Hauptsymptom war die Wut

Seit Ostern sind viele CS-Verletzte in ärztlicher Behandlung

13.7.86, Sprechstunde am Bauzaun: Auch an diesem Sonntag ist Dr. Walter Angebrand zum Bauplatz in Wackersdorf hochgefahren, um für medizinische Notfälle zur Verfügung zu stehen. Seit Ostern ist der praktische Arzt und WAA- Gegner aus Schwandorf nahezu jedes Wochenende vor Ort. Heute bleibt es ruhig, nur gelegentlich kommt ein Wasserstoss von jenseits der Mauer - die Polizei sieht ein paar kleine Feuerchen im frisch geredeten Vorfeld als Bedrohung der Sicherheit an. Bald jeder zwanzigste Spaziergänger begrüsst Herrn Angebrand mit: "Grüss Gott, Herr Doktor! ", viele kennen ihn als ihren langjährigen Hausarzt, noch mehr vom Bauzaun, und weil er vor wenigen Tagen als Diskussionsteilnehmer bei einer CSU-Veranstaltung in Regensburg den Vertretern der Regierungspartei kräftig Paroli geboten hat, erhält er dickes Lob für seinen Auftritt.

Foto Wackersdorf (GIF 38k)

 

Erste Hilfe am Bauzaun (Wackersdorf 1986)

 

Einige seiner Patienten mit besonders hartnäckigen CS- Folgen sind trotz ihrer Beschwerden ebenfalls hinaufgekommen, um am Gottesdienst unter freiem Himmel teilzunehmen oder um sich über den Fortgang der Zerstörungsarbeiten zu informieren. Bereitwillig geben sie Auskunft: "Wir sind Ostern gar nicht so richtig nassgeworden. Wir sind direkt im Wald gewesen, und da ist der feine Wasserstaub gewesen, den wir eingeatmet haben. Da hab ich zu einer Freundin gesagt, ich hab so einen süssen Geschmack, was ist denn das?", berichtet eine Frau von Mitte vierzig, die in Begleitung ihres Ehemannes am Bauzaun steht.

"Anfangs hab ich praktisch bloss rote Augen gehabt, und heimwärts schon einen ganz wehen Mund gekriegt auf der Seite, und hab schon ein bisschen schlecht geschnauft." In den folgenden Tagen stellten sich trockener Husten, Atembeschwerden und ein schmerzhaftes Druckgefühl in der Lunge ein. "Toxische Reizung der Bronchialschleimhaut" lautet die Diagnose bei der "pumperlgsunden" Frau, die seit Jahren nicht zum Arzt gehen musste, Nichtraucherin ist und keinerlei Vorerkrankungen aufweist, die als Risikofaktor bei CS- Einwirkung gelten. Noch 14 Wochen später überfällt sie "aus heiterem Himmel" plötzliche Atemnot, das Treppensteigen macht ihr Schwierigkeiten und nach wie vor hustet sie viel Schleim aus. Auch die Hautentzündung im Mundwinkel ist nur langsam verheilt. Wie es weitergehen wird, weiss sie nicht: "Wir sind alle Jahre zum Bergsteigen gefahren, das ist jetzt wohl nicht drin."

Die Schwandorfer Bürgerin ist eine von mehreren hundert Menschen, die sich nach den CS-Grosseinsätzen in ärztliche Behandlung begeben mussten. Die Beschwerdebilder sind umfangreich, so dass auch behandelnde Ärzte anfangs gelegentlich keinen Zusammenhang mit dem Kampfstoff sahen. Allein 42 der CN-CS- Kombinationsverletzten sprachen nach Ostern bei dem Münchner Internisten und Toxikologen Dr. Max Daunderer vor. Gegenüber der Fachpresse fasste er die bisherigen Erkenntnisse zusammen: "Beide Gase rufen stärkste lokale Reizerscheinungen an sämtlichen Schleimhäuten und der Haut hervor. Folgende Symptome treten auf: Lidkrampf, Bindehautreizung und Entzündung, an der Lunge Brennen, Beklemmung, Erstickungsgefühl mit Panik. Bei höheren Konzentrationen oder längeren Expositionen Verbrennungen 1. und 2. Grades. Erbrechen und Durchfälle. Kopfschmerzen, Schwindel, Unfähigkeit, zielgerichtete Bewegungen vorzunehmen. Bei hohen Dosen bleibende Hornhautschäden und ein toxisches Lungenödem." (1)

