Vom Nachleben der Tat im Land der Täter

„Uns trennt von Gestern, kein Abschied, sondern nur die veränderte Lage“ Alexander Kluge 1966

Vor 60 Jahren wurden die letzten Überlebenden im Konzentrationslager Auschwitz durch einfache Soldaten der Roten Armee befreit, Kurze Zeit später endete der Zweite Weltkrieg mit der bedingungslose Kapitulation des deutschen Faschismus. Auch in der Bundesrepublik wird von den politisch Verantwortlichen dafür gesorgt, dass allerorten Andacht gehalten und offiziell gefeiert wird.

Dabei kann der politischen Klasse dieses Landes heute ohne Probleme bescheinigt werden, dass sie aus den von Wehrmachtstruppen, Polizei, Sicherheitsdiensten und SS angerichteten Leichbergen spätestens nach dem 8. Mai 1945 mindestens eine Lehre gezogen hat. Von deutschen Boden soll nie wieder ein verlorener Krieg ausgehen. Und auch daran, das sich nach der sowohl von deutschen Fachbeamten, Reichs­bahnbediensteten wie Schlachtergesellen während der gesamten Nazizeit so fachkundig durchgeführten „Sonderbehandlung“ jüdischer Menschen in Deutschland und in Europa, nun Sonderbe­ziehungen zum Staat der Holocaust­überlebenden, sprich Israel, etabliert haben, kann auch nicht der geringste Zweifel bestehen.

Eine prominente Ausnahme im Erinnerungs- und Gedenktableau bildet im Spektrum der in geheimer sowie freier Wahl demokratisch in die Parlamente geschickten Parteien nur die nationalsozialistische NPD; und dass obwohl sie seit Jahrzehnten vom Bundesamt und den diversen Landesämtern für Verfassungsschutz reichhaltig unterstützt und alimentiert wird. Nicht ganz ungeschickt weiß sie das in den letzten Jahren durch die freie bürgerliche Publizistik populär gewordene Stichwort des Bombenholocausts in die Debatte zu streuen. Die heutigen Faschisten trompeten doch allen Ernstes den (kaum glaublichen!) „Gedanken“, das auch Deutsche „Opfer“ des Kriegs geworden seien, als ihre Form des Gedenkens an Auschwitz und den 8. Mai 1945 in die Welt hinaus. Beunruhigend aber wahr: So ganz allein stehen die modernen Nationalsozialisten mit dem Versuch, die deutschen Toten ins Zentrum der Erinnerung zu rücken, nicht. Zu erinnern ist hier an die Karriere des von Jörg Friedrich publizierten Bestsellers „Der Brand“ , der bis in die Wortwahl hinein, den gegen Nazideutschland geführten Bombenkrieg mit dem Holocaust para­llelisiert.

Das diskursive Erinnerungs- und Gedenkrad der Berliner Republik an die vom deutschen Faschismus an Orten der ganzen Welt planmäßig durchgeführten Massenmorde dreht sich also immer immer weiter: Ob nun in Parlamenten, Lichtspieltheatern, Schulen, Gedenkstätten, in der Medienindustrie usw. Nicht alles daran ist von vornherein schlecht, wenn auch natürlich vieles bestenfalls egal, gedankenlos und zuweilen sogar skandalös ist. Und die letzte Aussage gilt auch dann, wenn es viele wiederum nie so empfinden mögen. Wir treten aber den politisch Verantwortlichen von heute bestimmt nicht zu nahe, wenn unterstellt wird, dass es ihnen dabei immer um eine ziemlich große Politik geht. Und die wird zuweilen auch mit dem Stichwort von einem „Ansehen Deutschlands in der Welt“ beschrieben. In diesem Sinne glaubt Kanzler Schröder - von dem zu Beginn des Jahres 1999 noch der markante Gedanke überliefert ist, das er sich ein Holo­caust­­mahnmal in Berlin wünsche, „wo die Leute gerne hingehen“ - sowohl in Sachen Eingedenken an den Nazimassenmord wie auch in der aktuellen Politik „nach vorne schauen“ zu können. Auch dagegen nehmen wir uns Pfingsten 2005 anlässlich des alljährlichen Treffens des Kameradenkreises der Ge­birgs­truppe in Mittenwald das Recht heraus, einfach zurück zu schauen. Tut man so etwas nicht, verliert man zu schnell die von deutschen Tätern im 20. Jahrhundert turmhoch angehäuften Leichenberge aus dem Auge. Einen grünen Außenminister Fischer mag so etwas auch deshalb nicht sonderlich interessieren, weil er die heutigen durch die Tradition des Kameradenkreises geformten Gebirgs­truppen schließlich im Kosovo, Afghanistan und an allen anderen Orten braucht, wo die Weltmacht BRD gerne in den Kriegen mitmischen möchte. Es wird aber weder ihn noch sonst wen wundern, dass wir das einfach nicht richtig finden. Nein: Gerne gehen wir gerade auch nach unseren Erfahrungen in den letzten drei Jahren nicht nach Mittenwald, aber die Wahl ausgerechnet dieses Ortes ist im Horizont kleiner Alltagspolitik unser Kommentar zu der anhaltend irritierenden Melange bundesdeutscher Erinnerungspolitik an das Grauen des Nazireiches: Und die besteht aus der Praxis des Gedenkens, Be­feierns, Verdrängens und Normali­sierens, um im direkten Anschluss daran wieder mit Bundes-Wehrmachtseinheiten in alle Welt raus­zumar­schieren.

