Dreihundert letzte Tage - Ludwig Baumann und die Ehre der Wehrmachtsdeserteure

von Henning Bleyl In Bremen-Vegesack lebt ein Mensch, der wurde am 13. Dezember 80 Jahre alt. Das grenzt an ein Wunder, denn Ludwig Baumann ist Wehrmachtsdeserteur.

"Der Soldat kann sterben, der Deserteur muß sterben", hatte Hitler verfügt. 30.000 Todesurteile verhängte die NS-Militärjustiz; 20.000 wurden vollstreckt (bei der US-Army im Zweiten Weltkrieg eines). Weniger als 4.000 Fahnenflüchtige überstanden Konzentrationslager und Strafbataillon. Heute leben noch etwa 200. Sie wurden nie eindeutig rehabilitiert. Darum kämpft der alte Mann aus Bremen.

Geboren in Hamburg, als einfacher Leute Sohn. Der Vater hatte sich zum Tabak-Großhändler hochgeackert. Ludwig Baumann war ein Mutterkind. Der Vater nannte ihn Waschlappen. Die Mutter starb durch einen Verkehrsunfall. Ludwig, haltlos, wurde renitent. Der Hitlerjugend verweigerte er sich. Er musste zur Wehrmacht, bockte, wurde geschliffen und schikaniert. Als Deutschland im Juni 1941 die Sowjetunion überfiel, war Baumann in Bordeaux stationiert. In der Wochenschau sah er Hitlers Ostfront-Triumphe und den russischen Winter. Er fragte sich: Was wird aus den besiegten Russen? Verhungern, erfrieren sie? Ist nicht der Krieg ein Verbrechen? Gleich dem Klagesänger aus Mathias Claudius´ berühmtem Gedicht wünschte Baumann, nicht schuld daran zu sein. Mit seinem Freund Kurt Oldenburg plante er die Flucht: erst ins unbesetzte Vichy-Frankreich, dann nach Marokko, dann, irgendwie, nach Amerika. Wir wollten nicht töten, sagt Baumann, und wir wollten leben.

Eine Streife griff die beiden auf. Obwohl bewaffnet, vermochten sie nicht zu schießen. Kurzer Prozess. "Dem Angeklagten Baumann ist seine gute bisherige Beurteilung und seine Jugend (...) weitestgehend zu gute gehalten worden. (...) Die Flucht von der Fahne ist und bleibt das schimpflichste Verbrechen, das der deutsche Soldat begehen kann."

Die Höchststrafe. Zehn Monate saß Baumann in der Todeszelle, dreihundert letzte Tage lang. Wie erträgt man das? Baumann weiß es nicht mehr; er hat es verdrängt, bis auf einen tropfenden Wasserhahn. Wenn du morgen tot bist, dachte er, dann tropft der weiter.

Über Monate verschwieg man ihm, dass er längst begnadigt war, zu zwölf Jahren Zuchthaus. Dann Torfstecher im Emsland-KZ, dann Häftling in Fort Zinna/Torgau, dem Hauptquartier der NS-Militärjustiz, wo Baumann aus erzieherischen Gründen immer wieder Deserteurserschießungen beizuwohnen hatte. Manchmal erhielt er beim Drillichwechsel eine Jacke, die trug vorn überm Herzen einen Flicken und rückseitig einen zweiten, größeren. Da wusste Ludwig Baumann, dass in dieser Jacke ein Kamerad erschossen worden war. Dann Ostfront, Weißrussland, Strafbataillon 500. Wir wurden da einfach reingeschmissen, sagt Baumann, da hat fast keiner überlebt, ich kann schlecht darüber reden, über das Grauen.