Eine Auflistung auf der Grundlage von knapp 100 Fällen lässt erkennen, dass Schäden auftraten, die sich gemeinhin nur bei Kampfstoffeinsätzen in geschlossenen Räumen einstellen. Doch die hohen Konzentrationen am Bauzaun und im Wald, das stundenlange Bombardement mit CS und CN und die lange Zeit bis zum Duschen und Kleiderwechseln haben ihre Spuren hinterlassen. An einigen Stellen, so errechnete Dr. Rainer Griesshammer, Chemiker am Freiburger Ökoinstitut und Autor einer Studie über CS, sind Konzentrationen entstanden, die über der von einem französischen CS- Hersteller als tödlich angesehenen lagen. (2) Notärzte vor Ort in der Oberpfalz hatten es dementsprechend seit Ostern mit mindestens einem halben Dutzend beginnender Lungenödeme zu tun, von denen zwei sich ausprägten und langdauernde Behandlung nötig machten. Auch beginnende Schockzustände nach CN-CS- Einwirkung erforderten in einigen Dutzend Fällen notfallmedizinische Massnahmen. Stinksauer äussern sich deshalb auch Demosanis und Ärzte, dass ihnen von der Polizei mehrmals Wasser und Medikamente beschlagnahmt wurden.

Augenspülung in Wackersdorf

 

Ein 21-jähriger Patient nach CS-Einwirkung: verbrannte Haut und Blasenbildung am Unterkörper (Quelle: Ärztezeitung, 16. Juli 1986)

 

Die hohen Konzentrationen allein erklären allerdings nicht alle der dokumentierten ärztlichen Befunde. Offensichtlich gibt es neben den bekannten Risikogruppen, also Asthmatiker, Bronchialkranke, Allergiker, Kinder und Schwangere, weitere, die individuelle Bedingungen für heftige Reaktionen mitbringen. Herz- Kreislauferkrankungen beispielsweise können sich zu massiven Blutdrucksteigerungen aber auch rapidem Blutdruckabfall bis hin zu Schockzuständen entwickeln. Bei diesen wie den anderen beobachteten Komplikationen lässt sich nicht klären, welchen Anteil jeweils CN und CS gehabt haben. Da es mitunter zum gleichzeitigen Einsatz der beiden Kampfstoffe kam, und zudem das CN sehr viel länger wirksam bleibt, ehe es zerfällt, sind Wechselwirkungen aufgetreten, deren genauer Mechanismus nicht bekannt ist.

