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Berlin: 88. Prozesstag | 100 Gramm Dynamit im Böcklerpark verschollen!

100 Gramm Dynamit im Böcklerpark verschollen!

Der erste Prozesstag nach der Sommerpause führte zahlreiche braungebrannte Prozessbeteiligte, hingegen kaum
ZuschauerInnen in denSitzungssaal des Kammergerichts. Wer noch in Urlaubsträumen schwelgte erwachte spätestens
jetzt unsanft im Prozessalltag, der bis Ende Januar 2003 bereits vorgeplant ist.

Strapazierte Beamtenhirne

Der erste Zeuge des Tages, ein 57-jähriger Kriminalbeamter, war geladen worden, um Licht in das Verschwinden
zweier Fotomappen zu bringen, die für das Verfahren von Bedeutung sind. Es wird sich nicht klären lassen, ob der
Beamte seine Rolle als tumber Stubenhocker nur gut eingeübt hatte oder aber wirklich....: Er habe die beiden mit
"Männer" und "Frauen" beschrifteten DIN-A5-Ordner wohl Mitte 2001 im Zuge von Aufräumarbeiten in seinem Büro
durch den Papierschredder geschoben. "Ich war davonausgegangen, dass die nichts mehr zu bedeuten haben", sagte
er. Die Befragung durch die VerteidigerInnen brachte jedoch zutage, dass es schon ein ziemlicher Zufall sei, dass der
Beamte die Mappen kurz vor einem Anruf der Vorsitzenden Richterin zum laufenden RZ-Verfahren und 5 Jahren
nachdem er in das besagte Büro zum bereits vernommenen Beamten Bredlow gezogen war sowie zwei Jahre nach
dessen Ausscheiden aus dem Dienst, beseitigen zu müssen glaubte. Zumal er von dem RZ-Verfahren nicht nur gewußt,
einzelne Hinweise Ende der 80-er Jahre sogar selbst bearbeitet hatte und sogar die Namen Sabine Eckle und Rudolf
Schindler auf den den Mappen beigefügten Namenslisten gelesen haben will. Wann er sich noch mal mit dem
Ex-Kollegen Bredlow getroffen oder mit ihm telefoniert habe und in welchemZusammenhang das mit dem Anruf der
Vorsitzenden und Bredlows Zeugenaussage stehe, konnte der Zeuge nicht sagen: "Sie stapazieren mein Gehirn ganz
schön", erwiderte er auf die Befragung. Auffällig war dennoch, dass solcheAktenvernichtungsaktionen nicht allzu oft
vorkommen, genauer mit des Zeugen Worten gesagt: "Dies eine Mal." Dass es sich hier um einen "komischen Zufall"
gehandelt habe, dass er so "plötzlich und überraschend" gerade zum Zeitpunkt des laufenden Verfahrens ausgerechnet
die verfahrensrelevanten Originallichtbildmappen geschreddert habe, bemerkteRechtsanwältin Studzinsky spitz.

Explosionsgefahr in Berliner Parks

Auch die Geschichte des zweiten Zeugen des Tages war geeignet, eine im Hintergrund der Verfahren laufende
Verschleierungstaktik übergeordneterBehörden vermuten zu lassen: Der im Jahre 1995 ermittelnde Kriminalbeamte
Bernd K., heute 55-jährig frühverrentet, war mit dem Fund von 4,8 Kilo Sprengstoff befasst. Ein Jüngling war von
seinem Onkel wegen des Besitzes des Sprengstoffes angezeigt worden, nachdem er in dessen Anwesenheit versucht
hatte, eine der 24 Dynamit-Stangen zu zünden. Dabei sei eine Hälfte der Stange abgebrochen, jedoch nicht explodiert.
Sie blieb im Park liegen (vielleicht bis heute). Bei einer Hausdurchsuchung wurde damals derSprengstoff - der später
Mousli und den RZ zugeschrieben wurde - gefunden und beschlagnahmt. Der junge Mann wollte ihn auf einer Parkbank
im Böcklerpark gefunden haben. Irritierend an dem polizeilichen Verfahren ist jedoch, dass es keine richtige Analyse
des Sprengmittels gab, dass selbst das Gewicht des Fundes von der PTU-Einwage erheblich abwich und dass Spuren
schlicht nicht verfolgt wurden. So hätte sich auch nach der Beschlagnahme des Explosivstoffes die halbe Stange
davon, die beim Zündungsversuch abgebrochen sein soll, in dem Park befunden haben: keine bekannte Polizeieinheit
soll den Blindgänger je gesucht haben, zumindest keine, die das protokolliert hätte (nicht Staatsschutz, nicht BKA, nicht
sonst jemand hat sich interessiert....). Auch den Hinweis eines Zeugen, eines Freundes des beschuldigten
Sprengstoffbesitzers, dass derSprengstoff natürlich nicht auf der Bank im Park gefunden worden sei, sein Kumpel
vielmehr gesagt habe, er habe ihn aus "einem Keller im Osten", ist nicht weiter nachgegangen worden.

