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Berlin: Prozessbericht vom 11.01.2002

11.01.2002 51. Prozesstag

Auch am vierten Vernehmungstag von Tarek Mousli im neuen Jahr wenig
Bewegung im RZ-Prozess

Aufgrund eines erneuten Migräneanfalls von Sabine E. endete der 51.
Verhandlungstag vorzeitig um 12.00 Uhr und brachte auch diesmal für die
"Wahrheitsfindung" erkennbar wenig Neues.

Mouslis Rolle beim Anschlag auf die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber
(ZSA)
Standen gestern Fragen zum Themenkomplex "Waldspaziergang" am Wannsee, der
angeblich im Sommer 1989 stattgefunden haben soll, im Zentrum der Vernehmung,
so wurde Mousli heute von den AnwältInnen Lunnebach und Kaleck vor allem mit
seinen mündlichen und schriftlichen Angaben zum Anschlag auf die ZSA 1987
konfrontiert.
Schon zu Beginn der Prozesstages sorgte die gerichtliche Zurückweisung einer
Frage zur Planung und Absicherung der Aktion als "zu hypothetisch" für einigen
Unmut auf der Verteidigerbank. Mousli sollte Auskunft darüber geben, welche
Vorkehrungen im Vorfeld des Anschlags für den Fall unvorhersehbarer Probleme
oder technischer Schwierigkeiten von der Gruppe getroffen worden waren. Relevanz
erhält diese Frage vor allem im Kontext des bisherigen Aussageverhaltens des
Kronzeugens.
Mousli will bis heute dem Gericht und der Öffentlichkeit glaubhaft machen, dass ihm
die Tatbeteiligten (zu deren Zusammensetzung er sich im Laufe der Zeit recht
unterschiedlich und nachweisbar auch unzutreffend geäußert hat) außerhalb seiner
eigenen Zelle persönlich nicht bekannt gewesen waren. (Am gestrigen
Verhandlungstag hatte Mousli erneut behauptet, erst beim "Waldspaziergang" hätte
er einige der Beschuldigten persönlich das erste Mal getroffen.) Seine bescheidene
Rolle bei der Durchführung des ZSA-Anschlags hätte darin bestanden, ausgestattet
mit einem Funkgerät den Eingangsbereich abzusichern (sein Auftrag hätte lediglich
gelautet, "ungewöhnliche Bewegungen" zu melden), so dass weder bei der An- und
Abreise zum Tatort mit der U-Bahn noch während der Aktion ein direkter Kontakt zu
seinen Genossen bestanden hätte. Es habe noch nicht einmal einen Sichtkontakt
gegeben. Trotzdem könne er sich erinnern, dass an der Tat (außer 'Siggi' und
'Judith') alle Beschuldigten beteiligt waren.
In seinen älteren Versionen zur Beschreibung des Tathergangs hatte Mousli u.a.
noch zu Protokoll gegeben: "Wir sind zusammen mit der U- Bahn gefahren". An
nähere Umstände (gab es in der Nähe eine Bushaltestelle, wie genau wurde die ZSA
polizeilich gesichert, lag an diesem Tag Schnee etc.) wollte er sich heute partout
nicht mehr erinnern können.
Die von Mousli angefertigten dreiseitigen Skizzen zum Tatort ZSA, die eventuell zu
einer Klärung des tatsächlichen Hergangs und der angeblichen Standorte der
Beteiligten beitragen könnten, werden Gegenstand der Verhandlung in der
kommenden Woche sein, da vorgesehen ist, diese mithilfe eines
Overheadprojektoren allen Verfahrensteilnehmern zugänglich zu machen.

