Erst alles zusammenschiessen

Nach zwölf Jahren Theater: Gummigeschosse für die Polizei

"… ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode."
(Shakespeare, Hamlet 2,2)

Auf der bundesdeutschen Theaterbühne wird derzeit der letzte Akt einer jahrelangen Inszenierung aufgeführt, "Die Rettung der Demokratie" oder "Gummi her - jetzt knallt's!"

Dass das Drehbuch wegen zu häufiger Verwendung mittlerweile reichlich abgegriffen ist, scheint die Akteure ebensowenig zu stören wie das schlechte Bühnenbild. Dabei ist die Besetzung durchaus hochkarätig: Innenminister und -senatoren aller Couleur, Polizeiführer aus der gesamten Republik, Bürgerkriegsstrategen jedweder Geistesgrösse, Berufsverbände, Waffentechniker und der eine oder andere Provinzpolitiker. Geboten wird allerdings Schmierentheater, wobei die Regisseure häufig nicht auszumachen sind.

Bereits seit Anfang der 70er Jahre wird in den Werkstätten eifrig an den Requisiten gearbeitet: So vermeidet bereits 1974 die Polizeiführungsakademie (PFA), ihre Technische Kommission (TK) untersuche "verschiedene Waffen, die nach der Devise Erst alles ohne Lebensbedrohung zusammenschieben, dann Gangster, Geisel und Gendarmen auseinandersortieren für einen sogenannten humaneren Polizeieinsatz geeignet sein sollte- … Mit humaneren Gummiprojektilen sollte es möglich sein, anlässlich gewalttätiger Demonstrationen Rädelsführer bis auf mittlere Entfernung mit einem gezielten Schuss fluchtunfähig zu machen, ohne sie ernstlich zu verletzen…" (1)

Zwar werden auf dem internationalen Waffenmarkt seit den 60er Jahren Projektile mit "gebremster Gewalt" angeboten, doch wurde von der Technischen Kommission (TK) des Arbeitskreise 11 (AK 11) der Innenministerkonferenz, die gesamte Palette der geprüften Waffen als für den Polizeieinsatz ungeeignet abgelehnt, da die technischen Parameter und Testbedingungen im Einsatz nicht einzuhalten waren, So schloss z.B. ein von der PFA angefordertes Gutachten der Medizinischen Hochschule Hannover die "Möglichkeit lebensgefährlicher Verletzungen bei einem denkbaren Einsatzbereich bis etwa 20 m nicht aus"..(1)

Aber es eilt ja nicht: Die sozial-liberale Koalition erfreut sich noch allgemeiner Beliebtheit; die APO ist zum "langen Marsch" durch die Institutionen" von der Bühne abgetreten, das Demonstrationsrecht ist im Zuge demokratischer Wagnisse endlich soweit liberalisiert, dass nicht schon die Teilnahme an einer Demonstration, die nicht in den geordneten Bahnen deutschen Wesens verläuft, strafbar ist, und das "Ausbauprogramm Innere Sicherheit" von 1972 kommt gut voran: mit dem publikumswirksamen Avantgardestück "Kampf dem Terrorismus" werden durch den Ausbau des Polizeiapparates, die Einrichtung riesiger Dateien, durch Razzien- und Todesschussgesetze u.v.a. klammheimlich die Voraussetzungen geschaffen, die eine Regierung braucht, die ihrem Volk nicht über den Weg traut: "Vertrauen ist gut - Kontrolle ist besser", dieses Bekenntnis von Altvater Lenin haben am besten eingefleischte Anti- Kommunisten begriffen.

Aliens

Auf der politischen Bühne tauchen unterdessen die ersten Bürgerinitiativen auf. Der ungehemmte Ausbau der Atomkraftwerke ruft überregionale Protestaktionen hervor. Wyhl - Brokdorf - Grohnde Kalkar sind politischen Szenen, die von der Bonner Regie in zunehmendem Masse nach dem Muster hollywood'scher Monumentalschinken abgedreht werden,. Masseneinsätze, expandierende (Tränen-) Gasschlachten und immer martialischer werdender Einsatz von Technik (Wasserwerfer, Hubschrauber, Sonderfahrzeuge) bestimmen das polizeiliche Auftreten. Abschalten!" rufende Sprechchöre werden aus dem Stück gestrichen.

