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Yasar Kemal - Friedenspreis-Träger des Deutschen Buchhandels

Die Literatur verknüpft uns und macht uns zu Mittätern
Auszüge aus der Laudatio von Günther Grass:

Der Mensch ist worthaft
Die Rede Yasar Kemals aus Anlaß der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels

Liebe Freunde,

ich danke Ihnen, daß Sie mir diesen wertvollen Preis verliehen haben. Ich bin ein Mann der Dichtkunst. Und seit ich mich mit dieser Kunst befasse, habe ich mich bemüht, das mir Bestmögliche zu tun. Ich sagte: ein Mann der Dichtkunst, und nicht: ein Mann der Literatur. Denn bevor ich zu schreiben begann, war ich Sagenerzähler und Sammler von Folklore. Noch im Alter von siebzehn, achtzehn Jahren wanderte ich im Taurus von Dorf zu Dorf, erzählte mündlich überlieferte Epen, die ich als Lehrling der großen Meistersänger der Cukurova, der Tiefen Ebene, gelernt hätte, sammelte nebenbei Klagelieder, aber auch Gedichte unserer namhaften Volksdichter. Mein Auftreten als Sagenerzähler erleichterte mir das Zusammentragen von Folklore. Bei den Klageliedern handelt es sich um Lobgedichte, um Traueroden, die von Frauen zu Ehren Verstorbener oder anläßlich tragischer Ereignisse gesungen werden. Wie die professionellen Klageweiber trugen auch die meisten Frauen einige Traueroden vor, und diese Klagen gingen von Mund zu Mund. Sie von den Frauen zu bekommen war nicht leicht, doch zu mir, dem Sagenerzähler, kamen sie aus freien Stücken und diktierten mir die Gesänge, die ihnen geläufig waren.
Erst als Zwanzigjähriger ging ich zur "schriftlichen" Literatur über und schrieb meine ersten Erzählungen. Meine Sammlung von Klageliedern wurde 1943 in einem kleinen Buch veröffentlicht, Jahre später, 1952, erschienen meine ersten Erzählungen und 1953 mein erster Roman, den ich 1947 begonnen hatte.
Die Wirkung der Wortkunst wurde mir in jenen Tagen bewußt, als ich den Menschen Sagen erzählte. In Dörfern und Gegenden, wo ich auf ein gespanntes Auditorium traf, wuchsen meinen Worten Flügel, beflügelten wiederum mich und meine Zuhörer, und ich erzählte mit wachsender Freude. Zeigten in manchen Dörfern und Gegenden die Zuhörer wenig Anteilnahme, geriet auch mein schöpferischer Vortrag farbloser.
Der Vortrag eines meisterlichen Erzählers ist kein auswendig gelernter Text. Der Erzähler schafft ihn je nach Anteilnahme. seiner Zuhörer immer wieder neu. Und wie Kiesel, die vierzigtausend Jahre im Wasser liegen, werden die von Erzähler zu Erzähler tradierten Epen zusehends geschaffener, glatter, glänzender.
Ganz anders die geschriebene Dichtung. Vor dir befindet sich nichts außer Bleistift und Papier. Kein Laut, kein Gegenüber, keine Gestik! Wann die Dichtkunst begonnen hat, wissen wir nicht, die Anfänge der Literatur sind uns bekannt, sie sind historisch belegt. Doch wir können sagen, daß durch die Jahrhunderte mündliche Dichtkunst die wesentliche Quelle der Literatur gewesen ist. In Ländern wie dem unseren gilt dies noch heute. Bei der mündlichen Dichtung stoßen wir sogar in der Gegenwart noch auf verschiedene Formen, auf verschiedene Erzählweisen.
Ob Gilgamesch, Ilias, Odyssee, Dede Korkut oder Schahname, ich bin sicher, daß die mündliche Dichtung die Literatur jeder Sprache beeinflußt hat.
Schon immer haben sich die Menschen Mythen und Traumwelten geschaffen, und sie haben zeitlebens in diesen Traumwelten Zuflucht gefunden. Je aussichtsloser ihr Leben, desto mehr Mythen und Traumwelten schufen sie sich, in die sie sich flüchteten und somit ihre Not erträglicher gestalteten. Auf ihrer Wanderung von einem Dunkel zum anderen sich ihres Todes bewußt, haben sie ihr Leben, ihre Lebensfreude, ihr Erleben und ihr Schaffen in Mythen und Traumwelten nachvollzogen.
Der Mensch ist worthaft. Und er hat immer auf die Kraft des Wortes, auf den bannenden Zauber des Wortes gebaut. Sowohl beim mündlichen Erzählen als auch beim erzählenden Schreiben habe ich jedesmal den Zauberbann des Wortes, seine Macht in meinem Innersten verspürt. Und je mehr sich mein Bewußtsein weitete, denn auch das Bewußtsein entwickelt sich ja fort, desto inniger verspürte ich in der Tiefe meines Herzens, daß die Schwingen des Wortes dem Menschen sehr hilfreich sein können.
