Grenzcamp 2000

3. antirassistisches Grenzcamp
der Kampagne 'Kein Mensch ist illegal'
vom 29. Juli bis 6. August 2000
in Forst / Brandenburg
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Rhein/Main
[01.08.2000]

"Unser Verhältnis zu Bevölkerung, Staat und Rassismus"

In dem Stück stehen sich folgende Pole gegenüber
1. Abgrenzung/Provokation <> Vermittlung/Aufklärung
2. bin kein Rassist <> bin Reformrassist / Teil des Problems
3. Ostdeutsche Bevölkerung rassistischer <> westdt. Bevölkerung ebenso rassistisch, nur auf andere Art
Zuordnung der Pole zu den und Definition der vier beteiligten Personen
A(nnette): Abgrenzung, Osten rassistischer
C(hristian): Vermittlung, bin Reformrassist
B(ertold): bin kein Rassist, Westen ebenso rassistisch
M(artin): Moderator-in, möglichst ironisch / peppig

Teil 1: Begrüßung, Vorstellung der konträren Positionen, Abstimmung des Publikums.
A, C und M sitzen auf dem Podium, haben Namenschilder ("Annette", "Christian", "Martin") vor sich, M in der Mitte. Zusammensetzung des Podiums (Alter, Städteherkunft) ist rein zufällig

M: Hallo und Willkommen zu der heutigen Diskussionsveranstaltung "Unser Verhältnis zu Bevölkerung, Staat und Rassismus". - Die Menschen, die hier auf dem Podium sitzen, werden kurz ihre Positionen vorstellen und danach etwa 20 Minuten miteinander diskutieren. Anschließend ist das Publikum zur Diskussion eingeladen. Ich bin Martin und werde diese Veranstaltung möglichst ironisch und peppig moderieren. - Zu Beginn möchte ich an den Verlauf einer Demo erinnern, die im Rahmen des letzten Grenzcamps 1999 in Lückendorf stattfand. Ein Teil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer (schaut A an) beschimpften die Bewohnerinnen und Bewohner:
A: "Lückendorf - Rassistennest! Wir wünschen euch die Beulenpest"
M: Während ein anderer Teil (schaut C an) diese aufforderte:
C: "Leute, lasst das Glotzen sein, reiht euch in die Demo ein!".
M: Diese widersprüchlichen Positionen sind hier auf dem Podium vertreten. Ich bitte euch beide um eine kurze Vorstellung. Zuerst dich, Annette.
A: Ich finde die Lückendorf-Rassistennest-Parole richtig. Die Lückendorfer haben letztes Jahr dem Menschen, der uns einen Campplatz zur Verfügung stellen wollte, soviel Stress und Druck gemacht, dass wir den Platz schließlich nicht bekamen. - Ich finde, Rassismus ist eine der vorherrschenden Grundstrukturen der deutschen Gesellschaft. In der deutschen Bevölkerung existiert ein rassistischer Grundkonsens. Insbesondere hier im Osten gibt es eine rassistische Hegemonie. Die Bevölkerung denunziere ich als Rassisten. Die habe ich abgeschrieben und will ich nicht bekehren, sondern bekämpfen. Ich grenze mich von ihnen ab. Meine Praxis ist offen-konfrontativ und provozierend gegen die Einwohner.
M: Danke Annette. Nun zu dir, Christian.
C: Es gibt unterschiedliche Formen, Interessen und Intensitäten von Rassismus. Es existieren Abstufungen, die keine Grenzziehung zwischen denen und uns erlauben. Wir sind Teil dieser Gesellschaft und stehen nicht außerhalb dieses Problems. Ich bezeichne uns deshalb als Reformrassisten. Ich grenze mich also nicht ab. Meine Praxis ist vermittelnd und aufklärerisch. Ich werde zum Beispiel die Campzeitung verteilen und mit der Bevölkerung auch diskutieren.
M: Vielen Dank soweit. Damit sind die konfrontativen Positionen erst mal beschrieben. - Ich möchte nun euch als Publikum fragen, welcher der beiden Meinungen ihr euch eher zuordnen könnt. Entweder der Position von Annette (zeigt auf A): Sich von der Bevölkerung abgrenzen und konfrontativ entgegentreten. Oder der Position von Christian (zeigt auf C): Sich nicht abgrenzen, sondern mit Vermittlung und Aufklärung auf die Bevölkerung zugehen. - Diejenigen, die eher Anette zustimmen, sollen jetzt ihre Hand heben. (fordert ggf. nochmals auf und schätzt das Ergebnis: z.B. "Etwa ein Viertel".) - Zur Gegenprobe. Jetzt heben diejenigen die Hand, die eher Christian zustimmen. (schätzt das Ergebnis: z.B. "Etwa ein Viertel".) - Offenbar haben einige sich nicht zuordnen können. (an B im Publikum) Du - zum Beispiel. (bittet B aufs Podium, stellt Namensschild "Bertold" auf): Dann stell\\\\\' uns deine Position kurz vor.
B: Generell zu sagen, "das sind alles Rassisten" oder "wir sind ja alle Rassisten" ist mir zu platt. Nicht alle Menschen entsprechen gleichermaßen einer rassistischen Norm. Es gibt einen gewissen Prozentsatz Ausnahmen, diese sind eine Minderheit, aber es gibt sie. Mit ihnen kannst du reden und merkst dabei, dass sie was begriffen haben und auch kritisch z.B. die staatliche Flüchtlingspolitik betrachten. Und in Sachen Praxis bin ich der Meinung, dass Vermittlung von Widerstand nicht zu trennen ist.