Explosivstoffe von alten Seilschaften?

Es galt also zu klären, welche anderen Dienstsstellen möglicherweise mit der Sache befasst waren; der Beamte, der
zunächst vorgab, sich an nichts erinnern zu können, schilderte dann, das Verfahren nach Sprengstofffunden: Es gehe
eine Sprengstoff- Sofortmeldung an das Bundeskriminalamt, beim zuständigen Landeskriminalamt Berlin an zwei
Abteilungen sowie an die beim mutmaßlichen Herstellungsort zuständige Dienstsstelle, in diesem Falle Schönebeck in
Sachsen-Anhalt. Außerdem habe er den Explosivstoff zur PTU (Polizeilich Technische Untersuchungsanstalt) wegen
eines Gutachtens eingereicht. Es sei ihm dann mitgeteilt worden, dass es sich um 24 Stangen zu 200 Gramm des
gewerblichen Sprengstoffs Gelamon 40 handele. Von der zuständigen Polizeidirektion Magdeburg wurde mitgeteilt,
dass der besagteSprengstoff aus einem einstigen DDR-Betrieb stamme und dort nur an Sonderbedarfsträger wie das
MfS oder die NVA ausgegeben worden sei. Ob man angesichts solcher Hinweise nicht hätte nachfragen müssen,
wollte Frau Lunnebach wissen. "Soweit ich mich erinnern kann, haben wir das nicht so gesehen", meinte der Zeuge.
Rechtsanwalt Kaleck nannte es "einigermaßen unglaublich", dass es im besagten Park keine Nachsuche durch die
Kripo gegeben habe, der Zeuge stimmte ihm grundsätzlich zu. Nicht mehr Sonderbehandlung mochte Rechtsanwältin
Lunnebach das Geschehen um den Sprengstoff Mouslis zwischen 1995 und 1997 nennen, eher sonderlich. Einer der
Bundesanwälte kommentierte: "In jeder Behörde verschwindet schon mal was..." Q.e.d. Eine schöne Bemerkung des
Zeugen soll den treuen LeserInnen nicht vorenthalten werden. Auf die Frage, ob er zwischendurch auch bei anderen
Dienststellen als der Sprengstoff- und illegale Waffen- Abteilung gearbeitet habe meinte er: "Ich hab auch mal illegalen
Menschenhandel gemacht..."

Sprengstoff wirklich gut versteckt

Der dritte Zeuge konnte mit seinen kurzen aber klaren Aussagen einmal mehr die Angaben des Bundesanwalts
Homann entkräften, es sei nicht sehr gründlich nach dem Sprengstoff im Mehringhof gesucht worden. Er und seine
sieben Kollegen haben mit der Entfernung von Wand- und Deckenverkleidung, Probebohrungen, dann noch
Spezialisten vom BKA mit Sonden und Sprengstoffhunden zumindest den Musikraum und einen Schuppen bis in den
letzten Winkel gescannt. Weitere Kollegen des 29-Jährigen sind zur Aussage für die kommenden Verhandlungstage
vorgeladen.

Im Falle eines Falles: Tesa oder Nopi

Enttäuscht hat der Gutachter der Firma Tesa (Beiersdorf) nur durch seine Ergebnisse, weniger durch seine Scherze:
So nannte er das vom Gericht eingereichte Klebeband etwa das "Terrortape". Seine ursprüngliche Aussage, es sei
kein Band von Tesa musste er insoweit revidieren, als es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein Band aus der
Produktion der dänischen Firma Nopi gehandelt hat. Diese Firma wurde Anfang der 70-er Jahre vonTesa aufgekauft,
das in Frage stehende Klebeband in deren Flensburger Firma von 1985 bis 1996 hergestellt. Nun soll ein alter
"Nopi-Hasi", auch "Nopi-Opi" genannt, als Zeuge zu dem Produkt Nopi 4065 geladen werden, um über das
Seegraben- Band Aufschluss zu geben. Der Gutachter war erstaunt über den bereits spürbaren Sachverstand der
Prozessbeteiligten und es wurde kurz erörtert, ob nicht die Vorsitzende Richterin Hennig in des Gutachters Abteilung
bei Tesa anfangen könnte. Rechtsanwalt Euler regte an, sie dort in einer einzurichtenden "Unterwasser- Abteilung"
einzusetzen.Er spielte damit darauf an, dass Tesa keine Unterwasser- Versuche mit seinen Klebeprodukten
veranstalte (mit welchen man Aufschluss bekäme über deren Feuchtigkeitsresistenz und so über "unser"
Seegraben-Paket....), wohl aber Lagerversuche bei 40 Grad Celsius.