Doch trotz aller Rückschläge besinnen sich die Initiativen stets aufs Neue ihrer Stärke: Sei es gewaltfrei wie beim Gorleben- Treck, als nahezu 120.000 Menschen auf Protest gegen die geplante Atommüll- Deponie von Gorleben nach Hannover marschierten, um dort eine Resolution zu übergeben, oder bei der Errichtung der "Freien Republik Wendland", wo auf dem für die Deponie verplanten Landstück über Monate ein Hüttendorf errichtet wird - oder sei es auch militant, wie am 6.5.1980 in Bremen, als eine Demonstration gegen die im Weserstadion stattfindende öffentliche Rekrutenvereidigung der Bundeswehr das militaristische Spektakel massiv und erfolgreich stört. Das ganze Brimborium wird vor lauter Rauch und Tränengas kaum noch wahrgenommen.

Entsprechend ist denn auch der Aufschrei, der quer durch alle Parteien und Medien geht! Es werden systematisch neue Termini durchgesetzt: Fortan wird im öffentlichen Sprachgebrauch nicht mehr von "Störungen", oder "Ausschreitungen" geredet, sondern nur noch von "Krawallen"-, aus "Demonstranten" werden folgerichtig "Demolanten",..... "Krawallanten" und "Chaoten".

Und auch der Gummigeschosse erinnert man sich in der Requisitenkammer wieder: "Die Schweizer Entwicklung wurde den Kollegen der deutschen Polizei bereits 1979 bei einer Fachtagung ... vorgeführt. Nachdem die deutschen Polizeitechniker und Waffenspezialisten zunächst eine ablehnende Haltung einnahmen, beschlossen sie ... nach den gewalttätigen Bremer Ausschreitungen eine erneute Prüfung". (2) "

In Bremen selbst fühlt man sich arg gebeutelt, die Töne werden schrill: "Die Polizei kann ihren gesetzlichen Auftrag nicht mehr erfüllen", jammert Bremens rechtslastiger SPD-Polizeipräsident Ernst Diekmann und verlangt als erster öffentlich die Einführung von Gummigeschossen. (3)

Aliens beim Nahkampf

Aber der Ghostwriter der SPD in Sachen Innere Sicherheit, die vergleichsweise liberale Gewerkschaft der Polizei (GdP), ist skeptisch. Sie spricht sich für eine weitere gründliche Erprobung der Sonderwaffe aus, allerdings nicht, ohne mit der Virtuosität einer tibetanischen Gebetsmühle ihren Standartsatz hinzuzufügen, wonach, sollte sie dann doch eingeführt werden, natürlich bei jedem Einsatz die Verhältnismässigkeit zu berücksichtigen sei.

Der zweite grosse Auftritt bleibt dann Gerold Tandler (CSU), dem damaligen weiss- blauen Innenminister, vorbehalten. Nach der Rückkehr seiner grünen Hundertschaften aus Schleswig-Holstein, wo sie am 28.2.81 als aufrechte bayerische Gendarmen den Weiterbau des AKW Brokdorf gegen die anrennenden Horden fortschrittsfeindlicher Maschinenstürmer verteidigen halfen (selbst ein Demonstrationsverbot hatte die Hundertausend damals nicht abgehalten!), donnert er: "Es kann nicht unser Ziel sein, Beamte rundum zu panzern als lebenden Wall für Steinwürfe und Stahlkugeln" (4). Er jedenfalls werde "Abschussgeräte für Gummischrot- und Gummiwuchtgeschosse einfuhren", notfalls im Alleingang, wenn die anderen Bundesländer ihre Zustimmung verweigern sollten (5).

Dissonanzen kommen aus dem Chor: Während die christdemokratischen Bässe gröhlend einfallen (Kohl fordert als erster die Verschärfung des Demonstrationsrechts) (6), lassen die sozialdemokratischen Tenöre ihre schwarzen Sangesbrüder im Regen stehen: "Die Gummigeschosse sind noch nicht ausgereift", meint NRW- Innenminister Schnoor (SPD), sein Hamburger Kollege, Oberst a.D. Pawelczyk, hat überhaupt nicht begriffen, worum es geht. Sein Programm- noch mehr Beamte sollen Körperschutzausrüstungen erhalten (7).

