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Berlin: Prozessbericht vom 6. Dezember 2001

41. Prozesstag: Vom Gerichtssaal der offenen Fragen zum Hörsaal der offenen
Antworten

Der heutige Prozeßtag enthielt eine nicht uninteressante Steigerung. Nach einem
Kurzauftritt einer Zeugin, die als Verwaltungsangestellten der früheren Zentralen
Sozialhilfestelle für Asylbewerber (ZSA) arbeitet und den Ausführungen eines
pensionierten Kriminalbeamten (mit Sprengberechtigungsschein) über seine
Ermittlungstätigkeit zum Anschlag auf die ZSA im Februar 1987, konnte, wer von den
anfangs 14 ZuschauerInnen durchgehalten hatte, den ausführlichen Darstellungen
zweier Sachverständiger zu Fragen der richtigen Sprengmittel- Lagerung und den
Methoden der Telefonüberwachung lauschen.

Kern der Aussage von Gerda E. zum Sprengstoffanschlag auf die ZSA - wobei es sich
dabei möglicherweise um den bisher kürzesten ZeugInnenauftritt im Prozess handelte -
war, dass es bei der ZSA zur damaligen Zeit nur einen Einzelplatz- Computer gegeben
hatte. Ein Zentralcomputer sei erst 1990/91 installiert worden.

"Dürftige Erinnerung"

Umstritten war der Auftritt des nachfolgenden Zeugen Karl- Heinz Halter.
Rechtsanwältin Studzinsky legte dar, dass dieser als Kriminalbeamter nach dem
Anschlag auf die ZSA am Tatort umfangreiche Ermittlungen durchgeführt habe. Der
Kronzeuge Tarek Mousli habe aber zu dem Komplex ZSA innerhalb des Prozesses
noch nicht vollständig ausgesagt und die Vernehmung des Kronzeugen sei
vorzuziehen. Die Vorsitzende Richterin Hennig lehnte nach kurzer Beratung diesen
Einwand ab und setzte die Befragung des heute 71jährigen pensionierten Kriminalisten
fort.
Er habe nachgelesen, "die Erinnerung ist doch sehr dürftig", war einer der ersten Sätze
des Zeugen und damit stand er ja in der langen Reihe der bisher gehörten ZeugInnen
nicht alleine. Immerhin sind ihm noch nach 15 Jahren die Worte "Für freies Fluten" aus
dem Bekennerschreiben "in Erinnerung geblieben". Das Loch, das der Sprengsatz in
die Außenmauer des Gebäudes riss, ist aber im Lauf der Jahre von den damals
protokollierten 40x50 cm auf zwei Meter gewachsen.
Die TäterInnen seien wohl von einem angrenzenden Bahngelände aus über eine Mauer
geklettert und hätten dazu den Stacheldraht auf der Mauer durchgeschnitten. Fuss-
Spuren habe es keine gegeben, "alles war Matsch". Der Zeuge schilderte seine
Ermittlungsarbeit, das Auflesen von Spuren zur Bestimmung des Sprengsatzes, den
Zustand des Tatortes und das Ausmass der Schäden. In mehreren Lehrgängen habe er
sich als Sprengstoffermittler mit "Sprengberechtigungsschein" qualifiziert. An diesem
Wissen ließ er nun teilhaben. Schmauchspuren und Zünder seien das eigentlich
Interessante für die Ermittlungsarbeit. Auf Nachfrage stimmte er zu, dass die damals
protokollierte Ausbeulung eines nahegelegenen Maschendrahtzauns auch auf die
mechanische Einwirkung umherfliegender Teile und nicht auf die Druckwelle
zurückgeführt werden könne. Ob dieser Schaden schon vor dem Anschlag bestanden
hätte, habe er nicht ermittelt. An vieles konnte sich der Zeuge nicht mehr erinnern.
Die"Inaugenscheinnahme" von Bildern und Skizzen und das "Vorhalten" von Textstellen
aus seinem damaligen Bericht halfen nicht immer bei der Teils mühseligen
Erinnerungsarbeit. Die Höhe des Schadens habe er damals auf 5.000 DM geschätzt.
Weil die Befragung von OhrenzeugInnen drei verschiedene Tatzeiten ergeben hätte,
habe er die ihm am plausibelsten dargestellte als die wahrscheinlichste angenommen.
Und dann eher nebenbei ein Satz, der über dem gesamten Prozeß schwebt: "Es kann
alles ganz anders gewesen sein". Der Zeuge wurde noch nicht entlassen.

