Flucht und Asyl (Zeitschrift des Flüchtlingsrates Leipzig e.V.), Juli 2000
Wie dehnbar ist ein Gesetz?
Die Hintergründe der jüngsten Proteste von Asylbewerbern in der Region Leipzig
Wenn Sie Probleme haben, den folgenden Text zu verstehen, können
Sie sich vorstellen, wie sich erst ein Flüchtling fühlen muss,
den die dort erörterten Fragen direkt betreffen! Als aufmerksame/r
Leser/in unseres Informationsblattes wissen Sie, dass das Asylbewerberleistungsgesetz
(AsylbLG) ein bundesweites Gesetz ist, nach dem Asylbewerber und geduldete
Personen reduzierte Sozialleistungen erhalten. Die Grundversorgung soll
dabei gemäß § 3 in Form von Sachleistungen erfolgen. Allerdings
sieht § 3, Abs.2 vor, dass, „soweit es nach den Umständen erforderlich
ist, anstelle von vorrangig zu gewährenden Sachleistungen (...) Leistungen
in Form von Wertgutscheinen, von anderen vergleichbaren unbaren Abrechnungen
oder von Geldleistungen im gleichen Wert gewährt werden“ können.
Nach drei Jahren Aufenthalt tritt aber § 2 in Kraft, und dieser sieht
Leistungen entsprechend Sozialhilfe vor. (Nur für Personen mit Duldung
gelten zusätzliche Bedingungen.) Sozialhilfe wird, wie Sie wissen,
im Regelfall bar ausgezahlt.
So weit, so klar? Weit gefehlt! Stellen Sie sich vor, Sie sind Asylbewerber
in Sachsen-Anhalt. Dort erhalten Sie Ihre Leistungen ab Beginn des Asylverfahrens
generell als Bargeld. Es herrschen also landesweit „besondere Umstände“,
die Geldleistungen als geboten erscheinen lassen. In Sachsen herrschen
auch besondere Umstände, aber anders herum. Hier werden die Sozialämter
gedrängt, auf Grund der örtlichen Umstände auch nach Ablauf
von drei Jahren immer noch Essenpakete oder Magazinverpflegung auszugeben.
Der Flüchtlingsrat hat den Verdacht, dass die besonderen örtlichen
Umstände, die in den jeweiligen Bundesländern herrschen, die
Herrschenden sind ...
In Sachsen würden Sie als Flüchtling also nach über
drei Jahren immer noch Sachleistungen erhalten. Dies führte zu heftigen
Protesten der Betroffenen. In Leipzig hat sich zwar die Stadt gegen den
Druck des Innenministeriums und des Regierungspräsidiums gewehrt,
aber letztlich vergeblich. Es war eine zähe Auseinandersetzung, die
wir Ihnen schildern möchten. Aber erklären Sie mal einem Flüchtling,
dass Grundlage dieses Durcheinanders ein- und dasselbe Gesetz ist, das
bundesweit gilt!
Das Land Sachsen hatte schon einmal versucht, den so-genannten
„§ 2-Flüchtlingen“ außer einem „Taschengeld“ nur Sachleistungen
zu geben: von 1993 bis Januar 1995. Damals hatte aber das Oberverwaltungsgericht
Sachsen in einem Beschluss entschieden, dass eine Leistungsgewährung
entsprechend Bundessozialhilfegesetz (BSHG) bedeute, dass auch die Form
der Leistungsgewährung in der Regel der Sozialhilfe entsprechen müsse:
also Bargeld.
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§ 2 AsylbLG: Leistungen in besonderen Fällen
(1) Abweichend von den §§ 3-7 ist das Bundessozialhilfegesetz
auf Leistungsberechtigte entsprechend an-zuwenden, die über eine Dauer
von insgesamt 36 Mo-naten, frühestens beginnend am 1. Juni 1997, Leistungen
nach § 3 erhalten haben, wenn die Ausreise nicht erfolgen kann und
aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können,
weil humanitäre, recht-liche oder persönliche Gründe oder
das öffentliche In-teresse entgegenstehen.
(2) Bei der Unterbringung von Leistungsberechtigten in
einer Gemeinschaftsunterkunft bestimmt die zuständige Behörde
die Form der Leistung auf Grund der örtlichen Umstände.