Der bisher gültige Grundsatz der Einstimmigkeit bei Beschlüssen der Innenministerkonferenz gerät in eine ernste Gefahr. Nicht einmal auf die vorgesehene Umrüstung von CN- auf CS- Gas kann man sich noch verständigen. Und so macht nun ein jeder, was er will. Während die Unions- regierten Bundesländer mit Ausnahme Berlins also inzwischen unter CS- Gas stehen, spielen die SPD-Länder nicht mit und lassen das Rhinozeros den Weg freitrampeln, auf dem der Fuchs dann laut zeternd und unter Protest bequem laufen kann.

Diese Situation nutzen nun skrupellose Hausbesetzer, Mieterinitiativen, Flughafengegner, Friedensgruppen, Anti-AKWler, Öko-Freaks, Grün/ Alternativ Wahlbewegte - kurz der gesamt terroristische Dunstkreis brutal für ihre durchsichtigen Ziele aus. Die Anarchie ist zum Greifen nahe!

In dieser für den Rechtsstaat ach so schweren Stunde kann die Technische Kommission dem AK 1 1 der Innenministerkonferenz dann im Herbst 1981 einen vertraulichen Bericht vorlegen, in dem über Gummigeschosspistolen u.a. zu lesen ist: "Die psychologische Wirkung des Anblickes des 40 mm Rohres der MZP 1 (Mehrzweckpistole 1, von Heckler & Koch, Anm.) wird abschreckend sein. Dieser Eindruck wird durch die Grösse der Patronen, die zweckmässigerweise an einem Gürtel getragen werden, unterstützt." (8)

Des weiteren erfahren die Innenminister, dass für die MPZ 1 sowohl Gummi- Schrotmunition als auch ein Gummi- Kontaktkörper, der nach dem Abschuss zu einem Stern aufklappt, entwickelt wurden; dass es im Oktober 1980 im hessischen Bruchsal eine Erprobung mit polizeilichen Versuchskaninchen gab und dass es sich bei Gummigeschossen "im Prinzip… um eine Art Schlagstock mit grösserer Reichweite" handelt (8).

Auf einer Seitenbühne hat unterdessen das Cabaret der Polizeigewerkschaften Aufstellung genommen. Während die Polizei im Deutschen Beamtenbund (PDB) und der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) lediglich den sattsam bekannten Law- and- order- Reigen bieten, indem sie jede Form verstärkter innerer Aufrüstung gutheissen, zeigt die GdP einen Eiertanz mit wechselnder Choreografie: Bei den "Kollegen" hat man sich zwischenzeitlich entschlossen, erst einmal das Giftgas CS zu favorisieren und kann sich für die Gummis scheinbar gar nicht erwärmen. "Egal, zu welchen neuen polizeitypischen" Einsatzmitteln sich die Verantwortlichen in der Bundesrepublik entschliessen werden, vorausgesetzt, dass sie überhaupt ein neues Waffensystem einfuhren wollen, eines müssen sie dabei auf jeden Fall beachten: eine neue polizeitypische' Waffe muss vor allen Dingen den strengen rechtsstaatlichen und humanitären Anforderungen unseres Staates entsprechen", tönt es daraufhin aus dem Souffleurkasten der Bereitschaftspolizei (9).

He-Man

Auf der Hauptbühne hat unterdessen vor einer Kulisse auf Friedensbewegungen und nahender Pershing- Stationierung der baden-württembergische Innenminister Roman Herzog (CDU) platzgenommen: "Ich will eben nicht der Minister sein, der eines Tages hier stehen und einen Schusswaffeneinsatz, und zwar unter Umständen einen relativ massiven Schusswaffeneinsatz, vertreten muss, und der sich dann die Frage stellen lassen muss: Wären denn nicht mildere Mittel auf dem Markt gewesen? Die Alternative kann sehr schnell 'Schusswaffe oder weichen' heissen. Da sage ich ihnen allerdings auch: Gewichen wird nicht!" (11).