Überrascht sind die medizinischen Experten auch von den Hautschäden. Ein Oberpfälzer Bürger, der sich Ostern in eine Kette zwischen Wasserwerfern und Steine werfenden Demonstranten einreihte, geriet unter direkten Wasserbeschuss: "Ich bin getroffen worden am Rücken, bin dann in den Wald gelaufen, musste aber wieder zurück, weil CN- Gasgranaten in den Wald geschossen wurden. Ich hab mich dann an einen Baum gestellt und bin dann voll getroffen worden von einem Wasserwerfer, bin auch zu Boden gestürzt. Meine Kleidung war vollkommen durchnässt." Erst nach einigen Stunden kann er die Kleidung ausziehen und duschen. "Ich habe feststellen müssen, dass ich Rötungen der Haut habe und ein starkes Brennen am Unterkörper, im Genitalbereich, am Oberschenkel, am Gesäss bis hinunter zum Fuss." In der Nacht steigerte sich das Brennen zu Schmerzen "wie bei einer Verbrennung." Sein Hautarzt stellte am nächsten Tag eine toxische Hautentzündung fest. Trotz Behandlung stellten sich nach einer Woche Blasen ein. "Es hat so ähnlich ausgesehen wie die Bilder aus dem Krieg Irak/Iran, so grosse Wasserblasen. Erst nur eine am Oberschenkel und dann immer mehr, auch über die Knie runter. Die sind dann aufgeplatzt." Die bis fünfmarkstückgrossen Blasen entwickelten sich in den folgenden vier Wochen ständig neu. Zurück blieben zwei Narben am Oberschenkel. Der Patient hatte nie zuvor Hauterkrankungen und brachte auch sonst keinen der bekannten Risikofaktoren mit. Ein lediglich einmaliger Wasser-CS- Beschuss bewirkte die heftigen Beschwerden. Um seine Haut vor erneuten Reizungen zu schützen, muss er sie jetzt im Hochsommer vollständig vor der Sonnenstrahlung schützen.

"Es war zum Kotzen - im wahrsten Sinne des Wortes", berichtet eine junge Frau aus der Oberpfalz, die sich selbstironisch als "Chaotin" bezeichnet. Noch Tage später musste sich sich ständig erbrechen, hatte Durchfall und fühlte sich "rundherum sauelend". Auch die ärztlichen Befunde ihrer Freunde und Freundinnen und deren Angehörigen sprechen eine deutliche Sprache: Blutspucken, Bindehautentzündung, Hornhautverätzung am Auge, hochgradige Schwellung der Augenlider, Hautaustrocknung und -abschälung, Schluckbeschwerden und allgemeine Mattigkeit. Sie selbst geriet bereits Pfingsten wieder in dichte CS- Schwaden und hatte danach zwei Wochen mit Atemschmerzen und Husten zu kämpfen. "Wenigstens habe ich mir so das Rauchen abgewöhnen müssen, das ist ja auch nicht schlecht."

Drei Monate nach dem ersten bundesdeutschen CS- Grosseinsatz sind längst nicht alle medizinischen Fragen geklärt, So geht Dr. Daunderer davon aus, dass es sich bei den Schäden "in der Regel um toxische Symptome und keine Allergien handelt," denn bei 20 speziell untersuchten Personen sei keine Häufung von Antikörpern festgestellt worden, die für allergische Reaktionsmuster sprechen würden. Dafür sprächen auch die klar begrenzten Hautflächen, auf denen sich nach CN/CS- Einwirkung Schäden entwickelt hätten. "Stutzig" macht Dr. Daunderer und seine Kollegen in der Oberpfalz allerdings, dass zwischen Einwirkung der Kampfstoffe und Auftreten der ersten Spätsymptome Verzögerungen von bis zu neun Tagen lagen. (1)

Foto © Joker / Steussloff (GIF 41k)

 

Das ist gelebte Prophylaxe (Wackersdorf 1986)

 


"Ich habe zum Beispiel hier ein junges Mädchen, in der 17. Woche schwanger, die da zu den Osterfeiertagen in Wackersdorf war. Die erklärte mir, hätte sie nur eine Ahnung gehabt, dass man dort mit Chemikalien arbeitet, wäre sie natürlich nie dorthin gegangen. Ich kann ihr bis zum Abschluss der Schwangerschaft nicht garantieren, dass sie kein missgebildetes Kind bekommt."
Dr. Max Daunderer, in: Ärzte Zeitung, 16. Juli 1986

