Taschenspielertricks im Maisfeld
Sommerloch/BRD. Jede radikale Gesellschaftskritik hat das Problem, ihre Kritik darstellen zu müssen: Wie kann etwas kritisiert werden, etwa Rassismus, Sexismus oder Nationalismus, ohne in der Kritik wieder in die kritisierten Anschauungsformen und Kategorien zurückzufallen? Wie also kann Rassismus kritisiert werden, ohne in der Kritik wieder von verschiedene Menschen, Rassen oder Kulturen zu sprechen (die gegenüber dem Rassismus dann lediglich als „gleichwertig„ herausgestellt werden, wie im positiven Multi-Kulti-Rassismus der Grünen); wie Sexismus kritisieren, ohne dabei wieder von Mann und Frau sprechen und die Geschlechterstereotypen transportieren zu müssen? Wie kann überhaupt die Ungleichheit und Differenz von Menschen, Kulturen, Geschlechtern kritisiert werden, wenn auch der Kritik die Differenzen der Kulturen oder von Mann und Frau wieder immer schon vorausgesetzt werden muß? Die Kritik reproduziert also den Gegenstand, der durch die Kritik ja eigentlich als falsch oder unnötig, als falsches Bewußtsein oder Lüge dargestellt werden soll. Denn das Problem ist, daß in der Frage nach dem, was die Frau denn nur „eigentlich„ oder in „Wirklichkeit„ ist, „die Frau„ bereits Ausgangspunkt ist und somit schon unverrückbar als „Frau„ festgeschrieben. Da jeder Versuch einer der Bestimmung dessen, was anders soll als das Bestehende, nur das Bestehende selbst noch einmal formulieren kann, versuchte z.B. die Kritische Theorie eine rein negative Gesellschaftskritik zu formulieren ohne positive Lösungen und ohne positiven Ausweg. Noch einen Schritt weiter gingen postmoderne Diskurs- und Dekonstruktivismus-Theorien, die jeden Gegenstand und jede Bestimmung als Produkt eines Diskurses dekonstruieren. Es gibt also kein biologische Differenz von Mann und Frau, keine naturhafte Substanz der Menschen oder sonst eine Eigentlichkeit oder ein an-sich-sein, sondern all dies ist auf derselben Ebene Produkt des Diskurses, also der Ordnung von Zeichen (Sprache, Schrift, Symbole, Gesten, Design, Kleidung etc.) wie die besonderen kulturellen und sozialen Eigenschaften, die ja immerhin allgemein als veränderbar gelten. So läßt sich etwa diskurstheorisch zeigen, wie aus dem Albaner, der gestern noch als krimineller Hütchenspieler und Drogenhändler war, heute ein hilfloser Flüchtling wird, bzw. warum er als Opfer Geltung hat, solange er sich im Kosovo befindet, in Deutschland aber plötzlich als Täter auftaucht. Oder warum die Nation ein kulturelles Konstrukt ist, das keinerlei biologisches, geschichtliches oder kulturelles Substrat hat außer eben dem, was ihr durch den Diskurs zu- und eingeschrieben wird: Blut und Boden, Kultur, Geschichte usw., wobei der Vorgang des Einschreibens seinen Gegenstand überhaupt erst konstruiert. Die Materialität der Geschlechter oder der Nation wird also nicht geleugnet, im Gegenteil: die Materialität ist selber Nachweise eines Effektes, der eben durch den Diskurs verursacht wurde.
