Fast 60 Jahre nach SS-Massaker in griechischem Bergdorf soll der Bundesgerichtshof über eine Entschädigung entscheiden

Von Joachim F. Tornau (Kassel), Frankfurter Rundschau vom 12.06.2003

Seit Jahren kämpfen Überlebende nationalsozialistischer Kriegsverbrechen in Griechenland um Entschädigung - bislang vergeblich. Jetzt will der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe entscheiden, ob Deutschland Schadenersatz zahlen muss.

Am 10. Juni 1944 war Argyris Sfountouris noch ein Kleinkind, keine vier Jahre alt. Doch die Erinnerung an jenen Tag, als eine SS-Polizeidivision sein Heimatdorf Distomo niederbrannte und 218 Bewohner abschlachtete, hat sich fest in sein Gedächtnis eingeschrieben. "Ich erinnere mich sehr intensiv an die Bilder", sagt der 63-Jährige. Aus Rache für einen Partisanenangriff in der Nähe brachten die Deutschen Männer und Frauen, Greise und Säuglinge um. Auch Sfountouris' Eltern und 30 weitere Mitglieder seiner Familie mussten sterben.

Nach dem Krieg wurde keiner der Täter zur Rechenschaft gezogen. Die Zahlung von Entschädigung verweigert Deutschland bis heute. Das Massaker sei kein Verbrechen gewesen, sondern eine normale "Maßnahme im Rahmen der Kriegsführung", hieß es zur Begründung.

Die "Distomo-Lüge" nennt das Sfountouris. Vor acht Jahren verklagten er und seine drei Schwestern die Bundesrepublik und verlangten Schadenersatz für das zerstörte Haus, das geraubte Eigentum, für berufliche Nachteile und gesundheitliche Schäden. Doch mit dem Hinweis auf die Staatenimmunität wiesen die ersten beiden Instanzen die Klage ab: Die Angelegenheit müsste zwischen den beiden Staaten geregelt werden, individuell sei keine Entschädigung einklagbar.

Hoffnungen auf einen Sieg in höchster Instanz, vor dem BGH, macht sich Sfountouris daher nicht. Immerhin sei sein Hauptanliegen erreicht: Der Fall Distomo könne nicht länger verschwiegen werden. Aus seiner Verbitterung angesichts der deutschen Haltung macht er dennoch keinen Hehl: "Es scheint hier zur Mentalität zu gehören, dass man die Opfer nicht ernst nimmt und dass man sie weiter schikaniert." Nicht ein einziges Wort der Reue oder der Entschuldigung habe er jemals von einer deutschen Regierung gehört.

Das mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass es für Deutschland sehr teuer wäre, die Kriegsverbrechen anzuerkennen. Im April 2000 verurteilte der Areopag, das höchste Gericht Griechenlands, die Bundesrepublik zur Zahlung von 28,5 Millionen Euro Entschädigung an die Angehörigen und Hinterbliebenen der Opfer von Distomo. Und Massaker wie in dem Bergdorf gab es während der Besatzungszeit mehr als 60, mit Zehntausenden von Toten. Vor griechischen Gerichten sind daher noch rund 50 000 Einzelklagen auf Entschädigung anhängig. Die spektakuläre Entscheidung des Areopag wurde allerdings von einem eilends durch die griechische Regierung eingesetzten Sondergericht wieder gekippt.

Wie auch immer nun in Karlsruhe entschieden wird - die Überlebenden wollen nicht aufgeben. Aristomenis Singelakis vom griechischen Nationalrat für die Entschädigungsforderungen sagt: "Es geht uns weniger um das Materielle als um die Anerkennung dessen, was geschehen ist."