Auch Kurt Oldenburg kam um. Ludwig Baumann wurde verwundet. Im Wehrmachtslazarett von Brünn schloss ihn ein dienstverpflichteter tschechischer Arzt in sein Herz, der behandelte die Wunde so, dass sie bis Kriegsende nicht heilte. Er fand heim, der verlorene Sohn. Der Vater umarmte ihn nicht. Hitler hin und her - als Deserteur hatte er Schande gemacht. Baumann begann zu saufen. In den westdeutschen Kneipen der fünfziger und sechziger Jahre blieb der Russe Untermensch. Es war Kalter Krieg. Baumann fand, wenn die Rote Armee gewütet hätte wie zuvor die Wehrmacht in der Sowjetunion, dann existierte kein Deutschland mehr. Für solche Töne gab´s Ärger, und Drohbriefe zuhauf. Leseprobe von 1994: "Seien Sie versichert, Volksschädling Baumann, daß Sie sich für alles alsbald vor dem Reichskriegsgericht in Berlin zu verantworten haben. (...) Was Sie zu erwarten haben, ist klar. Nehmen Sie vorher Zyankali, dies erspart Ihnen Nerven und der alsbald wieder funktionierenden reichsrechtlichen Justiz und dem Herrn Reichs-Finanzminister etliche Reichsmark. Mit deutschem Gruß..." Voller Absender.

Am 15. Mai 1997 dekretierte der Deutsche Bundestag: "Der Zweite Weltkrieg war ein Angriffs- und Vernichtungskrieg, ein vom nationalsozialistischen Deutschland verschuldetes Verbrechen." Die Urteile der Wehrmachtsjustiz wurden für Unrecht erklärt - mit einer Ausnahme: Bei Desertion sei jeder Einzelfall auf echte Widerstandsgesinnung zu prüfen. Unmöglich könne rückwirkend für legitim erklärt werden, was auch nach heutigem Recht unter Strafe falle. - Das heißt: Nach einer Biographie der Demütigungen in der restaurativen Bundesrepublik sollen die letzten Überlebenden beweisen, dass ihre Desertion höheren Zielen folgte als dem elementarsten: Mensch zu bleiben statt Mörder zu werden oder Toter. Die von Ludwig Baumann geleitete Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz lehnt dieses entwürdigende Verfahren ab. Und der Nach- und DDR-Geborene reibt sich die Augen, als sei er im Vorgestern erwacht, im Panoptikum der Ritterkreuzträger. Wie lange soll noch eine Ehre des braven, missbrauchten Hitler-Soldaten auf Kosten derer verteidigt werden, die sich nicht missbrauchen ließen?

Ludwig Baumann und seinesgleichen sind deutsche Helden der Verweigerung. - Helden, das missfällt dem bescheidenen Greis, der die Tiefen seines Lebens nicht verschweigt. Vom Alkohol kam er erst los, als seine Frau bei der Geburt des sechsten Kindes starb. Dann endlich kämpfte er - um seine Kinder, dann um seine Ehre, dann auch um die seiner verstreuten Schicksalsgenossen. Die Friedensbewegung half, dass sie Verständnis fanden. Ihre Vereinigung gibt es seit 1990. Doch noch immer haben sie in Torgau am Fort Zinna keinen Ort des Gedenkens - dafür die Opfer des Stalinismus. Aber gesellschaftlich, sagt Ludwig Baumann, sind wir Deserteure heute rehabilitiert.

Und warum wollen Sie das unbedingt auch gesetzlich? - Damit man es hat. Dass man sich drauf berufen kann. Die Zeiten ändern sich. Wir Zeitzeugen werden weniger, die anderen mehr. Die anderen - das sind auch die Relativierer des Krieges. Da zerbomben wir Afghanistan und verteidigen eine unmenschliche Weltwirtschaftsordnung, sagt Ludwig Baumann, auch am 11. September sind Tausende von Menschen verhungert.

Jetzt machen wir einen Spaziergang von Baumanns kleiner Wohnung in Bremen zum Bürgerhaus. Darin steht ein kleines Denkmal von rührender Hobby-Ästhe- tik, ein Säulchen mit Betonkopf im Stahlhelm: Dem unbekannten Deserteur. Baumann streichelt die Stele: Das ist mein Freund. - Sein Freund, obschon so unscheinbar, hat schon einige Ruhe gestört. Baumann erzählt, wann immer Bremens früherer sozialdemokratischer Bürgermeister Klaus Wedemeier auf Ex-Verteidigungsminister Wörner (CDU) getroffen sei, habe der Hardthöhen-Chef verlangt: Das Deserteurs-Ding muss weg, sonst bekommt Bremen keine Rüstungsaufträge mehr!