(3) Minderjährige Kinder, die mit ihren Eltern oder
einem Elternteil in einer Haushaltsgemeinschaft leben, erhalten Leistungen
nach Absatz 1 nur, wenn minde-stens ein Elternteil in der Haushaltsgemeinschaft
Leistungen nach Absatz 1 erhält. |
Gesetz und erster ministerieller Erlass
Daran hatte auch die ab 01.06.1997 wirksame Änderung des AsylbLG
im Grundsatz nichts geändert. Zwar wurde § 2 für 3 Jahre
(also bis 1.6.2000) außer Kraft gesetzt, und es wurde § 2 Abs.2
eingefügt, der ermöglicht, dass die zu-ständige Behörde
auf Grund der örtlichen Umstände über die Form der Leistung
entscheiden darf. Das Verhältnis von Regel und Ausnahme wurde aber
dadurch nicht umgekehrt. Im Gemeinschaftskommentar zum AsylbLG heißt
es denn auch: "Auch unter der Geltung des § 2 Abs. 2 AsylbLG n.F.
(= neue Fassung) ist vom grundsätzlichen Vorrang der Gewährung
von Geldleistungen (...) in Ge-meinschaftsunterkünften auszugehen."
Die allgemeinen Grundsätze der Leistungsgewährung nach BSHG seien
weiterhin zu berücksichtigen.
Diese Abwägung wurde im Erlass des SMI vom 12.05.2000 nicht vorgenommen.
Es heißt dort: "In der Regel werden daher Geldleistungen nur ausnahmsweise
dann gewährt werden können, wenn ausgeschlossen werden kann,
dass es auf Grund unterschiedlicher Leistungsformen in derselben Unterkunft
zu Störungen des Hausfriedens kommt." Dieser Satz enthält zwei
Unterstellungen: dass es nämlich in der Regel zu Störungen des
Hausfriedens kommen wird, wenn ein Teil der Bewohner Geldleistungen erhält,
und dass diese Störungen vermieden werden, wenn auch die, die eigentlich
besser gestellt werden sol-len, Sachleistungen erhalten. Beide Annahmen
wurden durch das SMI nicht begründet und waren, wie die weiteren
Ereignisse zeigten, höchst zweifelhaft. Die Forderung, dass Störungen
des Hausfriedens bei Auszahlung von Bargeld ausgeschlossen sein müssen,
war praktisch unerfüllbar und außerdem fragwürdig, da
sie umgekehrt bei einer Sachleistungsgewährung nicht gelten sollte!
Die scheinbar fürsorgliche Argumentation des SMI („Wir wollen
ja nur den Hausfrieden erhalten“), war auch deshalb an den Haaren herbeigezogen,
weil es in der Zeit von 1995 bis 1997, als Asylbewerber in den Heimen schon
verschiedenartige Leistungen erhielten, zu keinen Auseinandersetzungen
gekommen war. Außerdem wurden überhaupt keine anderen Möglichkeiten,
Konflikten vorzubeugen, in Betracht gezogen. Auch hier wurde vernachlässigt,
was im Gemeinschaftskommentar zum AsylbLG steht: "Demzufolge ist eine restriktive
Handha-bung des § 2 Abs. 2 AsylbLG dahingehend geboten, als die Gewährung
von Sachleistungen (...) in Gemeinschaftsunterkünften nur dann gerechtfertigt
ist, wenn weniger einschneidende, gleich geeignete Maßnahmen zur
Befrie-dung der Situation in den Gemeinschaftsunterkünften nicht zur
Verfügung stehen."
Statt Befriedung: Protest der Flüchtlinge
Wie es sich dann ab Juni 2000 in Leipzig und Umgebung zeigte, kam es
zu massiver Unruhe in den Heimen aus genau dem entgegengesetzten Grund,
nämlich weil die Flüchtlinge, die seit (über) 3 Jahren auf
eine Umstellung der Leistungsgewährung gewartet hatten, sich betrogen
fühlten. Es kam zum Boykott der Essenversorgung und zu Hungerstreiks
nicht nur in Leipziger Heimen, sondern auch u.a. in Markkleeberg, Taucha,
Bahren, Dahlen und Doberschütz. Allerdings ging es dabei nicht nur
um den § 2 AsylbLG, sondern um zahlreiche weitere Beschwerden, die
man bei der Gelegenheit öffentlich machte. Mit einer großen
Demonstration am 6. Juli in Leipzig, an der ca. 500 - 600 Personen teilnahmen,
protestierten Flüchtlinge und Unterstützer u.a. auch gegen das
Asylbewerberleistungsgesetz als Ganzes, gegen das Arbeitsverbot und die
ge-samten Lebensbedingungen für Flüchtlinge.
