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Berlin: 75.Prozesstag vom 17.Mai 2002 | "Ich glaubte, an einen Mafiosi geraten zu sein"

75. Prozesstag: "Ich glaubte, an einen Mafiosi geraten zu sein"

Ganz im Sinne einer beschleunigten Verfahrensführung war die heutige Hauptverhandlung
bereits um 11:00 Uhr zu Ende. Vernommen wurde der Zeuge Andreas W. (27). Im Anschluss
daran nahm die Bundesanwaltschaft (BAW) Stellung zu einem Beweisantrag der
Verteidigung von Harald G. Die Verteidigung von Matthias B. reagierte ihrerseits mit zwei
Anträgen auf die Vorgänge am gestrigen Verhandlungstag.

Da der Zeuge vorgeführt werden musste, begann der 75. Verhandlungstag mit einiger
Verspätung. Gegenstand der einzigen Zeugenbefragung des heutigen Tages war der Einbruch
in den Keller des Kronzeugen Tarek Mousli, aus dem im März 1995 Sprengstoff gestohlen
wurde. Andreas W. war damals zusammen mit seinem Freund Daniel S. (27) in den Keller
eingestiegen (zur Aussage von Daniel S. vgl. 59. Prozesstag, 7.3.02).

"Asiatischer Mitbürger in Kampfstellung"

Doch anstatt der gesuchten Fahrräder stießen sie auf einen mit Umzugskartons und anderen
Sachen vollgestellten Keller, der ihre Aufmerksamkeit weckte. Ein oder zwei Kartons hätten
sie in den Kellerflur gezogen. Dabei seien sie auf einen Plastiksack gestoßen, der mit gelbem
Krebklebeband umwickelt gewesen sei. Darin habe sich Sprengstoff befunden. Was beide da
vorfanden, war zumindest Andreas W. nicht ganz geheuer: "Ich glaubte, an einen Mafiosi
geraten zu sein, da habe ich es mit der Angst zu tun bekommen. Ein normaler Bürger hat ja
keinen Sprengstoff in seinem Keller."
Bei dem Sprengstoff habe es sich um Material aus der ehemaligen DDR gehandelt. Der Zeuge
glaubte sich zu erinnern NVA (Nationale Volksarmee) oder ähnliches auf den Stangen
gelesen zu haben. Wie auch an anderer Stelle fiel es dem Zeugen sichtlich schwer, sich zu
erinnern. Immer wieder beteuerte er, dass die ganze Geschichte schon so lange her sei. Nie
habe er gedacht, dass er nach so langer Zeit noch einmal zu den ganzen Vorgängen befragt
werden würde. So wurden ihm Vorhalte aus seiner polizeilichen Vernehmung vor vier Jahren
gemacht. Damals hatte er ausgesagt dass sich in dem Keller u.a elektronischen Geräte
befunden hätten, die er als eine Abhöranlage identifiziert hatte. Außerdem habe er ein Foto
entdeckt, das einen "asiatischen Mitbürger in Kampfstellung" gezeigt hätte - die wohl
bildhafteste Beschreibung des Ex-Karatelehrers und heutigen Kronzeugen Mousli, die bislang
im Hauptverfahren gezeichnet wurde.

Im Dunkeln blieb bei der heutigen Befragung, wie die Polizei auf die Spur von Andreas W.
gekommen ist, bzw. warum er sich der Polizei gestellt hat. Der Einbruch war im März 1995.
Allerdings erst drei Jahre später - 1998 - will das BKA auf den Sprengstoffdiebstahl in Berlin
aufmerksam geworden sein (vgl. Zeugenvernehmung BKA-Beamter Trede, 43. Prozesstag,
13.12.01) Wie Andreas W. heute schilderte, sei die Polizei zu diesem Zeitpunkt, also drei
Jahre nach der Tat, beinahe wöchentlich bei seinem Freund Daniel S. aufgetaucht, der schon
kurz nach dem Diebstahl wegen Sprengstoffbesitz zu einer Jugendstrafe verurteilt worden
war. Daniel habe ihm von den polizeilichen Besuchen erzählt und davon, dass die Beamten
ihm ein Foto von Andreas W. gezeigt hätten. Wie die BKA-Beamten zu einem Foto des
heutigen Zeugen gekommen waren, blieb heute unklar. In dieser Situation habe er sich ("es
musste was passieren, Daniel hat ja Familie") entschlossen, so der Zeuge heute, sich der
Polizei gegenüber als Tatbeteiligter zu erkennen zu geben.