Anfang November 82 dann lässt der Herzog durch seine Herolde verkünden, "er scheine geneigt", Anfang '83 die Einführung von Gummigeschossen "zu empfehlen" (12).

Landespolizeipräsident Alfred Stümper ist so richtig stolz auf seinen Chef. Er ist ohnehin der Meinung, "dass schon zuviel versucht und erprobt wurde, dass nicht länger gewartet werden könne" (13). Die MZP 1 sei "technisch reif" und als Einsatzmittel für geeignet angesehen worden, die Schwelle zum scharfen Schuss wesentlich zu erhöhen (13).

Die baden-württembergische SPD nimmt dies wohlwollend, wenn auch skeptisch zu Kenntnis (12). Die FDP denkt da weltmännischer. Ohne Gummigeschossen würden "die Polizisten nie ihr Image als ,prügelnde Buhmänner' verlieren" (14), verkündet sie. Der Herzog nickt zufrieden.

Im benachbarten Freistaat überlegt man umgehend, ob man sich diesem Schritt nicht anschliessen solle- der kleine Senator in Berlin "prüft" wieder, will "aber nicht Vorreiter sein" und für die Axt im Hause Zimmermann "besteht bis zu den Wahlen am 6. März innenpolitisch kein akuter Entscheidungsbedarf".

Umbaupause - Szenenwechsel.

Die Bundestagswahlen sind gelaufen, die Wende ist vollzogen. Auch DIE GRÜNEN sind nun auf der Bonner Bundesbühne vertreten. An der von der Union versprochenen "geistig-moralischen Erneuerung" ändert das natürlich Oberhaupt nichts, zumal der Grüne Abgeordnete im Innenausschuss Joschka Fischer heisst, der sich mit antiquierten Themen wie Repression nicht befassen mag, sondern nach einer Hauptrolle strebt. Die Wende hat feste Formen angenommen, wichtigstes Requisit wird der Stuhl; das Aussitzen von Skandalen zur Kabinettsgymnastik.

Der Abbau demokratischer Recht kommt Zugig voran; Demonstrieren ist teuer geworden: Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Baden-Württemberg und Bayern verschicken nunmehr Leistungsbescheide an identifizierte Demonstranten, um die bei Demonstrationseinsätzen entstehenden Polizeikosten wieder einzutreiben. Berlin, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Hessen begnügen sich vorerst noch mit Schadensersatzforderungen für Schäden an der Polizeiausrüstung, Dienstbezüge für verletzte Beamte etc. Das Demonstrationsrecht selbst wird wieder verschärft, der regelmässige, jahrelange Vorstoss der Unionsparteien, die Liberalisierungen von 1970 zurückzudrehen, hat Dank freidemokratischer Schützenhilfe endlich erste Erfolge.

Die Nachrüstungsbeschlüsse sind auch umgesetzt, die Pershings stehen. Die Friedensbewegung ist erschöpft, Mutlangen wird allmählich Geschichte. Letztlich wurde die Stationierung dann doch ohne Gummigeschosse durchgesetzt, der "Dialog" mit der Friedensbewegung sollte nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Die "Lücke im sogenannten Mittelstreckenbereich" der Polizei (9) ist also noch nicht geschlossen. Mit Beschluss vom 13.6.1984 erteilt die Innenministerkonferenz daher erneut den Auftrag, "ein neues polizeitypisches Einsatzmittel" zu entwickeln und zu erproben. Die Federführung dieses Vorhabens liegt diesmal in den Händen des SPD- regierten Nordrhein-Westfalen. Geschätzte Kosten: "voraussichtlich insgesamt 2,3 Mio. DM" (15). Den Zuschlag erhält der Rüstungskonzern Messerschmidt- Bölkow- Blohm (MBB).