Stadt Leipzig: der Streit ums Bargeld
Wie kam es zu der Eskalation in Leipzig? Die Stadt Leipzig hatte Ende
Mai den Entschluss gefasst, den Flüchtlingen Bargeld zu gewähren.
Das Regierungspräsidium (RP) Leipzig wies aber die Stadt darauf hin,
es betrachte diese Verfahrensweise als unzulässig, so dass die Stadt
be-schloss, zunächst weiter Sachleistungen auszugeben.
Eigentlich waren sowohl der Erlass des SMI als auch die Intervention
des RP ein unzulässiger Eingriff in die Entscheidungsbefugnis der
zuständigen Behörde. Das wäre laut Gesetzestext das örtliche
Sozialamt gewesen. Selbst im Erlass hieß es: "Allein die zuständige
Behörde ist befugt, die Form der Leistung zu bestimmen." „...Aber
wir wollen bestimmen, wie die zuständige Behörde entscheidet“,
muss man sich hinzudenken.
Als die Flüchtlinge in den Heimen erfuhren, das es weiter Pakete
für alle geben sollte, gab es sofort Protest. Zuerst beschlossen die
Bewohner des Asylbewerberheimes Lili-ensteinstraße, wo etwa die Hälfte
der Bewohner von der Umstellung profitiert hätten, einen generellen
Boykott der Essenpakete und eine Blockade des LKW, der sie bringen sollte.
„Wir lassen uns nicht teilen“, war das Motto. Die Asylbewerber, die keine
Verbesserung zu erwarten hat-ten oder sich nicht am Boykott beteiligen
wollten (auch Familien mit Kindern), wurden gedrängt, solidarisch
zu sein. Kurz darauf folgten die Bewohner der Torgauer Straße, was
die Lage komplett verwirrte, da sich dort praktisch kein Flüchtling
befand, der vom § 2 betroffen war. Aber man protestierte bei der Gelegenheit
auch gegen die dortige Gemeinschaftsküche und andere Kritikpunkte.
Für einige Zeit wurde auch die Torgauer Straße blockiert. Und
schließlich schloss sich als dritte Unter-kunft die Raschwitzer Straße
an, wo etwa ein Drittel der Bewohner „§2-Flüchtlinge“ sind. Es
war eine anstrengende Woche nicht nur für die Flüchtlinge, sondern
auch für die Stadtverwaltung und Beratungsstellen und Initiativen.
Sie wurden von Flüchtlingen bestürmt, mit ihnen zu verhandeln,
den Streik zu unterstützen oder zu helfen, anderweitig an Nahrungsmittel
zu kommen.
Der Flüchtlingsrat unterstützte den Protest der Flüchtlinge
und kritisierte in einer Presseerklärung die Stadt, dass sie vorübergehend
nachgegeben hatte. Er versuchte aber auch, den Flüchtlingen deutlich
zu machen, dass man nicht durch Mehrheitsentscheidung festlegen kann, dass
alle hungern sollen, und dass Personen, die sich nicht beteiligen wollen,
nicht bedroht werden dürfen.
Plötzlich wendete sich das Blatt: am 7. Juni fiel bei einer Sitzung
mit dem OBM die Entscheidung: Leipzig gibt Bargeld für die Betroffenen!
So hatten es auch die Städte Chemnitz und Zwickau und der Landkreis
Kamenz be-schlossen. Der Flüchtlingsrat Leipzig begrüßte
diesen Schritt und hoffte, dass er ein Signal für weitere Kreise und
Städte in Sachsen sein würde.