Der alte Mann und die Soldaten

Ludwig Baumann, einer der letzten noch lebenden Wehrmachts-Deserteure, in Aktion am Bremer Hauptbahnhof. Der 81-Jährige ruft zur Kriegsdienstverweigerung auf und seine Mitstreiterinnen bemerken: "Im Moment ist die Öffentlichkeit auf Frieden eingestellt" taz Die Frauen vom Bremen-Norder Friedenskreis haben jahrelange Erfahrung im Verteilen von Flugblättern. Sie kennen schneidende Kälte, unwirsche Passanten und abfällige Kommentare - aber gestern am Bremer Hauptbahnhof war die Stimmung gut.

"Man merkt, dass die Öffentlichkeit im Moment auf Frieden eingestellt ist", sagt eine der gestandenen grauhaarigen Damen, die angesichts der Irak-Krise zur Kriegsdienstverweigerung aufrufen. Und manchmal können sie sich sogar amüsieren, wie über den verlegenen Herrn, der ihr Flugblatt partout nicht annehmen kann - weil er beim Kreiswehrersatzamt arbeite.

Der Senior der Gruppe ist Ludwig Baumann, bundesweit bekannt als Kämpfer für die Rehabilitierung der Wehrmachts-Deserteure. 1942 hatte er sich absetzen wollen, wurde aber gefasst und überlebte den Krieg schließlich im KZ.

Seit 20 Jahren geht Baumann regelmäßig auf die Bahnsteige, um junge Soldaten zur Verweigerung zu bewegen - unterbrochen nur 1987 durch ein Aufenthaltsverbot im Bremer Bahnhof wegen "Behinderung des Reiseverkehrs". Den Bahnsteig Fünf für den Zug nach Vegesack sowie das Bahnhofsklo durfte er nur eskortiert betreten, bis das Verbot schließlich vom Oberlandesgericht kassiert wurde.

Baumann ist alles andere als ein dogmatischer Prediger. Der zierliche Mann mit dem feingeschnittenen Gesicht spricht sehr präzise und unaufgeregt, geht mit dem schlichten Satz "ich weiß, wie der Krieg ist" auf die in Grüppchen herumstehenden Jungsoldaten zu. Deren Reaktionen reichen von "will ich mir gar nicht anhören" über ein erstauntes Sinkenlassen der Bierdose bis zum interessierten "ich werd das Flugblatt mal lesen."

Von Baumanns eigenen fünf Söhnen haben sich der Älteste und der Jüngste für die Bundeswehr entschieden - was Baumann wohltuend gelassen kommentiert: "Manchmal muss man gegen seinen Vater eben opponieren." Schließlich hat auch er sich keineswegs in die Fußstapfen seines Vaters begeben, eines Hamburger Großkaufmanns mit besten Beziehungen bis hinein in die Wehrmachtsführung. Diesem Einfluss wiederum ist zu verdanken, dass Baumanns Todesurteil in eine Zuchthausstrafe umgewandelt wurde, was ihm allerdings erst nach sieben Monaten Haft mitgeteilt wurde. Zuvor rechnete er jeden Morgen beim Wachwechsel mit dem Kommen des Erschießungskommandos.

Wenn Baumann bei den jungen Soldaten auf dem Bahnsteig Gehör für seine Lebensgeschichte findet, treffen sich Welten. Und trotzdem wirkt er keineswegs wie ein Mahner aus dunklen Vorzeiten, sondern hat eine beneidenswerte Präsenz und Leichtigkeit im Umgang mit den 60 Jahre Jüngeren. "Auch Randerscheinungen können das Bild der Welt verändern", sagt der 81-Jährige über seinen Einsatz.