Aliens im Nahkampf

Neben altbekannten Protestorten wie Brokdorf, Gorleben usw. haben sich neue Schauplätze herausgebildet. In Hessen etwa ist eine ganze Region nach jahrzehntelanger Opposition gegen die unerwünschte Erweiterung des Frankfurter Flughafens zunehmend daran gegangen, die fast fertiggestellte Startbahn 18 West auch militant zu bekämpfen. Die Polizei nutzt diese Gelegenheit, wieder einmal tief in ihre Trickkiste zu greifen: mit dem "Pepper-Fog" werden Demonstranten grossflächig eingegast; " Blendschockgranaten", entwickelt für Terroristenbekämpfung und Geiselbefreiung, werden jetzt bei der Räumung von Blockaden eingesetzt.

Auch der Bau der Wiederaufbereitungsanlage in Gorleben stösst auf Schwierigkeiten. Angesichts anhaltenden Unruhen im Wendland und grüner Wahlerfolge rückte Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht schrittweise von früheren vollmundigen Errichtungszusagen ab. Für die geplante zweite Anlage fällt die Wahl der Betreiber daher auf Bayern. In der ihm eigenen Unnachahmlichkeit hatte das bayerische Urgestein, Franz-Josef Strauss nämlich versichert, Proteste wie Brokdorf, Gorleben und anderswo werde es im Freistaat nicht geben; dafür wolle er schon sorgen.

Er irrt sich, es kommt ganz anders. Anfangs eher zaghaft, dann immer kraftvoller regt sich der Widerstand am vorgesehenen Standort im oberpfälzischen Wackersdorf. Die "anreisenden Chaoten" finden gar zunehmenden Beifall in der Bevölkerung. Der Kampf gegen die Atomfabrik wächst mit jedem Wochenende.

Am Ostermontag 1986 erleben dann 80.000 Menschen eine grausige Premiere. Karl Hillermeier, derzeitiger weiss- blauer Innenminister und nun dazu ausersehen, die markigen Worte seines Landesfürsten einzulösen, lässt in Wackersdorf erstmals in der bundesdeutschen Demonstrationsgeschichte CS- Gas einsetzen. Einer der Demonstranten erleidet kurz darauf einen akuten Asthma- Anfall und stirbt. Damit hat das Giftgas die Erwartungen des Ministers übererfüllt, CS gehört von nun an zum bayerischen Demo- Alltag.

Doch es hilft alles nichts. Je rücksichtsloser Polizei und Politiker gegen die Atomgegner prügeln und wettern, umso entschlossener wird der Widerstand.

Unvorhersehbar für Regie und Akteure löst sich oben im Schnürboden plötzlich einer der Seilzüge. Das gleich zu Anfang ausrangierte und dann vergessene Bild vom GAU (Grösster anzunehmender Unfall) knallt polternd auf die Bretter. In der Sowjet- Union brennt im Atomkraftwerk "Lenin" bei Tschernobyl einer der Reaktoren durch. Den russischen Technikern fehlt das Glück, dass ihren westlichen Kollegen bislang immer hold war. Ihre "Pannen" lassen sich diesmal nicht verschleiern: Tschernobyl ist ausser Kontrolle geraten, grosse Mengen Radioaktivität treten aus. Ganz Europa ist betroffen.

Vor dieser Kulisse kommt es zu Pfingsten am Baugelände in der Oberpfalz zu einer massiven Konfrontation zwischen Demonstranten und Polizei. Rund 1.000 Liter CN- und 600 Liter CS- Stammlösung werden allein durch Wasserwerfer verspritzt; Gaspetarden, verschossen oder von Hubschraubern abgeworfen, sind gar nicht zu zählen. Nachschub muss sogar aus anderen Bundesländern eingeflogen werden. Bundesweit setzen sich Einsatzmannschaften in Marsch. Auch zeigt sich, dass hinter all dem wieder Kommunisten stecken: Die DDR verwehrt dem Berliner Wasserwerfer den Transit! Für Hillermeier ist damit das Mass voll. Gegen Moskaus fünfte Kolonne hilft jetzt nur noch Gummi.

Angesichts der "lebensbedrohlichen Situation", in der sich die Polizeibeamten an der Wiederaufbereitungsanlage befunden hätten, wäre auch ein "Schusswaffeneinsatz gerechtfertigt und vertretbar" gewesen, lässt er den Leiter der Polizeiabteilung seines Ministeriums, Joachim Schweinoch, malnehmen (16). Er selbst plädiert anschliessend dafür, so schnell wie möglich die "Wirkwurfkörper" der Firma MBB einzuführen (16). Versehen mit dem Textbuch seines Vorgängers Gerold Tandler kündigt er an, diese Geschosse "gegebenenfalls auch im Alleingang einzuführen" (17).

