GegenDruck Nr. 23 - Mai 1998
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Bericht von den Aktionen der französischen "sans papiers“

Staatlicher Rassismus

Im folgenden dokumentieren wir einen Beitrag zum aktuellen Stand der
"sans-papiers“-Bewegung in Frankreich. Die Bewegung nahm ihren Ausgangspunkt mit der Besetzung der Saint-Bernard-Kirche in Paris 1996. Die zentrale Forderung der "papierlosen“ MigrantInnen war/ist: Papiere für alle! Die gewaltsame Räumung und darauffolgend die Abschiebungen von mehreren BesetzerInnen konnten nicht verhindern, daß sich die Bewegung ausbreiten konnte und von vielen Menschen und Gruppen in Frankreich unterstützt wird. Mittlerweile sind die "sans-papiers“ auf der politischen Bühne zu einem festen Begriff geworden und aus antifaschistischen und antirassistischen Mobilisierungen, sowie der Arbeitslosenbewegung in Frankreich nicht mehr wgegzudenken. Der Artikel wurde der französischen Antifa-Zeitung No Pasaran entnommen und übersetzt.

Sans-Papiers: Chronik einer ausländerfeindlichen Woche

Die zusammenarbeitende Linke steht der Rechten [1] in den Bereichen der Repression, des Rassismus und der staatlichen Ausländerfeindlichkeit in nichts nach. Aber müssen wir uns darüber noch wundern?

Sonntag, 15. März:

Gegen 10 Uhr besetzen hundert "sans-papiers“ des 6. Kollektivs (gegründet vor einigen Tagen im 18. Arrondissement) die Notre-Dame de la Gare-Kirche am Place Jeanne d’Arc. Sie fordern die sofortige Freilassung von Bathili Boubakar, der am 10. März festgenommen wurde. Die BesetzerInnen verfolgen desweiteren noch ein anderes Ziel: Die Wiedereröffnung der Akten für eine Regelung für alle.[2] Schnell kommen UnterstützerInnen und Leute aus dem Viertel, um ihre Solidarität und ihre entschlossene Haltung an diesem Tag der "großen Wahlmesse“ [3] zum Ausdruck zu bringen. Darauffolgend die ebenfalls schnelle Stationierung eines beeindruckenden Truppenkontigents der Polizei, die jegliche Kommunikationsmöglichkeit mit den "sans-papiers“ verhindert. Die Spannung steigt als die CRS die "djumbés“ [4] verbietet. Trotz der Blockade gelingt es den UnterstützerInnen, Lebensmittel und Decken in die Kirche zu bringen, wobei sie Angriffen der Polizei ausgesetzt waren. Während dieser Zeit verlaufen die Verhandlungen über die Freilassung von Barhili Boukabar im Sande. Die Zusagen der Behörden lösen sich schnell ins Nichts auf, als auf einen Anruf bei der DICILEC folgend bekannt wird, daß die BesetzerInnen belogen worden sind, da Bathili schon nach Roisy gebracht wurde, um von dort abgeschoben zu werden. Gegen 20 Uhr lassen die Bewegungen von Spezialeinheiten darauf schließen, daß eine bevorstehende Räumung droht. Die massenweise Präsenz von UnterstützerInnen trägt nach Meinung vieler ohne Zweifel dazu bei, daß die Behörden unschlüssig und wenig dazu geneigt sind, einen Wahlabend mit dem Bild einer zweiten Kirche Saint-Bernard zu versehen. Die Haltung des von der Pfarrgemeinde beauftragten Priesters war während des ganzen Tages besonders widerlich. Sehr intensiv beschäftigt mit der Reinhaltung der Kirche, schließt er die Toiletten, dreht die Heizung und den Strom ab, um dann die Schlüssel der Kirche schließlich den Ordnungskräften zu übergeben … Schon am frühen Morgen um 6 Uhr findet eine Demonstration der Stärke statt, die mit denen vergleichbar ist, die man schon in der Vergangenheit erlebt hat. Beschimpfungen, Schläge, die Trennung von Weißen und Schwarzen ... Die "sans-papiers“ werden sofort in Polizeigewahrsam genommen und zum "dépôt de la Cité“ verfrachtet. Einer der Delegierten des 6. Kollektivs kommt in den Genuß des "Rechts“ auf eine besondere Behandlung: digitale Registrierung seiner Fingerabdrücke, Fotos, rassistische Beschimpfungen und Demütigungen aller Art. Die repressive Gewaltspirale hat nun erst begonnen und wird sich im Laufe der Woche verschärfen.

Montag, 16. März:

Um 12 Uhr Versammlung vor der Polizeipräfektur "La Cité“. Alles ist schon vor Ort, um jegliche Auseinandersetzungen zu ersticken. Spezialeinheiten und Geheimdienst sind überall, auf dem Platz vor der Polizeipräfektur und in der Metro. Ankommende UnterstützerInnen und "sans-papiers“ werden sofort festgenommen. Diejenigen, die der Mausefalle entgehen und sich sammeln können, werden sofort eingekreist und niedergeknüppelt. Weitere Protestversuche derselben Art an diesem Tag erfahren dasselbe Schicksal.