Unklar bleibt nach wie vor auch, welche Wirkungen die Zerfallsprodukte des CS haben: Im Körper entsteht nämlich aus dem CS unter anderem Zynanid, also Blausäure. Dieser hochgiftige Stoff wirkt direkt auf die Sauerstoffaufnahme des Blutes - es ist also durchaus möglich, dass neben der akuten Wirkung auf die Atmung auch noch eine indirekte Atembehinderung hinzukommt. Aus Tierversuchen ist jedenfalls bekannt, dass Tiere, denen vorher ein Blausäure- Gegengift gegeben wurde, sehr viel höhere CS- Konzentrationen vertragen können, ehe sie sterben. Und erst in 30 Jahren wird sich herausstellen, ob sich der Verdacht bewahrheitet, dass CN und möglicherweise auch CS zu einer Krebsentwicklung beitragen können. Dr. Daunderer verweist auf die Studie des amerikanischen Polizeiarztes Dr. Dyer, Direktor der Polizeiklinik in Washington, der bei Beamten, die gegen Vietnamkriegsgegner CN gespritzt hatten, eine auffällige Häufung von Hautkrebs feststellte.

"Die Wirkung von CS ist stärker als jede psychische Abwehrkraft des Menschen", zitierte vor acht Jahren das Magazin des Bundesgrenzschutzes Experten der Bundeswehr (3). Tatsächlich hat sich auch in Wackersdorf und am 7. Juni in Brokdorf gezeigt, dass die akuten Atembeschwerden zu handfesten Paniken führen können. Aber auch hier bleibt vorerst offen, ob es möglicherweise einen direkten Wirkmechanismus des CS auf zentrale Hirnfunktionen gibt. Panikzustände kann Dr. Angebrand allerdings nur in Einzelfällen bestätigen, "Das führende Symptom war Wut. Ich habe das Gefühl, dass die Leute erst recht gegen den Zaun angerannt sind." Und das wird sich so schnell nicht ändern, bekräftigen viele dort oben am Bauplatz.

Quellen:

  1. Ärzte Zeitung, 16. Juli 1986
  2. Bayerischer Landtag, Expertenanhörung der SPD-Fraktion über den Einsatz von CS in Wackersdorf, 5. Juni 1986.
  3. BGS - Zeitschrift des Bundesgrenzschutzes, 4/78

Worterklärungen:

Ich habe mit Befremden gelesen, dass sich mein Mann nach meiner Aussage - seiner Gefährdung durchaus bewusst gewesen sei, Das ist mir völlig neu. Ich habe weder mit einem SPIEGEL- Reporter gesprochen, noch kann ich mich erinnern, der Polizeigegenüber im ersten Schock einen derartigen Unsinn von mir gegeben zu haben. Mein Mann war nach Aussage seines Lungenfacharztes kein auffälliger Patient, er reagierte lediglich auf einige Reizstoffe überempfindlich, so zum Beispiel auf Autolacke. Seine Asthmaanfälle waren immer zu beherrschen, sei es mit speziellen Sprays oder einem lnhaliergerät. Dass bei der angemeldeten und zu erwartenden Massendemonstration in Wackersdorf Gase eingesetzt werden sollten, die ihm gefährlich werden könnten, haben wir nicht gewusst. Natürlich kann man mir vorhalten, in den Zeitungen sei vor einer Teilnahme gewarnt worden. Diese Warnungen bezogen sich aber auf die Möglichkeit von gewalttätigen Ausschreitungen - und die sind bei Demonstrationen immer gegeben. Wir haben diese Warnungen als Einschüchterungsversuche für den politisch engagierten Staatsbürger verstanden und wollten uns so leicht nicht entmutigen lassen. Unser Ziel war lediglich, unsere politische Überzeugung auf friedliche Weise zum Ausdruck zu bringen. Aus diesem Grund haben wir auch das Baugelände am Vormittag nur kurz besichtigt, wo es absolut ruhig war, und haben uns dann auf dem Kundgebungsplatz aufgehalten beziehungsweise, mein Mann sass vor dem Kundgebungsplatz.

Gräfeling (Bayern), Gisela Sonnleitner
(aus: Spiegel, 21.4.86)