Grenzcamp 2000

3. antirassistisches Grenzcamp
der Kampagne 'Kein Mensch ist illegal'
vom 29. Juli bis 6. August 2000
in Forst / Brandenburg
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h. (Hanau)
[27.07.2000]

Grenzcamp in Polen, einige Eindrücke

[Zur Haltung gegenüber der FA Poznan gibt es eine Stellungnahme der Campvorbereitung. Während des Camps hat es eine mehrstündige Diskussion mit der FA Poznan gegeben. Siehe: Diskussion um FA Poznan]

Kurzum, ich fand es total klasse, bezüglich Beteiligung und Stimmung, der Aktionen und der Medienwirksamkeit würde ich das Camp insgesamt als großartigen Erfolg einschätzen.

Als wir Freitag früh im Camp im Dreiländereck ankamen, waren bereits knapp 100 Leute dort, kein mensch ist illegal-Transparente hingen in polnisch, russisch und ukrainisch zwischen den Bäumen. Zwischen 120 und 150 Menschen haben sich letztlich beteiligt, also doch einige mehr als erwartet. Durchweg per Bahn und Bus waren Gruppen und Einzelpersonen aus zahlreichen polnischen Städten angereist, Mitglieder der Anarchistischen Föderation aus verschiedenen Städten wohl in der Überzahl, aber auch Leute, die sich nicht in der FA organisiert haben. Schätzungsweise ein Drittel der CamperInnen waren Frauen. Augenscheinlich gelungen die internationale Beteiligung: Gruppen aus Weißrußland, aus der Ukraine, aus der Slovakei waren da, Einzelpersonen aus Rußland/Finnland, Schweiz/Bulgarien, sowie eine Gruppe aus Wien, zwei Aktivisten aus Amsterdam und wir mit insgesamt sieben Personen aus Deutschland. Eine Pressekonferenz war bereits zu Beginn der Woche gelaufen, in den regionalen und später auch überregionalen Zeitungen waren größere Artikel abgedruckt. Im Vergleich zur BRD ist das Medieninteresse sehr viel größer, die Journalisten mußten zudem zum Teil sehr weit anreisen. Im Gespräch mit einem lokalen Journalisten hatten sich dann auch (bestätigende) Informationen ergeben: Im letzten Winter sei ein Mann erforen beim versuchten Grenzübertritt von der Ukraine aus, bezüglich einer vom polnischen Grenzschutz festgenommenen Familie waren Vorwürfe der Mißhandlung laut geworden. Und dieser Journalist erwähnte auch gleich die EU-Gelder, mit der ja die Aufrüstung der polnischen Ostgrenze finanziert wird. Daß dieser Zusammenhang derart öffentlich ist, hatten wir so nicht erwartet. Unser ins polnische übersetztes Flugblatt, das wir mitgebracht und später bei Aktionen verteilt haben, zielte ja genau auf diese Thematisierung ab. Bei den nagelneuen, sich zahlreich im Einsatz befindlichen Landrovern der Grenzpolizei macht der Sponsor gar Werbung: auf blauen Aufklebern an den Seitenfenstern wird die Finanzierung durch EU-Gelder betont. Und mitten in der Siedlung eine Großbaustelle mit 50 Meter hohem Funkturm, die demnächst als neue moderne Grenzüberwachungsstelle dienen wird. Kein Geheimnis, daß auch dieses teuerste und größte Gebäude in der ganzen Gegend von der EU (mit)finanziert wird. Noch am Freitag kamen auch der Bürgermeister des Ortes sowie jeweils ein Vertreter der Polizei und der Grenztruppen zum Anstandsbesuch. Sie gaben sich freundlich und offen, und wollten wohl hören, daß alle geplanten Aktivitäten im gesetzlichen Rahmen bleiben. Sie boten gar Mithilfe beim Transport der für den nächsten Tag angemeldeten Kundgebung vor der (alten) in Betrieb befindlichen Grenzpolizeistation an!! Dankend wurde abgelehnt, ein großer Reisebus wurde gechartert und mit diesem und den drei PKWs ging es dann am nächsten Tag zur 25 km entfernten Station. Kundgebung und Parolen (darunter kein mensch ist illegal in sieben Sprachen!) der über 100 DemonstrantInnen folgten, abschließend wurde ein mitgebrachter weiß-rot bemalter (Grenz-)Schlagbaum vor dem Eingangstor mit Benzin übergossen und angezündet. Die Grenzsoldaten blieben im Gelände auf Abstand, Teile der Dorfbevölkerung guckten interessiert zu, die Stimmung dazu wohl gemischt. Zwar gab es immer wieder Leute, die die Kritik an der Grenzaufrüstung unterstützten, insbesondere auch viele junge Leute, die in der Nähe des Camps zum Wanderurlaub kamen. Andere allerdings sehen die Grenze als Schutz, u.a. "vor den Ukrainern", denen vielerorts dieselben Vorurteile entgegengebracht werden wie hier "den Polen". Auf der Kundgebung, einige Presseleute wie gesagt anwesend, wurde für den nächsten Tag die Überschreitung der Grenze im Dreiländereck angekündigt. Ein Pressemensch hatte sogleich zugesagt, die siebenstündige Wanderung mitzumachen. Er kam dann nicht, denn in der Nacht fing es heftigst an zu re gnen, dennoch wecken die polnischen AktivistInnen, wie im Plenum am Abend zuvor verabredet, ab 7 Uhr das Camp. Bei strömendem Regen und in der Regel ohne jede Ausrüstung zogen auch tatsächlich 40 (verrückte) Leute los, völlig durchnäßt aber doch guter Laune erreichten wir dann schließlich die Berghöhe an der ukrainischen Grenze. Die Einschätzungen, ob und warum dort oben Grenzpolizei anwesend sein würde, gingen schon am Vorabend auseinander, jetzt, trotz des Dauerregens, stellte sich heraus, daß sie wirklich auf keinen Fall zulassen konnten oder wollten, daß jemand "illegal" die Grenze überschreitet. Ca. 70 Grenzer waren auf dem Berg, ebenfalls alle durchnäßt und nicht gerade bester Stimmung, doch wieder zurückhaltend. Sie eskortierten uns dann regelrecht an der Grenze entlang zum Dreiländereck, wo dann von DemonstrantInnenseite durchgesagt wurde, daß zur gleichen Zeit an mehreren anderen Stellen Leute über die Grenze gegangen seien. Weil ein Transport mit Fahrzeugen zum Dreiländereck nicht möglich ist, gingen anschließend auch die Grenzer den Berg mit hinunter und stiegen unten genervt in ihre EU-gesponserten Landrover.