Teil 2a: Unterschiede Ost und West
M: Auch dir Bertold, vielen Dank. Als erster Teil unserer Podiumsdiskussion wollen wir Unterschiede Ost/West thematisieren. - Das Grenzcamp findet zum dritten mal hier im Osten Deutschlands statt. Dieser Ort wurde bewusst gewählt, weil hier das Grenzregime offen zutage tritt. In deinem Anfangsstatement hast du, A, gesagt, im Osten sei die rassistische Hegemonie ausgeprägter. Was meintest du damit genau?
A: Ich sehe Unterschiede zwischen den Menschen im Osten und denen im Westen der BRD. Im Osten ist Rassismus ausgeprägter, es gibt mehr Faschos und ihr Auftreten ist offensiver und gewaltiger, und auch rassistisch motivierte Morde gibt es häufiger. Wenn ich durch den Osten fahre, kenne ich den Namen jedes zweiten Dorfs, weil es durch rassistische Übergriffe bekannt geworden ist. Das liegt meiner Meinung nach zum einen an der Vergangenheit der DDR, die Nationalstolz predigte und die Existenz von Faschos solange verschwieg, bis es so viele waren, dass es nicht mehr ging. Zum anderen liegt es daran, dass dort wenig MigrantInnen leben, eine entsprechende Kultur fehlt, keiner da ist, der bei rassistischen Sprüchen protestiert. Diese wichtigen Unterschiede wird es noch auf Jahre hinaus geben.
C: Und es liegt an der heutigen staatlichen Propaganda und Medienhetze, die vor allem an der deutschen Ostgrenze sehr scharf ist. Auch das massive Auftreten des BGS geht an der Bevölkerung nicht spurlos vorüber. Dazu kommt die ökonomische Abhängigkeit vom BGS als Arbeitgeber. Von all dem ist die Bevölkerung mehr oder weniger beeinflusst.
B: Aber nicht nur dort wird staatlicher Rassismus praktiziert, propagiert, gerechtfertigt und versucht, die Menschen dafür zu vereinnahmen. Das passiert auch an Flughäfen, Bahnhöfen, Abschiebeknästen und überall sonst. Rassistisches Gedankengut ist bei der Bevölkerung in westdeutschen Käffern, wo kaum solche staatlichen Eingriffe stattfinden ebenso gegenwärtig wie im Osten Deutschlands. Würde die EU-Grenze im Rhein-Main-Gebiet verlaufen, wäre es dort genauso.
A: Dem Osten fehlt aber die 68er-Revolte der BRD, die verknöcherte Verhältnisse in den Köpfen aufgebrochen hat. Auch antirassistische und MigrantInnen-Strukturen existieren nicht bzw. wachsen erst jetzt heran. Und schließlich ist die Oder-Neiße-Grenze auch Armutsgrenze, was den latenten Rassismus vor allem gegen Wirtschaftsflüchtlinge erklärt.
B: Den findest du auch westdeutschen Köpfen, vielleicht abstrakter, aber (z.B. die Hetze gegen als kriminell bezeichnete Flüchtlinge ist) nicht weniger latent.
C: Und warum siehst du Aspekte aus der BRD-Geschichte nur positiv, aus der DDR-Geschichte nur negativ? Alte 68er finden wir heute im rechtsradikalen Spektrum, einer führte neulich sogar einen deutschen Angriffskrieg. Der Antifaschismus und die internationale Solidarität der DDR haben vielleicht auch dazu geführt, dass bei der einen oder dem anderen ein Bewusstsein über Ausbeutung der 3. Welt hängen geblieben ist. - Neben dem "Herrenmenschen-Rassismus" gibt es noch subtilere Formen, beispielsweise den MultiKulti-Rassismus. Kultur, Essen, Exotik wird akzeptiert und mitgenommen. Der Kebab-Verkäufer und die Putzfrau sind gut, und es ist in Ordnung, dass sie so leben: "Die Leute sind halt so". Anderes Beispiel der Greencard-Rassismus von Rot/Grün. Experten sind willkommen, die anderen sollen da bleiben, wo sie herkommen.
B: Statt "Der Osten ist Feindesland", sage ich: Rassismus liegt vor der Haustür, auch bei uns im Westen. Das sollten wir nicht aus dem Blick verlieren.