Weiter Wühlen im Schlamm der Geschichte

Die Bundesanwaltschaft erklärte heute zur nicht erfolgten Vereidigung, gegen die Zeugin der Verteidigung, Elisabeth
E., die vor der Sommerpaus eausgesagt hatte, laufe seit dem 2.1.2001 ein Ermittlungsverfahren wegender
Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung nach § 129a und sie habe durch ihre Aussage diesen Verdacht noch
erhärtet, weshalb eine Vereidigung zu unterlassen war. Sie sei insbesondere der Beihilfe zumSprengstoff- Anschlag
auf das Gentechnische Institut in Berlin im Oktober 1986 verdächtig, zu welchem sich die "Rote Zora" bekannt habe.
Sie habe erklärt mit einigen der Angeklagten und einer weiteren Entlastungszeugin in einem philosophisch-
literarischen Zirkel zusammen gekommen zu sein. Nach Meinung der BAW habe sie auch im Gerichtssaal eineradikal-
feministische Grundhaltung zugegeben, welcher mit dem Zirkel neue geistige Grundlagen gegeben werden sollten,
welche in militanter Politik aus agiert werden sollten. Ihre Nähe zu den illegalen Militanten sei durch ihre Teilnahme am
Zirkel, die eine große Erfahrungs- und Vertrauensbasis erfordert habe, hinreichend bewiesen. Schließlich habe der
Angeklagte Schindler zugegeben, dass die RZ eine hoch klandestine Organisation mit
ausgeklügeltemSicherheitskonzept gewesen sei, zitierte Bundesanwalt Bruns. Richterin Hennig erinnerte daran, dass
sie eine Vereidigung wegen des Verdachts der Strafvereitelung nicht vollziehen wollte. Rechtsanwalt König wies diese
Einschätzungen zurück und stellte selbst einen entfernten Verdacht gegen Elisabeth E. in Abrede. Er erklärte, nur der
Kronzeuge phantasiere eine derart enge und freundschaftliche Beziehung zu den Angeklagten und RZ-Verdächtigen.
Elisabeth E. habe sich mit einigen Angeklagten nach deren Ausstieg aus den RZ erst getroffen und sich an deren
Versuchen einer politischen Neuorientierung beteiligt.

Dem Terrortape auf den Grund gehen

Anträge von den Rechtsanwälten von Frau Eckle und Herrn Glöde zu den "Terrortapes" sowie einen zu einem
Ortstermin am Seegraben lehnt die BAW ab. Auch einen TÜV- Sachverständigen zum unverputzten Fahrstuhlschacht
im Mehringhof will die BAW nicht hören. Doch in Sachen "Seegraben" bleibt es spannend: Die Rechtsanwätin
Lunnebach besteht auf ihrem Ortstermin in Berlin Buch an jenem Gewässer; sie will auch den BKA- Experten noch
einmal hören, der sagte, das Sprengstoffpaket wäre zu einem Drittel über der Oberfläche des Seegrabens
geschwommen, wenn alles lief wie von Mousli beschrieben; sie will auch das Bundesamt für Materialprüfung mit der
Untersuchung des gefundenen Sprengstoffs beauftragen, da sie davon ausgeht, dass es sich nicht um das Gelamon
handelt, als welches es derzeit "gehandelt" wird; außerdem will sie die Anhaftungen des Sprengstoffpakets
paläolimnologisch untersuchen lassen, da sie davon ausgeht, dass nur Sommeralgen dem Paket anhaften können.
Rechtsanwalt Euler erkundigte sich noch nach dem Gesundheitszustand des Kronzeugen und forderte Einsichtnahme
in das ärztliche Attest.

Die Verhandlung wird am Freitag, 9. August, um 10 Uhr fortgesetzt.

 

08.08.2002
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