Die Initiative zur dritten Aktion ging dann von den westeuropäischen TeilnehmerInnen aus: eine kurzfristige Besetzung des Funkturms auf der Großbaustelle der neuen Grenzstation und die Befestigung eines großen Transparentes von einer etwa 30 Meter hoch gelegenen Plattform. Die Aktion klappte prima, die Bauarbeiter verhielten sich nach kurzem Wortwechsel ruhig und der Vorarbeiter war sichtlich überrascht, daß hier jetzt Leute aus Deutschland mitprotestierten. Zehn Leute blieben am Fuß des Funkturms, zwei kletterten hoch und schon bald war ein großes Transparent weithin lesbar: "für ein offenes Europa" (in polnisch natürlich). Der erste ankommende Grenzpolizeitransporter wurde von den anderen DemonstrantInnen, die mit Megaphon und Transparenten auf der Straße standen, sogleich eingekesselt. Nur mit Mühe konnte das Fahrzeug dann rückwärts ausbrechen, und nicht ohne einige wütende Schläge und Tritte aufs Blech abbekommen zu haben. Das Fahrzeug wie auch zwei weitere, die dann dazukamen, hielten sodann einigen Sicherheitsabstand, ca. eine Stunde blieben die zwei Leute - trotz anhaltenden Regens - auf dem Funkturm, leider kam der erwartete Pressevertreter nicht mehr dazu. Nachdem die Kletterer abgestiegen waren, machten Grenzpolizisten noch einen halbherzigen Versuch, diese festzunehmen. Doch die DemonstrantInnen von der Straße kamen auf das Baugelände, alle zusammen gingen dann ungestört zurück Richtung Camp. Erst später versuchte die Polizei, beteiligte Leute zu identifizieren und machte einige Kontrollen, soweit wir mitbekommen konnten, ohne Folgen.