Teil 2b: Die deutsche Bevölkerung und unser Stand in bzw. zu ihr bzw. ihrem Rassismus
M: Eine weitere Debatte, die sich bereits andeutete, ist die um unser Verhältnis zur Bevölkerung. Liegt der Rassismus nur vor unserer Haustür oder ist er auch bei uns selbst zu finden?
C: Auch wir haben Rassismen verinnerlicht. Unser Verhalten zu, unser Umgang mit Migrant-inn-en und manche unserer Gedanken machen das deutlich. Auch das sollten wir im Blick behalten.
B: Wenn du damit zur Selbstgeißelung aufrufen willst, widerspreche ich. Ich bin tagtäglich mit rassistischen Stereotypen konfrontiert, aber kein Rassist. Ich muss nicht an mir selbst arbeiten. Und die, die es tun, können damit Rassismus nicht überwinden. Wir sind nicht schuld an den Verhältnissen, in denen wir leben und von denen wir geprägt sind. - Weil es kein richtiges Leben im Falschen gibt, können wir nicht die fertigen, neuen Menschen sein.
C: Ich denke, wir selbst sind nicht frei von Rassismen. Unser Konsum verdeutlicht dies. Wir haben Privilegien und nutzen diese. Wir sind bewusst Teilhaber, z.B. können wir Ausbildung genießen und in Urlaub fahren, wenn wir wollen. - Wir haben zwar was gelernt, behalten aber unseren rassistischen Blick. Deshalb bezeichne ich mich als Reformrassist. Und deshalb habe auch ich eine Kritik an der abgrenzenden These von A: "Das sind alles Rassisten". Diese Grenze ist nämlich nicht da, die Abstufungen und Übergänge sind fließend. Keine-r kann sich davon freisprechen.
A: Ich bleibe dabei - und grenze mich von denen ab, die bei einer Menschenjagd zusehen oder vor brennenden Flüchtlingsunterkünften applaudieren. Die sind nicht durch Medienhetze und Propaganda manipuliert oder Opfer der Verhältnisse, in denen sie aufwachsen und leben. Wie alle Menschen können auch die denken, begreifen, handeln, sich bewusst zu Dingen verhalten, und die wissen sehr wohl was sie tun und was in ihrem Land abgeht.
C: Richtig, aber nur in einem Rahmen, der von ihren jeweiligen Lebens- und den gesellschaftlichen Verhältnissen abhängt. Individuelle Handlungen sind nicht durch gesellschaftliche Verhältnisse bedingt oder aus ihnen notwendig herleitbar, sondern in diesen begründet. Und ich werde nicht den (deutschen) Menschen als solchen schuldig sprechen, denn der Mensch ist von Natur aus nicht schlecht und ihm ist Rassismus nicht angeboren.
B: Das hat auch keine-r behauptet. - Also, auch wenn wir Teil der Verhältnisse sind, können wir uns abgrenzen, müssen es sogar z.B. vor aggressivem Rassismus. Sich aber über Abgrenzung zu definieren, halte ich für gefährlich. - Wir unterscheiden uns von dem Großteil der deutschen Bevölkerung, wir haben einen anderen Background, eine andere Sichtweise und gehen an Sachen anders dran. Es wäre falsch zu sagen, das seien eben einfache Leute, die aus irgendwelchen Gründen fehlgeleitet sind. Es trifft auch nicht die Realität, dass alle Deutschen Rassisten sind. Es gibt Abstufungen, verschiedene Aggressivitätspegel, und wir müssen uns überlegen, wie wir mit diesen Abstufungen umgehen.