Ärgerlicherweise existieren bislang allerdings nur einige Prototypen (18) aber wie es in der Schauspielzunft üblich ist, helfen alle dem sich verhaspelnden Kollegen über die Runden. Es wird mit den alten Dialogen aus dem baden-württembergischen Nachrüstungsherbst weitergespielt, das gesamte Bayern- Kabinett gröhlt mit (17). Der nordrhein-westfällsche Innenminister Schnoor hebt - trotz Federführung beim MBB- Projekt - warnend den Finger und mahnt, nicht dem "Geschrei der Rechten" nach neuen Polizeiwaffen zu unterliegen (19). Auch Kollege Läpple (SPD) aus dem Saarland lehnt strikt ab; die gesundheitlichen Schäden, die von den "Wirk- und Wurfkörpern" ausgehen könnten, seien noch gravierender als die des CS-Gases (19). "Ganz ausschliessen kann man das nie. Auch beim Schlagstockeinsatz kann es ja zu tödlichen Verletzungen kommen", brummt Dr. Rolf Olderog (CDU), Mitglied des Bundestagsinnenausschuss, in den Männerchor hinein (20).

Die GdP ist wieder dagegen, sie fürchtet ums Ansehen: "Kommen die Gummigeschosse zu früh an, landen sie, floppen ab, und alle Welt lacht. Kommen sie zu stark an, dann haben sie auch die Gefahr eines Projektils, das mit Bleimantel umgeben ist", sorgt sich der Polizeigewerkschaftsboss Günther Schröder (21). Den GdP-Landesverband Bayern ficht das nicht an, er unterstützt Hillermeier. Der wiederum sieht nun Oberhaupt keine Probleme, der Einsatz der Geschosse sei schliesslich "unter den selben Voraussetzungen wie der Schusswaffengebrauch möglich ... (21).

Ungewöhnliche Unterstützung erhält der Minister aus dem Kreis der aktiven Bühnenstatisten. Der in Wackersdorf mehrfach eingesetzte Polizeioberwachtmeister Jörg Eberwein drängelt sich mit der Bemerkung nach vorn: "Nur den Steinwürfen von Beamten (sei es) zu verdanken ..., dass nicht von der Schusswaffe Gebrauch gemacht wurde" (22).

Doch eine Grossdemonstration gegen das kurz vor der Betriebsaufnahme stehende AKW Brokdorf beendet die Peinlichkeiten, und weil das Publikum bereits gähnt, satteln die Akteure nochmals drauf. Ähnlich wie anno 1977 bei der Demonstration gegen den Schnellen Brüter in Kalkar wird mit effektvollen Strassensperren gearbeitet. Der Landkreis wird abgeriegelt. Nur die wenigsten Demonstrationsteilnehmer erreichen daraufhin Brokdorf, die meisten bleiben weit vor ihrem Ziel in den Polizeisperren hängen. Im schleswig-holsteinischen Kleve baut die Polizei zusätzlich eine Falle für den Hamburger Konvoi. Das "polizeiliche Gegenüber" wird in eine schwere Auseinandersetzung verwickelt. Sondereinsatzkommandos zerschlagen danach nicht nur jeden Widerstand, sondern gleich alles, was ihnen vor den Knüppel kommt. Zertrümmerte und ausgebrannte Fahrzeuge sowie eine immense Zahl verletzter Demonstranten ist das Ergebnis. Ähnliches geschieht den wenigen tausend, die den Kundgebungsplatz am Bauzaun erreichen konnten.

Aliens im Nahkampf

Die Anwesenheit von Fernsehkameras ist dabei ein unentbehrliches dramaturgisches Mittel. "Choatenkämpfe - live" titelt diese Szene, nur Stefan Aust tanzt in "Panorama" aus der Reihe.