"Hand in Hand" oder Sprachforschung im Gericht
Während alle Prozeßbeteiligten die meisten - inzwischen sattsam bekannten -
Erinnerungslücken und widersprüchlichen Beschuldigungen von Mousli eher
gelassen (oder z.T. auch frustriert) zur Kenntnis nahmen, sah sich die
Bundesanwaltschaft (BAW) dann doch noch genötigt, dem Kronzeugen an einer
Stelle der Befragung ganz direkt und engagiert zur Hilfe zu eilen. Streit zwischen den
Staatsanwälten und der Verteidigung entbrannte vor allem an der Interpretation
Mouslis schriftlich fixierter Aussage, er habe nie gemeinsam mit 'Anton' bei einer
Aktion direkt agiert. Dies - so die nachvollziehbare Argumentation von RA Lunnebach
- sei ein Hinweis darauf, dass zumindest 'Anton' am Anschlag auf die ZSA nicht
beteiligt gewesen sein könne, sich der Kronzeuge also wieder einmal geirrt haben
müsse. Hierauf präsentierte die Bundesanwaltschaft - wenn auch mit wenig
Überzeugungskraft - ihre ganz eigenwilligen Vorstellungen der deutschen Sprache:
Mouslis Formulierungen "gemeinsam" und "direkt" müssten selbstverständlich im
Sinne von "Hand in Hand" (etwa Händchen haltend?) verstanden werden. Dies sei
bei einer Aktion, wo sich die Tatbeteiligten ja nach Angaben von Mousli nicht
getroffen und nur über Funkkontakt verständigt hätten, gerade nicht der Fall
gewesen. Der Kronzeuge zumindest war dankbar für diesen kreativen
Interventionsversuch ...

Weitere Fragekomplexe
Kurz angerissen wurden im weiteren Verlauf von einer etwas unglücklich wirkenden
Verteidigung die Aussagen Mouslis und die vorhandenen Protokolle zur
Identifizierung der Beschuldigten. (Mousli hatte den Venehmungsbeamten am
30.11.99 u.a. eine Liste aller ihm bekannten RZ-Mitglieder erstellt, auf der zumindest
der Name 'Heiner' mit einem Fragezeichen versehen war. Hierzu wollte sich Mousli
jedoch nicht weiter äußern.)
Des weiteren wurde der Kronzeuge erneut zu seinem Verhältnis zu Gerd Albartus
befragt, mit dem ihm nach eigenen Angaben ein enge und freundschaftliche
Beziehung verbunden hätte. Er habe einmal bei Albartus in dessen Wohnung in
Düsseldorf übernachtet, könne sich jedoch an keine Einzelheiten dieses Aufenthaltes
erinnern, außer, dass die Wohnung gut und eher kostspielig, u.a. versehen mit
Nippesfiguren, eingerichtet gewesen wäre. Von dessen Tod, der ihn nachhaltig
erschüttert und zu seinem Ausstieg aus der RZ bewogen haben soll, will er entweder
1988 oder 1989 erfahren haben (schließlich legte er sich auf 1989 fest), an die
Umstände könne er sich aber nicht mehr genau erinnern. RA Kaleck formulierte
deutlich sein Unverständnis über soviel Vergesslichkeit angesichts eines Ereignisses,
das der Zeuge selbst als "einschneidend" und gefolgt von "absoluter Erregung"
beschrieben hatte. Mousli jedoch behauptete heute zunächst, er habe nur mit
Mitgliedern seiner Gruppe über den Tod von Albartus gesprochen und nicht mit
anderen Menschen darüber diskutiert. Erst nach mehrmaligen Insistieren der
Verteidigung nannte er weitere Namen von Personen ('Roger' und seine damalige
Freundin 'Ellen'), mit denen er eventuell das Thema "Gerd Albartus" erläutert haben
könnte.
Die heutige Befragung endete mit einem Disput darüber, ob Mousli noch mit weiteren
Bekannte (andere ehemalige oder damalige Freundinnen) über das Thema
gesprochen hat, wobei deutlich wurde, dass sich auch bei dieser Frage nicht
vollkommen zufällig Erinnerungslücken breit machen.

Nach Entlassung des Zeugen verkündigte Richterin Henning die Abweisung von drei
Anträgen der Verteidigung bzw. der Angeklagten (1. Antrag auf Protokollierung der
Vernehmungsbänder, 2. Antrag auf Abgleich der Kopien der Bänder mit den
Originalaufzeichnungen, 3. Antrag auf eine Wortprotokollierung der Mitschnitte der
Telefonüberwachungen). Die Verteidigung muss - bei weiteren Befragungen zum
Komplex Telefonüberwachung - eine Wortprotokollierung für konkrete Bänder
beantragen.

Der Prozess soll am nächsten Donnerstag (18.01.2002) mit der Befragung des
Kronzeugen fortgesetzt werden.


 

11.01.2002
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