A: Den allen ist provokant und offen-konfrontativ entgegenzutreten. Damit können wir sie einschüchtern und sie in ihre Schranken verweisen. Dazu ist Gegengewalt und starkes Auftreten der linken Kräfte vonnöten.
B: Wenn es um Leute geht, die sagen, "die Ausländer sollen doch alle verrecken!", stimme ich dir zu. Da ist keine Diskussion mehr, sondern Abgrenzung angesagt. Es gibt aber auch noch andere Menschen, bei denen es sich lohnt, die Diskussion nicht aufzugeben und eine Vermittlung zu versuchen.
C: Zum Beispiel wenn sie sagen, "mein kurdischer Arbeitskollege darf bleiben, andere nicht." Dann ist das zwar rassistisch, und ich verlange von keinem, mit denen zu diskutieren. Aber wenn ich Bock darauf habe, dann mache ich das und das ist in Ordnung.
A: OK. Und ich mache politische Aktionen und greife z.B. Faschos und staatliche Stellen an. Das ist für mich in Ordnung. Und wenn Teile der Bevölkerung diese Aktionen gut finden, ist das schön. Im Grunde sind mir deren Meinungen dabei aber scheißegal. Auf meine Politik dürfen ihre Ideologien keinen Einfluss haben, und haben auch keinen.
B: Solange du nicht undifferenziert Menschen angreifst, nur weil sie kurze Haare haben, finde ich das auch in Ordnung. Ich aber will Rassismus überwinden und frage deshalb auch: Wie kann man den Rassismus der Bevölkerung durchbrechen? Wenn die Leute Interesse und Gesprächsbereitschaft zeigen - und das ist häufig der Fall -, dann kann man dies nutzen. Durch konfrontatives Auftreten würde man dann eher etwas verlieren und abschrecken. Durch subversiv-aufklärerische Begegnungen können wir Interesse wecken, ein Handgemenge auslösen, Konflikte schüren und führen. Das bringt uns weiter.
C: Wir sind uns in einem einig: Eine klare Absage an Faschos und staatlichen Rassismus! Aber anderen begegne ich mit einer Politik der Auseinandersetzung und der Zusage. Denn antirassistische Einigelung trägt dazu bei, die eigene Wirkungslosigkeit festzuschreiben. Abgrenzung bietet keine politische Perspektive. Außerdem kann auch ein rassistischer Mensch was begreifen und einen Schritt nach vorne gehen. - Ich würde gerne daran weiterüberlegen, wie solche Diskussionen zu führen sind und wie wir erfolgreich vermitteln können.

Diskussion im Publikum über Umgehensweisen / Umsetzung
M: Ich bedanke mich bei Annette, Bertold und Christian und entlasse uns vier aus unseren Rollen. Ich will nun die Diskussion eröffnen. Gibt es eigene Positionen, Meinungen, Stellungnahmen, Kritik zum Gesagten?

Stand 01.08.2000


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