Nun wurde im Sommerloch ein solches Diskursprodukt konstruiert, das diesen Namen wahrlich verdient hat und an dem nahezu ganz Deutschland arbeitsteilig mitgebaut hat: Dieter Zurwehme. Schon die jahrzehntelange Knastzeit Zurwehmes hatte zunächst jeden Schein seiner Existenz gelöscht. Doch dann brach Zurwehme aus seiner Inexistenz angeblich aus und wurde erneut zu einem handelnden Menschen, jedoch – er entäußerte sich nur durch die Spuren, die er hinterließ, er setzte Zeichen im Diskurs, die als seine Fährten aufgenommen wurden: einen Doppelmord z.B., der ihm zugeschrieben wird, oder durch ein gezocktes Fahrrad. Doch ein Gegenstand ist erst dann ein richtiges Diskursprodukt, wenn er eben rein-gesellschaftlich konstruiert wird, Zurwehme also sein selbst ohne Eigenanteil und Zutun nur durch andere zugeschrieben bekommt. Diese höchste Ebene erreichte Dieter Zurwehme, als er an 22 deutschen Orten gleichzeitig gesehen wurde, darunter mehrere Großstädte und Mallorca. Damit war Zurwehme bereits in einen bloßen Zustand übergegangen, der sich, wie ein Quantenteilchen, nur noch mit relativen Wahrscheinlichkeiten umschreiben läßt. Je mehr sich Zurwehme aber verflüchtigte, um so deutlich wurde, daß das ganze eben auch ohne ihn funktioniert, so wie der Antisemitismus ohne leibhaftige Juden: Der Staat und die Medien fragen nach Zurwehme und erzeugen Unsicherheit, die Bevölkerung antwort (bzw. umgekehrt, die Unsicherheit und die Angst vor Verbrechen der Bevölkerung und der Medien fragen beim Staat um mehr Sicherheit und Repression nach und dieser antwortet). Und wer immer noch nicht verstanden hatte, wie sich der Staat und seine Bevölkerung auf diese Weise ihr eigenes Außen und ihre Feinde diskursiv erzeugen, dem machte es die Polizei noch einmal besonders deutlich, indem sie einen kleinen, etwa maisfeldgroßen „diskursiven Zirkel„ bildete, aus dem immer wieder ein Stück von Dieter Zurwehme herauskam: Zu hunderten wurden solche Felder durchkämmt, wobei der Hintermann ein Messer aufliest, das der Vordermann verliert. Das Messer wird in einen Frischhaltebeutel gesteckt, weil es ja von Dieter Zurwehme ist. (Leider hat der Vordermann dann sein Messer gesucht und gesehen, das es in dem Beutel steckt.) Das gleiche auch an anderen Orten: riesige Polizei-Heere, vermummt, mit Mähdreschern und Maschinenpistolen, holen aus verschiedenen durchkämmten Maisfeldern zwei angebissenen Würstchen, eine Bild und ein altes Fahrrad, die alle als Spuren von Zurwehme aufgelesen werden. Das tolle dabei ist: Alles läuft eigentlich so, wie man es sich schlimmer nicht vorstellen kann bzw. so reibungslos wie Bevölkerung und Staat es sich wünschen, und trotzdem klappt es nicht. Der Polizei-Apparat läuft heiß und heizt dabei eine paranoide Bevölkerung an, diese wiederum feuert die Polizei ordentlich an, und alles was rauskommt sind zwei angebissene Würstchen, ein verlorenes und gleich wiedergefundenes Taschenmesser und ein erschossener holländischer Urlauber, den Zivilpolizisten mit Zurwehme verwechselten (der Urlauber hielt wiederum die Zivilpolizisten für Räuber).
Dabei haben sich die Bullen von Sommerloch zu Sommerloch noch gesteigert. Nachdem sie im Sommerloch vor zwei Jahren noch Jagd im Baggersee auf den entlaufenen Waran Samy und im letzten Jahr auf zwei entsprungene Kängeruhs gemacht haben (womit das Sommerloch aber nicht so richtig ausgefüllt wurde), scheint nach dem diesjährigen Riesenevent eine Steigerung kaum noch möglich. Denn wofür es früher noch eine RAF oder die Russen gebraucht hat, da reicht heute ein graumelierter Senior („Deutschlands gefährlichster Verbrecher„), der mit dem Rad durchs Land fährt, in Gartenhäusern schläft und sich bei der erstbesten Gelegenheit widerstandslos festnehmen läßt, um einen Polizei-, Medien- und Denunzianten-Apparat in Gang zu setzen, der sich offensichtlich für nichts zu blöd ist. Wer der RAF also Taschenspielertrickserei vorgeworfen hat, weil sie den verselbständigten, heißlaufenden Staatsapparat, den sie entlarven wollte, ja selbst erzeugt habe, der sieht sich nun vor die schwierige Aufgabe gestellt zu erklären, wie das ganze denn auch ohne RAF funktionieren kann.
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