der "Phantomzeuge" Issawi wahrscheinlich ebenfalls gefoltert wurde.

Es wurde beantragt, Lorne Craner vom US State Department, Bob Woodward (bekannt geworden durch die Aufdeckung des sog. Watergate-Skandals), Peter Finn und weitere Journalisten der "Washington Post", sowie Erich Schmidt-Eenboom als deutschen Geheimdienst-Experten und Peter Franck von amnesty international zu laden, die oben Beschriebenes bezeugen könnten.

In einem zweiten Antrag ersuchte die Verteidigung um die Beiziehung und Übersetzung französischer Aktenteile, die eine Aussage eines wichtigen Zeugen zum Tatkomplex Rue Marbeuf enthalten. Weiterhin wurde beantragt, Untersuchungsrichter Brugui=E8re als Zeuge zu laden, der Auskunft darüber geben solle, warum es ihm angeblich nicht möglich war, eben jenen Zeugen für eine Gegenüberstellung mit Christa Fröhlich aufzufinden, während die Verteidigung Name und Anschrift nach einer fünfminütigen Internet-Recherche herausbekam.

Staatsanwalt Mehlis hatte zu den Anträgen nichts zu sagen.

So ließ der Vorsitzende die Anträge zu Protokoll nehmen und begann mit der Verlesung der "ungarischen Protokolle".

Zwischen 1979 - C(arlos) 79 - und 1985 hatten sich Mitglieder der "Organisation Internationaler Revolutionäre" (sog. Carlos-Gruppe) zeitweise auch in Budapest aufgehalten. Dort wurden sie von Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes "betreut". Drei dieser ehemaligen Mitarbeiter sind 1998 in Budapest im Beisein deutscher Ermittler von einem ungarischen Staatsanwalt vernommen worden.

Persönliche Daten der Zeugen Varga, Szabo und Szecsi, wie Geburtstag, Geburtsort, Wohnsitz u. ä. blieben vor den deutschen Beamten "geschützt", also geheim.

Alle drei hatten 1979 der Spionageabwehr angehört, da die Ungarn zu jener Zeit noch keine "Terror-Abwehr" hatten. Eine solche Abteilung entstand erst im Laufe der Jahre. "Wir waren für so etwas vollkommen unausgebildete Leute", wie Szecsi zu Protokoll gab. Sein Ex-Kollege Varga gab an, die ungarischen Dienste wären 1979 erst nach einer Mitteilung eines westdeutschen Geheimdienstes bzw. des MfS auf die Anwesenheit von Mitgliedern der Carlos-Gruppe in Ungarn aufmerksam geworden. Nach ihren Erkenntnissen haben sich Carlos (Sanchez), Steve (Weinrich, Lilly (Kopp) und Heidi (Fröhlich) öfters in Budapest aufgehalten. Die Gruppe wurde observiert und abgehört, Materialien und Notizen der Gruppe wurde bei heimlichen Durchsuchungen abfotografiert. Bestimmte Teile des Materials seien bei regelmäßigen Treffen dem MfS der DDR übergeben worden. Ziel der Politik der Ungarn sei es gewesen, "die Gruppe ohne Konfrontation aus dem Land zu drängen". Dies sei zunächst nicht sehr erfolgreich gewesen. So habe man Gruppenmitglieder beispielsweise offen mit Fahrzeugen überwacht, die italienische oder westdeutschen Kennzeichen trugen, um den Eindruck zu erwecken, den Gruppenmitgliedern seien westliche Geheimdienste auf der Spur. Carlos habe jedoch auf diese geschossen, deshalb seien solche Aktionen eingestellt worden. (Anm.: Erst 1982 gelang es dem ungarischen Dienst, die Gruppe mittels eines gefälschten Interpol-Schreibens zu vertreiben, danach reisten Gruppenmitglieder nur noch sporadisch nach Ungarn).

Carlos galt als "laut und streitsüchtig", während Steve aufgrund seiner "präzisen und akribischen Arbeitsweise als Planer und Organisator" den Beinamen "Ingenieur" erhielt.

Aufgrund der bei den heimlichen Durchsuchungen gefundenen Materials habe man im Nachhinein "schlußfolgern" können, für welche Anschläge die Gruppe verantwortlich sei. Die Zeugen nannten den Anschlag in der Rue Marbeuf, den Anschlag auf den TGV "Le Capitol", sowie den Anschlag auf "Radio Free Europe" (RFE) 1981 in München. Lediglich bei dem Attentat auf RFE habe man vorher Tatortskizzen gefunden, die auf das Objekt als Ziel deuteten. Diese Informationen seine den Kollegen vom KGB übergeben worden. Leonid Breschnjew habe diese Informationen bei einem Staatsbesuch in Frankreich an die dortigen Behörden weitergegeben. Die UdSSR wollte dies seinerzeit als ein Zeichen zur Verbesserung der Beziehungen zu Frankreich verstanden wissen. Man sei davon ausgegangen, daß die Franzosen diese Informationen nach Deutschland weiterreichen.

Es sei sehr schwierig für den ungarischen Dienst gewesen, Genaues zur Gruppe zu ermitteln, denn die Gruppenmitglieder hätten sich sehr konspirativ verhalten, Schriftstücke seien konspirativ mit Kürzeln abgefaßt worden und Weinrichs Handschrift sei teils unleserlich gewesen. Eine weitere Schwierigkeit bestand darin, die in verschiedenen Sprachen erstellten Schriftstücke korrekt zu übersetzen, deshalb blieben Schlußfolgerungen mitunter relativ. Alle drei Zeugen betonten zudem, daß sie sich nach so langer Zeit nur partiell erinnern könnten.

Die Gruppenmitglieder hätten bei Treffen nie über irgendwelche Anschläge gesprochen und den Ungarn sei von ihren Vorgesetzten explizit verboten worden, von sich aus dieses Thema anzuschneiden. "Auch wenn sie über Aktionen hätten berichten wollen, hätten wir sie nicht angehört", so Varga. Über Details von Attentaten oder Ausführende hätte es bei den Ungarn keine Erkenntnisse gegeben. Lediglich beim Anschlag auf RFE hätten sie durch das Abhören von Telefonaten Al Sibai und Christa Fröhlich als Täter ermitteln können. Zusätzlich hätte Carlos am Tag des Anschlags Szecsi gegenüber verkündet: "Heute werden wir sie ordentlich schlagen!".

Nach ungarischen Erkenntnissen habe die Carlos Gruppe mit den Roten Brigaden, der RAF, der IRA sowie der ETA zusammengearbeitet.

Nachdem die Gruppe 1982 Budapest als Unterschlupf verlassen habe, sei in der Wohnung eine Kiste mit Panzerfäusten, Maschinenpistolen und Sprengstoff beschlagnahmt worden.

Nächster Termin: 17.11., 9.30 Uhr, Turmstr. 91, Saal 500

 

12.11.2003
anonym zugesandt   [Aktuelles zum Thema: Repression]  [Schwerpunkt: Weinrich-Prozess]  Zurück zur Übersicht

Zurück zur Übersicht