Der kritische Essayist und Philosoph Roger Caillois war mein Freund. Oft sagte er mir: "Du mißt dem Wort eine sehr große Bedeutung bei, gerade so, als lenke nach deiner Auffassung das Wort das Weltgeschehen." - "Die Welt wird vom Wort regiert. Wenn auch nicht unmittelbar, so ist es doch das Wichtigste für jene die das Weltgeschehen bestimmend, antwortete ich ihm.
Ich habe es meiner Sprache auferlegt und wiederhole es mir seit meiner Jugend immer wieder: Wer meine Romane und Erzählungen liest, darf niemals Kriege wollen, soll vor Kriegen Abscheu empfinden und sich stets für Frieden und Brüderlichkeit einsetzen. Und er soll die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen nicht ertragen können. Denn Armut ist die Schande der Menschheit. In keiner Gesellschaftsordnung darf es auch nur einen notleidenden Menschen geben. Die Scham über Armut muß aus ihren Herzen verbannt werden, und sie sollen denjenigen verfluchen, der das Wort vom "primitiven Menschen" erfunden hat. Denn primitive Menschen gibt es nicht, und so soll niemand dieses verfluchte Wort in den Mund nehmen. Kurzum, wer meine Bücher liest, soll auf der Seite des Guten stehen, denn - Gott sei Dank! - in unseren Tagen werden, wenn auch nur nach und nach, die Wurzeln des Guten und des Bösen sichtbar.
Damit will ich sagen, daß ich ein verpflichteter, ein "engagierter" Schriftsteller bin. Genauer gesagt: mir und meinem Wort verpflichtet. Seit meiner Jugend habe ich auch immer wieder betont, daß unsere Welt wie ein Blumengarten sei, bestehend aus tausenderlei Kulturen. Wir wissen, daß im Laufe der Geschichte die Kulturen sich immer gegenseitig belebt, beeinflußt und befruchtet haben. Bis auf den heutigen Tag hat noch keine Kultur einer anderen irgendeinen Schaden Zugefügt, sie gar vernichtet. Reißen wir eine Kultur aus unserer Welt, vernichten wir eine Farbe, einen Duft, einen Teil ihrer Reichhaltigkeit. Wenn ich mein Land als Beispiel anführe meine Heimat ist Anatolien, in weiterem Umkreis die Region des Mittelmeeres-, so war diese Gegend Wiege unzähliger Kulturen. Und weil Anatolien und das Mittelmeer zahlloser Kulturen Heimstatt gewesen ist, wurden diese Regionen auch zur Quelle gegenwärtiger Weltkultur.
Um auf den heutigen Zustand meines Landes zu kommen: Auch das Osmanische Reich war ein Staat mit einer Bevölkerung verschiedener Sprachen, verschiedener Kulturen und verschiedener Religionen. Und auch in Anatolien, diesem Teil des Osmanischen Reiches, waren viele Kulturen, viele Sprachen und Religionen heimisch. Denn Anatolien war Mittelmeer und Mesopotamien. War Kaukasus und Schwarzes Meer. Und diese Kulturen Anatoliens haben sich im Laufe der Geschichte immer befruchtet. Betrachten wir nun die ägäische Küste Anatoliens, und wir stellen fest, wie viele Kulturen, wie viele Sprachen vor unserer Zeitrechnung dort gelebt haben. Diese Kulturen haben die Philosophen von Milet, haben einen Homerus geformt, aus ihnen sind Hunderte Meisterwerke hervorgegangen, sie waren ein Quell der Kultur der Menschheit.
Auch heute leben - trotz aller Verbote und Versuche, sie seit der Gründung der Republik auszulöschen - viele Kulturen mehr schlecht als recht in Anatolien weiter. Die Republik hatte aus bis heute noch nicht ganz geklärten Gründen all diese Sprachen und Kulturen verboten. Es heißt, die Triebfeder sei das Begehr nach einem Einheitsstaat gewesen, den man mit einem Anatolien der verschiedenen Kulturen nicht hätte gründen können. Die Begeisterung für einen Einheitsstaat äußerte sich dahin gehend, die türkische Kultur und Sprache zur alleinigen, zur alles beherrschenden Sprache und Kultur zu erheben. Damit aber wurde auch die türkische Sprache, die türkische Kultur geschwächt. So hatte zum Beispiel die von einem Drittel der Bevölkerung gesprochene kurdische Sprache und die kurdische Kultur auch die türkische Sprache und Kultur bereichert. Und umgekehrt die türkische Kultur die kurdische. Desgleichen befruchteten die Sprachen der Tscherkessen, der Lasen und anderen kaukasischen Völker, die Sprachen der Araber, der syrischen Christen und der Assyrier sich gegenseitig, bereicherten gleichzeitig aber auch das Türkische und Kurdische. Wenn auch die gegenwärtigen Kulturen Anatoliens nicht mehr in dem Maße wie ihre Vorgänger früherer Zeiten Quellen der Weltkulturen sind, so könnten sie ihnen doch immer noch von großem Nutzen sein.