Wir haben auch in der Zukunft allen Grund zu tiefer Beunruhigung über den Umgang mit der Nazikriegsverbrechensgeschichte. Und das gilt sowohl für die Strategie der politisch Verantwortlichen wie auch für die Haltung von nicht unwesentlichen Teilen der Bevölkerung in der Berliner Republik. Unsere demonstrative Präsenz Pfingsten 2005 in Mittenwald wird uns das ganz sinnbildlich wie handgreiflich vor Augen führen. Und diese Konfrontation ist eine erheblich bessere Form der Aufarbeitung der Vergangenheit als so gut wie alle Formen des offiziellen Gedenkens. Entering Mittenwald meint genau das.

Nach dem Aufruf dokumentieren wir in dieser Broschüre den Redebeitrag des französischen Resis­tance­kämpfers Szmule­wizc auf dem Zeitzeugen-Hearing in Mittenwald 2004. Danach stellen wir die Begründung und das Programm für eine Anfang April in Berlin geplante Ent­schäd­igungs­konferenz vor. In dieser Stadt wird auch am 8. Mai 2005 eine von linksradikalen Gruppen bundesweit organisierte Demonstration stattfinden, die sich sowohl gegen den Strom des Geschichtsre­visionis­mus in der bundesdeuschen Öffentlichkeit wie auch gegen das dreiste Auftauchen der nationalsozialistischen NPD in der Stadt richtet.

Die Broschüre widmet sich dann mit einer Vielzahl von Beiträgen der Geschichte und Gegenwart sowohl der Gemeinde Mittenwald als auch der dort alljährlich zu Pfingsten nur zu präsenten Traditionspflege des Kameradenkreises. Wer diese facettenreichen Beiträge und Dokumentationen genau liest, wird schnell merken, wie quicklebendig sich der Geist des Nationalsozialismus in dem Alltagsleben dieser kleinen, in touristischer Hinsicht doch überregional außerordentlich populären Gemeinde Ausdruck zu verschaffen vermag. Schön wär´s ja, wenn das alles irgendwann wirklich einmal der toten Vergangenheit angehören würde, allein: Es steht mehr als begründet zu befürchten, dass die Traditionspflege des Kameradenkreises für die zwischenzeitlich in allen Teilen der Welt kämpfenden Gebirsgjägereinheiten der Bundes-Wehrmacht schon ihren eigenen Sinn gestiftet hat.

Am Schluss wird dann unser Wiederentwaffnungscamp und Demonstrationsprogramm in der Gemeinde an Pfingsten 2005 vorgestellt, nicht ohne dabei auf das große tückische Problem der staatlichen Repression zu verweisen. Wichtige Kontaktadressen runden schließlich die Publikation ab. Viel Spaß beim Lesen, Durchblättern, Nachdenken und Handeln.

Der Titel dieser Einleitung wurde einem instruktiven Aufsatz von Lothar Baier, „Auschwitz rückt näher / Vom Nachleben der Tat im Land der Täter“ in seinem Buch mit dem Titel „Zeichen & Wunder“, Berlin 1988, S. 59-78 entnommen