Der Dauerregen hatte mittlerweile vielen Leuten ziemlich zugesetzt, alle Zelte waren durchnäßt, so daß entschieden wurde, das Camp einen Tag früher zu beenden. Wir fuhren noch in derselben Nacht ab, 12 Stunden dauert es doch, Polen zu durchfahren!

Eine Schwäche des Camps war es sicherlich, daß keine gemeinsamen Diskussionen oder Workshops vorbereitet und durchgeführt wurden. Zwar wurden einige Filme gezeigt und an einem Abend berichteten Leute aus verschiedenen Ländern über ihre Erfahrungen mit der Grenz- und Migrationspolitik. Doch strukturiertere Diskussionen kamen somit nicht zustande, der Austausch lief in erster Linie informell, in vielen kleinen Gesprächsrunden, die allerdings äußerst interessant waren.

Wir hatten ja, nach dem Beschluß der Campvorbereitungsgruppe, die Zusammenarbeit mit der FA Poznan zu stoppen, auch den "Auftrag", nach Möglichkeiten einer weiteren Auseinandersetzung zu suchen. Dabei kamen schon am ersten Abend wichtige Diskussionen zu stande, die mich hoffen lassen, daß auch schriftlich in nächster Zeit eine weitere Debatte möglich ist, in der Widersprüche und Selbstkritiken der FA Poznan transparenter werden.

Allerdings gehörte und gehöre ich ja zur Minderheit derer, die den genannten Beschluß als falsch ansehen und insofern hoffe ich umsomehr, daß die weiteren Diskussionen für die Zukunft auch wieder eine offizielle Zusammenarbeit mit der Campvorbereitung ermöglichen werden.

Das Interesse von polnischer Seite daran wurde ausdrücklich geäußert, und eine Idee besteht darin, im Winter eine Konferenz in Polen zu organisieren, die sich intensiver mit den Situationen an den polnischen Grenzen und der Migrationspolitik beschäftigt. Denn die Parole "kein mensch ist illegal sei zwar mittlerweile weit verbreitet, doch klarere Handlungsperspektiven würden fehlen und bislang kaum diskutiert (so einer der Aktivisten aus Poznan). Sie wollen versuchen, für diese Konferenz ein breiteres Bündnis in Polen zu gewinnen und haben bleibendes Interesse, dazu auch gemeinsam mit kein mensch ist illegal-Gruppen in Deutschland zusammenzuarbeiten.

Im übrigen haben Gruppen aus Polen und Weißrußland schon erste Verabredungen für das nächste Jahr getroffen: ein Grenzcamp auf der polnischen Seite des Dreiländerecks zu Litauen und Weißrußland, ein Konzert/Festival auf weißrussischer Seite (weil dort zur Zeit angesichts eines total repressiven Systems keine weitergehenden Protestaktionen vorstellbar sind).

Schlußendlich will und muß ich nochmal betonen, daß sich mein positiver Gesamteindruck zur FA Poznan, der ja im wesentlichen auf den Zittau-Camp-Erfahrungen und dann vor allem den Besuchen dieses Jahres basierte, im Camp nochmals voll bestätigt hat. Ich denke nochmal mehr, daß es ein Fehler war, daß nicht mehr Leute aus Deutschland mitgefahren sind, um dort, innerhalb und außerhalb der FA Poznan, direkte Kontakte und Auseinandersetzungen zu suchen, gleichzeitig Interesse und Kritik zu zeigen. Ich bin überzeugt, daß dies allen, letztlich auch den Emanzyunx aus Warschau, mehr gebracht hätte als die -wenn auch bemüht formulierte- Distanzierungsaufforderung aus der westlichen Ferne.


h., hanau

P.S.: Es gibt einiges Filmmaterial zum Camp in Polen und wir hoffen, auf dem Camp in Forst diese Ausschnitte zeigen zu können. Dort soll ja auch eine Osteuropa-Arbeitsgruppe stattfinden...


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[28.07.2000] 23-30 Luglio 2000 Marzameni (Siracusa)

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