Mittwoch, 18. März:

Um den zweiten Jahrestag der Besetzung der Kirche Saint-Ambroise zu feiern, besetzen hundert AfrikanerInnen, die aus den Arbeitervierteln von Paris und ihrer Vorstädte gekommen sind, dieses Mal die Kirche Saint-Jean de Montmartre im 18. Arrondissement. Unglücklicherweise können sie dort nur einige Stunden bleiben, bevor sie alle verhaftet werden. Insgesamt gab es also während einiger Tage mehr als 300 Verhaftungen in Paris.

Die Woche endet mit dem Eifer und der einfach bemerkenswerten Leistung der Justizbehörden. Der 35. "bis“, der Menschen ohne geregelte Aufenthaltsgenehmigung verurteilt, hat anschließend mehr als 24 Stunden ohne Unterbrechung getagt, wie in den guten alten Zeiten von Saint-Bernard. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden schon ungefähr 10 Menschen mit dem Flugzeug abgeschoben, gefesselt, betäubt mit Alkohol und Chloroform, ganz in der Tradition von Pasqua-Debré. [5] Die anderen verhafteten "sans-papiers“ warten im Gefangenenlager, bis sie an der Reihe sind. Die Regierung versucht offenkundig das unvermeidliche Wiederaufleben der "sans-papiers“-Bewegung im Keim zu ersticken. Man schätzt, daß heute ungefähr 70.000­100.000 Menschen einen Bescheid über das Verlassen des französischen Territoriums erhalten haben. Diese 100.000 Menschen, die alle die Akten für eine Regulierung ihrer Situation ausgefüllt haben, befinden sich in einer schlimmeren Situation, wie vor dem Rundschreiben von Chevènement [6], weil daran erinnert werden muß, daß die Polizeibehörden nun Karteikarten mit Adressen, Arbeitsplätzen und Koordinationen der Leute, die "sans-papiers“ beherbergen, in ihren Händen halten. Sie werden nicht zögern, neue Verhaftungen durchzuführen.
Seit mehreren Wochen taucht die Bewegung der "sans-papiers“ wieder auf und verstärkt sich: Die erste langandauernde Besetzung der Kathedrale von Évry von 40 Menschen des Kollektivs 91, gefolgt von 50 Menschen des Kollektivs 94, die die Kathedrale von Créteil besetzten. Neuigkeiten und neue Möglichkeiten ergeben sich durch das Erscheinen der mehr und mehr wichtigen Mobilisierung in den Arbeitervierteln von Paris und ihren Vorstädten auf der politischen Bühne. Dies zeigt, daß der seit zwei Jahren andauernde, engagierte Kampf heute damit beginnt, Früchte zu tragen. Zum Zeitpunkt der Besetzungen schlossen sich auch AfrikanerInnen mit legalem Aufenthaltsstatus der Bewegung solidarisch an. Aber die Solidarität endet nicht hier, wie der relative Erfolg der letztlich durchgeführten, unterschiedlichen Aktionen auf dem Flughafen von Roissy gezeigt hat. Zum wiederholten Male haben sich Passagiere entweder geweigert, das Flugzeug zu besteigen oder mit Nachdruck ihren Unmut demonstriert. Die Behörden waren dazu gezwungen, die "sans-papiers“ aus dem Abschiebeverfahren herauszunehmen.
Es ist nicht verwunderlich festzutellen, daß diese Regierung versucht, jede Solidarität zwischen Franzosen und AusländerInnen zu verhindern. Das ist das Ziel der geänderten Fassung des 21. Artikels des Erlasses von 1945, der von Chevènement verbessert wurde. Nach diesem Artikel würden sich Gewerkschaften, Organisationen und Kollektive, die die "sans-papiers“ unterstützen, vor Gericht strafbar machen. Es ist ein wahrhaftes Solidaritätsdelikt, das an das Gastfreundschaftsdelikt des ersten Gesetzes von Debré erinnert. In diesen Zeiten der feierlichen Erinnerung an die großen Werte der Republik von seiten Jospins und Chiracs, ist das Gegenteil der Fall. Die Brutalitäten der Polizei, die Mißachtung elementarer Rechte, die Desinformation und die Lüge begleiten das Wieder-an-die-Macht-kommen der Sozialisten. Die erfolgreiche Anstrengung der Regierung, AusländerInnen zu den Sündenböcken der französischen Politik zu machen bestätigt, daß die staatliche Ausländerfeindlichkeit der gemeinsame und wichtigste Wert der Demokraten der zusammengesetzten Linken und Rechten ist.

Comission SCALP/REFLEX

(aus: No Paseran! April 1998)

[1] "Gauche plurielle et Droite plurielle“ verweisen zum einen auf die derzeitige linke Regierungskoalition aus Sozialisten (PS), Kommunisten (PCF) und Grünen unter dem Ministerpräsidenten Lionel Jospin und zum anderen auf das ehemalige Regierungsbündnis der konservativen und republikanischen Rechten (RPR und UDF).
[2] Die zentrale Forderung der BesetzerInnen der Saint-Bernard-Kirche 1996 war die Wiedervorlage und Bearbeitung aller Akten von "sans-papiers“ und ihre Anerkennung mit legalem Aufenthaltsstatus.
[3] An diesem Tag fanden in Frankreich Regionalwahlen statt.
[4] Gemeint sind wahrscheinlich afrikanische Trommeln.
[5] Pasqua und Debré waren die jeweiligen Innenminister der letzten beiden rechten Regierungskoalitionen unter Chirac und Juppé.
[6] Chevénement ist der derzeitige Innenminister der linken Regierungskoalition; er gehört dem linksnationalistischen Flügel der Sozialistischen Partei an.

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