Da seit siebzig Jahren den Kurden das Lesen und Schreiben in ihrer Sprache verboten war, griffen sie gezwungenermaßen zur mündlichen Dichtkunst, schufen große Sagen, Märchen, Volks- und Klagelieder. Es entstand eine sehr reiche Volksdichtung, in der sie die Macht des Wortes im Rahmen der mündlichen Dichtkunst benutzten und diese fortentwickelten. Unbemerkt sogar von vielen kurdischen Intellektuellen, so daß eine umfassende Sammlung dieser Folklore bisher nicht stattgefunden hat. An türkischen Universitäten gibt es auch heute noch kein Institut für kurdische Sprache, Folklore und Literatur.
Doch es hat sich erwiesen, daß es ein schwieriges Unterfangen ist, in Anatolien einen Einheitsstaat zu gründen. Sollte es dennoch gelingen, richtete er sich gegen den Reichtum der Türkei in jeder Hinsicht. Denn Anatolien ist ein Mosaik der Kulturen. Seine Größe und seinen Reichtum verdankt es seinen Reichtum an Kulturen und Sprachen. Das siebzigjährige Bestreben des türkischen Staates nach einem Einheitsstaat hat dieses Land mit den so großen Möglichkeiten in die heutige Lage gestürzt, hat es in eine Kuriosität verwandelt, deren Regierungsform nicht erkennbar ist. Ist die Türkei ein demokratisches Land, wird sie von einer Diktatur gelenkt? Den Durchblick haben nicht einmal die Regierenden selbst. Ein völliges Durcheinander.
Für ihre Sprache und Kultur begehren die Kurden auf. Die Antwort der Regierung: "Geben wir erst eurer Kultur und Sprache die Freiheit, verlangt ihr auch noch die Unabhängigkeit. Es geht doch nur darum". Und seit zwölf Jahren findet ein unglaublich schmutziger, grausamer und sinnloser Krieg statt, dessen Ende noch gar nicht abzusehen ist.
Die überwiegende Mehrheit türkischer und kurdischer Intellektueller will, daß dieser Krieg schnellstens beendet werden muß.
Durch diesen Krieg wurde die Türkei zutiefst verletzt. Mit ihr die von uns für demokratisch gehaltene Staatslenkung. Sie weiß nicht ein noch aus, steht kopflos da. Die Welt kennt unsere Lage besser, als wir sie kennen. Aber auch die sich für Menschenrechte einsetzende Welt ist verletzt worden. Auch die Partner der Türkei sind bestürzt. Sie wollen bestimmt nicht mit so einer Situation konfrontiert bleiben.
Die Demokratie ist ein Ganzes. Sie muß für die ganze Menschheit gelten. Und alle echten Demokraten müssen den Menschen, die - wo auch immer - in einer Demokratie leben wollen, die für Demokratie kämpfen, mit allen zur Verfügung stehenden Kräften helfen.
Ich habe einen tief verwurzelten und, wie ich denke, unerschütterlichen Glauben an den Optimismus des Menschen. Das Herz des Menschen ist voller Lebensfreude. Wir kommen aus einem Dunkel und gehen in ein Dunkel, das ist gewiß; wir haben viel Böses, haben viele Kriege, viele Seuchen, viele Greuel erlebt, und dennoch heißt es, die Welt ist schön, wir wollen sie nicht missen. Dies sind nicht meine Worte, ich habe sie aus den Sagen, den Volksliedern, den Märchen, den Balladen, den Klageliedern, und ich habe sie von Dostojewski. Woher wir auch kommen, wohin wir auch gehen mögen, so haben wir doch diese schöne Welt, dieses Licht, diese tausendundeinfarbige Erde, diese lebensfrohen Menschen gesehen, haben sie erlebt. Was, wenn wir gar nicht gekommen, diese schöne Welt überhaupt nicht erlebt hatten ... ?
Die Lebensfreude im Menschen ist unsterblich. Ich wollte immer der Sänger des Lichts, der Sänger der Freude sein; habe immer gewollt, daß die Leser meiner Romane Menschen voller Liebe seien: zum Menschen, zu Wolf, Vogel und Käfer, zur ganzen Natur.
Und ich bin überzeugt, daß die auf dieser Erde so prächtiger Kulturen seßhaften Menschen meines Landes nicht in diesen Zustand verbleiben, daß sie diese fruchtbare Kulturlandschaft wieder zum Grünen bringen, daß wir früher oder später zu einer echten Demokratie gelangen und daß wir der Länder Völker auf der ganzen Welt, die ihren Kampf für die Demokratie austragen, unsere Hilfe nicht versagen werden.


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