Fast eine kleine kompetente Vorlesung

Der pensionierte Kriminalbeamte mit dem "Sprengberechtigungsschein" hatte
thematisch schon den Boden für den Auftritt eines ausgesprochenen Experte
vorbereitet. Als Sachverständiger sprach heute Dr. Hans-Joachim K., Diplomchemiker
und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Deutschen Montantechnologie, die sich als
Prüfstelle vor allem mit im Bergbau eingesetzten Sprengstoffen befaßt und diese
untersucht. Zu Beginn noch etwas zurückhaltend ("Soll ich das wirklich vorlesen")
erhielten alle Anwesenden in knapp zwei Stunden von ihm äußerst detailreiche und
informative Auskünfte über die chemische Zusammensetzung, die Hersteller, das
Herstellungsverfahren und die Lagerung von Sprengmitteln. Dass dabei der
Gerichtssaal bisweilen zum Hörsaal mutierte, war sicher auch der Liebe des Dr. K. zu
seinem Metier geschuldet. Dr. K. bedauerte, keine Tafel zu haben. Leicht
abschweifende Ausflüge in die spannende Welt der Sprengmittel- Untersuchung
konnten da nicht ausbleiben. So hörten die Anwesenden auch mach nette Anekdote.
Das scheinbar geweckte Interesse an Sprengmitteln hatte in der Verhandlung allerdings
eine andere Motivation. Die entscheidenden Fragen blieben nämlich unbeantwortet,
weil der Sachverständige damit nicht beauftragt worden war. Im wesentlichen ging es
um die Tatsache, dass bestimmte chemische Stoffe aus dem Sprengstoff Gelamon 40
mit der Zeit ausdampfen bzw. auch ausgewaschen werden können. Damit verknüpft ist
die Frage, ob sich, wenn die Bedingungen der Lagerung bekannt sind, aus dem
verbliebenen Anteil dieser Chemikalien im Sprengstoff Rückschlüsse auf die Dauer der
Lagerung ziehen lassen.
Diese Fragen muss nun - nach einigem Hin und Her zwischen Verteidigung und Gericht
- ein anderer Sachverständiger beantworten. Herr Dr. K. hat einige seiner Kollegen
empfohlen und das Gericht denkt nun darüber nach, welcher dieser Experten beauftragt
werden soll.

Nebengeräusche und Unstimmigkeiten

Als zweiter Sachverständiger war der Diplominformatiker Wolfgang D. vom BKA
geladen. Verschiedene Merkwürdigkeiten beim Abhören der Kassetten aus der
Telefonüberwachung des Kronzeugen hatten sowohl beim Gericht als auch bei den
VerteidigerInnen zu offenen Fragen geführt. So ist auf einigen Bändern fast nichts
aufgenommen, obwohl nach dem technischen Aufnahmeverfahren die Mehrzahl der
Kassetten voll sein müßte. Die Vorsitzende Richterin war beim Abhören der Bänder
eine Unstimmigkeit in der chronologischen Reihenfolge aufgefallen. Leider konnte sie
heute die betreffende Kassette nicht mehr angeben oder vorlegen. Auf einigen Bändern
sind Nebengeräusche von - möglicherweise anderen - Telefonüberwachungen zu
hören. Zu diesen und etlichen andere Fragen sollte der Sachverständige Auskunft
geben.
Der BKA- Beamte ermöglichte zwar - begleitet von dem gleichbleibend gelangweilten
Grinsen des Bundesanwalts Bruns - in ebenfalls rund zwei Stunden, einen tiefen
Einblick, wie mensch abgehört wird. Ein eigens aufgebautes Abhörgerät gab dabei auch
einen von Quietschen, durchdringenden Tönen und Sprachfetzen begleiteten sinnlichen
Eindruck. Er konnte aber, wie sein Vorgänger, an bestimmten Punkten nicht
weiterhelfen. So standen im Zentrum des Interesses eigentlich Daten (wie Tag, Ort und
Zeit), die im Kontext mit dem abgehörten Gespräch erfasst werden. Hier gibt es
offenbar einige Unstimmigkeiten und Lücken. Weil ein Teil dieser Daten auch von den
mit dem BKA kooperierenden Netzbetreibern erhoben und geliefert werden, so der
Sachverständige, gäbe es auch die Möglichkeit, dass angesprochene Unstimmigkeiten
auf technische Probleme der Netzbetreiber zurückzuführen seien. Darüber hinaus habe
es zu den in Frage stehenden Zeitpunkten 1999 Tests im Zusammenhang mit der
Jahrtausendwende gegeben. Und schlussendlich sei an den Überwachungs-
Massnahmen neben den ermittelnden Sachbearbeitern noch die TÜ- Dienststelle
zwischen geschaltet, die technische Fehler behebe. Er selbst werde nicht auf die
(möglicherweise nicht protokollierten) technischen, sondern nur auf Fehler des Systems
angesetzt. So blieb am heutigen Verhandlungstag auch bei diesem Sachverständigen
ein Gerichtssaal voller Fragen.



 

07.12.2001
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