Damit ist zunächst einmal der langersehnte Durchbruch geschafft. Bundesinnenminister Zimmermann beruft seine Länderkollegen zur Sondersitzung ein. Als diese ohne konkrete Ergebnisse bleibt, setzt er auf's Bundeskabinett.

Um die Minister für seine Wünsche in die rechte Stimmung zu versetzen, lässt er vor dem Kabinettsaal eine Sonderausstellung von "Chaotenwaffen" aufbauen. Richtig zum Anfassen ("Die Dreckschleuder mit Zwille" notiert ein Theaterkritiker) und hinterher ein zünftiges Polizei-Video. Die Inszenierung verfehlt ihre Wirkung nicht und Finanzminister Gerhard Stoltenberg (CDU) macht unter zustimmendem Nicken einige Extra-Milliönchen locker. Damit darf Zimmermann nun den Bundesgrenzschutz (BGS) um 1.000 Mann verstärken. Zur Steigerung der Mobilität erhält der BGS zudem drei neue PUMA-Transporthubschrauber (Stückpreis 20 Mio DM). Ausserdem achtzehn Wasserwerfer (Stückpreis 780.000 DM) und 22 zusätzliche Sanitätsfahrzeuge (Stückpreis 60.000 DM). Die Bereitschaftspolizei kommt schlechter weg. Sie erhält nur 9 weitere Wasserwerfer (23), Der Bühnenboden trägt es kaum noch.

Parteifreund Hillermeier in Bayern muss bescheidener sein. 50,7 Mio. DM meldet er in seinem Kabinett an. Im Etat veranschlagt waren bis dato 2,55 Millionen (24). Als der SPD-Abgeordnete Max von Heckl einen Sonderposten im Haushalt entdeckt, teilt Hillermeier mit, dass der Freistaat längst über Gummigeschosswaffen schweizer Bauart verfüge. Lediglich aus polizeitaktischen Überlegungen seien diese noch nicht zum Einsatz gekommen (24).

Das Schweizer Rüstungsunternehmen "Eidgenössische Waffenfabrik" (WF) bestätigt daraufhin eine Bestellung im Wert von 100.000 DM. Dafür bekommen die Bayern dann 40 Gummigeschossgewehre, sowie 4.000 Geschosspackungen nebst Treibladungen (25). Damit ist nun endlich auch bei der Polizei diese "Lücke im sogenannten Mittelstreckenbereich" (9) erfolgreich geschlossen.

Der Vorhang fällt. Doch im Aufbruch vernimmt das Publikum noch die Worte des Weisen, der da spricht: "Mein Sohn, gehe nicht auf einem Wege mit ihnen; bewahre deinen Fuss vor ihren Pfaden!
Denn ihre Füsse rennen dem Bösen nach, und eilen zum Blutvergiessen". (26)

Quellen:

  1. PFA-Schriftenreihe 1/74
  2. Hessische Polizeirundschau 4/81
  3. Weser-Kurier, 16.7.BO
  4. Der Tagesspiegel, 12.3.81
  5. Frankfurter Rundschau, 13.3.81
  6. Der Tagesspiegel, 14.3.81
  7. Hamburger Abendblatt, 4.3.81
  8. Vertraulicher Bericht der TK an die IM K, Herbst 1981
  9. Bereitschaftspolizei - heute 3/82
  10. Deutsche Polizei 1 i83
  11. Protokoll der Landtagssitzung, Drucksache 8/2062
  12. Stuttgarter Zeitung, 12.11.82
  13. Stuttgarter Nachrichten, 23.12.82
  14. Stuttgarter Nachrichten, 18.12.82
  15. Haushaltsplan der Bundesregierung für 1986, Seite 289
  16. Die Tageszeitung, 22.5-86
  17. Der Tagesspiegel, 28.5.86
  18. Der Tagesspiegel, 22.5.86
  19. Der Tagesspiegel, 23.5.86
  20. Die Tageszeitung, 23.5.86
  21. Volksblatt Berlin, 4.7.86
  22. Die Tageszeitung, 9.7.86
  23. Der Tagesspiegel, 21.6.86
  24. Die Tageszeitung , 4.7.86
  25. Der Tagesspiegel, 5.7.86
  26. Salomon, Sprüche 1/15