Völlig ungeeignet, so die BAW

Wegen der "völligen Ungeeignetheit als Beweismittel" sei ein Antrag der Verteidigung von
Harald G. vom 26. April abzulehnen, so die Stellungnahme des Bundesanwalt Maegerle, im
Anschluss an die Zeugenbefragung. Die Verteidigung hatte angeregt, Bankunterlagen von
Tarek Mousli herbeizuziehen, um anhand der Kontobewegungen zu belegen, dass Tarek
Mousli 50.000 Mark, die er angeblich an Harald G. zur Unterstützung von illegalen RZ-
Mitgliedern weitergeleitet haben will, für eigene Zweck verwendet hat. Da Mousli in der
Hauptverhandlung angegeben hat, dass er auch über Schwarzgeld in beträchtlicher Höhe
verfügt habe (vgl. 62. Prozesstag, 15.3.02), zog sich die BAW auf die Position zurück, die
Verteidigung würde in nicht haltbarer Weise "Buchgeldpositionen mit Bargeldbewegungen
gleichsetzen", insofern habe die Herbeiziehung der Kontobewegungen keinen Sinn.

Zum wiederholten Male, so die Verteidigung

Aus ihrer Sicht hatte bereits die Verteidigung von Matthias B. am gestrigen Verhandlungstag
die Sinnfrage gestellt. Hintergrund waren die erneut zu Tage getretenen Aktenmanipulationen
und die einseitig geführten Ermittlungen von Bundeskriminalamt (BKA) und BAW, die bei
der Befragung der BKA-Zeugin Pankok und von Staatsanwalt Monka aufgetaucht sind. Mit
zwei Anträgen machte sich Rechtsanwalt Kaleck heute Luft. In dem einen forderte er die
Aussetzung des Verfahrens bis alle bei BKA und BAW befindlichen Akten,
Observationsberichte und Vorgänge der Telefonüberwachung den Verfahrensbeteiligten
zugänglich gemacht sind. In dem anderen Antrag verlangte er die Auskunft beim Berliner
Landeseinwohnermeldeamt einzuholen, wann das BKA dort einen Antrag auf einen
Personalausweis von Matthias B. eingesehen bzw. abgeholt habe.
Zur Erinnerung: Gestern waren erhebliche Widersprüche und Ungereimtheiten bei der
angeblichen Identifizierung von Matthias B. als RZ-Mitglied mit dem Decknamen "Heiner"
aufgetaucht. So wurde bekannt, dass der Bundesverfassungsschutz im Dezember 1987 darauf
hingewiesen habe, das Phantombild des Fahrers beim Anschlag auf den Asylrichter Dr.
Korbmacher habe auffallende Ähnlichkeiten mit einer Person Namen Harry S.. Ebenfalls
bekannt wurde, dass die Zeugin Florence F. 1999 die Person Harry S. bei Vorlage eines
entsprechenden Fotos als zumindest ähnlich beschrieb.
Erhebliche Widersprüche und Ungereimtheiten waren auch bei der "Lichtbildidentifikation"
von Matthias B. als "Heiner" durch den Kronzeugen zu Tage getreten. So soll die
"Lichtbildmappe", in der auch ein Foto von Matthias B. aufgenommen war, am 19.1.2000
erstellt worden sein. In einem Vermerk der BKA-Beamtin Pankok ist aber davon die Rede,
dass sie erst am 25.1. 2000 in den Besitz eines Fotos von Matthias B. gelangt ist - und zwar
aus den Beständen des Landeseinwohnermeldeamtes Berlin.

Die Verhandlung wird am 23.5.02 fortgesetzt.



 

18.05.2002
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