III. Das Jahr 2000-1 beginnt

Kriegsdrohungen gegen Syrien / Öcalan in Rom
Die Europäisierung der Kurdenfrage
Die Reise von Rom ins "Ungewisse"
Öcalans Auslieferung an die Türkei
Einige Reaktionen aus Deutschland und Europa
Schily zu den Aktionen aus Anlass der Verschleppung Öcalans
Kay Nehm: "PKK keine Terrororganisation"
Der Vorfall in Berlin - die Tatsachen widerlegen Schily
Der Europäische Rat der EU zu den Demonstrationen und zum Öcalan-Prozess"
ERNK: "Aktivitäten im Rahmen der demokratischen Regeln und mit Vernunft entfalten"
Erklärung der deutschen Friedensbewegung
Wie sah es in Kurdistan aus?
Öcalan auf Imrali
Ein weiteres Beispiel der Zusammenarbeit: Schließung von MED-TV
Nach den Parlaments- und Kommunalwahlen: Trotz Repressalien viele Kommunen in den Händen der HADEP
Tribunal gegen Öcalan

Geteiltes Echo
Internationale Reaktionen auf das Urteil
Reaktionen der türkischen und kurdischen Seite
"Diplomatie und Piraterie"


Kriegsdrohungen gegen Syrien / Öcalan in Rom

Es war kein Geheimnis, dass die PKK gute Kontakte zu Syrien hatte, und dass Abdullah Öcalan sich öfters dort aufhielt sowie im mit Syrien politisch verbundenen Libanon Ausbildungsstätten für die Guerilla unterhielt. Da die Nachbarstaaten Türkei und Syrien seit Jahrzehnten miteinander wegen Wasser- und Gebietsansprüchen immer wieder in Konflikt gerieten, musste Syrien zu einem Ansprechpartner für die oppositionellen Gruppen und auch für die PKK werden. Diese Kontakte und Unterstützung waren in den ersten Jahren des bewaffneten Kampfes sehr wichtig. Nachdem die PKK sich in Türkisch-Kurdistan organisierte und den bewaffneten Kampf ausdehnte, wurden nach und nach die Ausbildungslager nach Türkisch-Kurdistan verlagert. Syrien hat vor allem als Sitz einiger führender Kader gedient.
Am 1. Oktober 1998 sagte Staatspräsident Süleyman Demirel vor dem türkischen Parlament bezogen auf Syrien: "Ich erkläre hiermit vor der internationalen Gemeinschaft, dass unsere Geduld zu Ende ist".(27) Der türkische Generalstabschef, Hüseyin Kivrikoglu, sprach sogar von einem "unerklärten Krieg".(28) Seine Generäle gingen noch weiter: "Wir können am Morgen einmarschieren und wären am Nachmittag in Damaskus." (29) Und Premier Mesut Yilmaz: "Wenn Syrien nicht zur Vernunft kommt, ist es unsere Pflicht, Syriens Welt zum Einsturz zu bringen. Wir sind verpflichtet, denen die Augen auszustechen, die auf unser Territorium schielen."(30) Zusammengefasst verlangte die Türkei die Auslieferung Öcalans oder die Ausweisung in ein drittes Land.
Die Kriegsdrohung war ernst. Als Vermittler schalteten sich der ägyptische Staatspräsident Mubarak und die Außenminister Ägyptens und Irans ein. Am 12. Oktober 1998 teilte Mesut Yilmaz mit, Öcalan habe Syrien verlassen. Abdullah Öcalan sagte selber, dass er am 9. Oktober 1998 ein internationales Komplott aufgedeckt und zunichte gemacht habe. Am gleichen Tag wurden die Sendungen von MED-TV seitens der Türkei gestört.
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Öcalan musste am 9. Oktober 1998 Syrien verlassen und flog via Athen nach Moskau. Der drohende militärische Konflikt zwischen der Türkei und Syrien wurde durch ein Abkommen zwischen beiden Staaten abgewendet.
Nach einem fast einmonatigen Aufenthalt in Russland kam Öcalan am 12. November 1998 in Begleitung einiger italienischen Politiker in Rom an. Nach einer Dokumentation von Medya TV am 25.10.99 soll der Ministerpräsident Italiens Massimo D'Alema vor seiner Ankunft in Rom, nämlich am 9. November 1998, von den Absichten Öcalans unterrichtet worden sein und dann mit Bauchschmerzen der Reise zugestimmt haben.
Öcalans Ankunft in Rom schlug sich in der Türkei in einer hysterisch-nationalistischen, kurdenfeindlichen Welle nieder. Landesweit wurden sämtliche Kreis- und Provinzverbände von HADEP (Demokratiepartei des Volkes) binnen eines Tages durchsucht. Etwa 4.000 anwesende Personen wurden festgenommen. 60-70jährige grauhaarige Mütter von damals sich im Hungerstreik befindenden 10.000 Gefangenen wurden aus den Büros des IHDs (Menschenrechtsvereins) oder der HADEP herausgeholt und von Polizeibeamten festgehalten, um Passanten sich an diesen "Huren" rächen zu lassen. Zwei Menschen wurden, weil sie Kurden waren, vor den Augen von Polizisten und vor laufenden Kameras auf offener Straße gelyncht. Dieser Vorfall wurde live durch alle TV-Sender verbreitet. Kurdische Läden und Häuser wurden in Brand gesteckt. Viele Kurden haben sich nicht mehr getraut, das Haus zu verlassen. In Brüssel setzten türkische Jugendliche in Begleitung türkischer Fernsehteams drei Gebäude in Brand. Drei kurdische Institute und Vereine gingen in Flammen auf. In Deutschland wurden italienische Geschäfte beschädigt sowie kurdische und italienische Schülerinnen angegriffen.
Die Kurden haben sich während dieser Zeit sehr diszipliniert verhalten. 10.000 politische Gefangene begannen mit einem unbefristeten Hungerstreik in den Gefängnissen. Ihre Angehörigen haben Solidaritätsstreiks organisiert. Kundgebungen, spontane Demonstrationen wurden abgehalten. Bis zum 19. November 1998 haben sich 40 Gefangene selbst in Brand gesetzt.(32) In Moskau starben zwei Anhänger der PKK an den Folgen einer Selbstverbrennung. Auch in der Bundesrepublik kam es zu Verbrennungen aus Solidarität mit dem Vorsitzenden der PKK.
Die italienische Regierung lehnte die Auslieferung Öcalans an die Türkei ab und verlangte statt dessen eine europäische Politik zur Lösung der Kurdenfrage.
Der türkische Außenminister Ismail Cem drohte: "Wir haben in der Vergangenheit öfters die Flüchtlingsströme in Richtung Italien verhindert. Aber wegen der Haltung der italienischen Regierung scheint es schwierig zu sein, sie weiter unter Kontrolle zu halten."(33) Einen Tag später brachte die türkische Tageszeitung Milliyet auf der Titelseite über 8 Spalten die Meldung von der Ermordung der russischen Reformpolitikerin Galina Starowojtowa unter den Überschriften: "Warnung an Italien", "Die russische Unterstützerin Öcalans wurde hingerichtet", "Ein Mord, wie aus der Hand des MIT". (34)

(27)taz, 2.10.98

(28) taz, 5.10.98
(29)SZ, 8.10.98

(30)taz, 12.10.98

(31)Sabah, 15.10.98

(32)ÖP, 30.11.98

(33)Hürriyet, 22.11.98

(34)MIT tarzi cinayet / MIT = Geheimdienst der Türkei, Milliyet, 23.11.98