Der zweite Streich des Landes
Das genaue Gegenteil trat ein: Landesregierung und Re-gierungspräsidium
holten zum zweiten „Doppelschlag“ aus. Am 20. Juni „präzisierte“ das
SMI seinen ersten Erlass. Es behauptete zum Einen, nicht nur die örtlichen
So-zialämter seien zuständige Behörden, sondern auch die
RPs und das SMI selbst. Zweitens wies es die Sozialämter an, den Leistungsberechtigten
in Gemeinschaftsunterkünften in der Regel Sachleistungen auszugeben.
Drittens verpflichtete es die Sozialämter, alle Fälle von Flüchtlingen
in Gemeinschaftsunterkünften, denen man Bargeld auszahlen wollte,
dem zuständigen RP zur Einzelfallprüfung vorzulegen. Das RP
Leipzig verschärfte diese Auslegung noch einmal, indem es eine Einzelfallprüfung
bei Flüchtlingen in Gemeinschaftsunterkünften für ausgeschlossen
erklärte. Nur für Flüchtlinge, die aus gesundheitlichen
Gründen in Privatunterkünften wohnten, sei dies möglich.
Der Oberbürgermeister der Stadt Leipzig versuchte in einem Vier-Augen-Gespräch
mit dem Regierungspräsiden-ten dessen Behörde noch einmal umzustimmen.
Er verließ das Gespräch in der festen Überzeugung, dass
der Regierungspräsident eine Auszahlung von Bargeld an Flüchtlinge
in Gemeinschaftsunterkünften nicht für un-möglich hielt.
Dieser behauptete aber später das genaue Gegenteil. Nun gut, warum
sollten in diesem Fall Worte nicht auch sehr weit dehnbar sein ...
Was bleibt den „§2-Flüchtlingen“ übrig?
Nun sieht es so aus: in Leipzig gibt es weiter Pakete für alle
(außer für wenige Personen in Privatwohnungen). Damit nicht
genug: Die vom Ministerium nahegelegten pauschalen Abzüge vom Sozialhilfe-Regelsatz
für Heimbewohner, die von § 2 AsylbLG profitieren sollen, sind
so hoch, dass von Verbesserung kaum noch etwas zu spüren ist: Alleinstehenden
werden von ihren 522 DM allein für "Verbrauchsgüter" (im Wesentlichen
Reinigungsmittel und Toilettenpapier) 45 DM im Monat abgezogen: bei ei-ner
4-köpfigen Familie summiert sich das auf ca. 100 DM monatlich! Hinzu
kommen 15% Abzüge für Hausrat und Energie, 50% - 60% für
Verpflegung und Hygiene. Letztlich erhalten die Anspruchsberechtigten kaum
mehr Geld als vorher: Haushaltsvorstände haben 43,70 DM mehr im Geldbeutel
(123,70 DM statt 80 DM), Jugendliche von 14--17 Jahren 39,50 DM (119,50
DM statt 80 DM), alle übrigen Familienangehörigen keinen Pfennig
mehr! (Bei strikter Anwendung aller Abzüge wäre es sogar noch
weniger gewesen!) Dies ist unserer Meinung nach ein Versuch, ihnen Leistungen
vorzuenthalten und die Verbesserung praktisch "leerlaufen" zu lassen.
Sachsen will unattraktiv sein
Überflüssig zu sagen, dass auch die übrigen Städte
und Kreise im Rest des Freistaates „auf Linie“ gebracht wur-den. Der Freistaat
ist so frei, den zuständigen Behörden keine Freiheit zu lassen;
alles muss einheitlich restriktiv sein – im Gegensatz zur großen
Mehrheit der übrigen Bundesländer. Charakteristisch für
den Geist der Rege-lung ist die Äußerung, mit der Innenminister
Hardraht in der LVZ zitiert wurde: „Damit werde Sachsen unattraktiv für
Wirtschaftsflüchtlinge“. Dabei werden Asylbewerber in einem bundesweiten
Verteilungsverfahren auf die ein-zelnen Bundesländer zugewiesen und
können ihren Auf-enthaltsort nicht wählen. (Außerdem ist
Sachsen auch so schon unpopulär bei Flüchtlingen ...)
Der Flüchtlingsrat Leipzig hat mit einem offenen Brief an Innenminister
Hardraht (in dieser Ausgabe abgedruckt) gegen die sächsische Auslegung
des AsylbLG protestiert. Immerhin soll Hardraht dem PDS-Abgeordneten Porsch
zugesichert haben, man wolle prüfen, ob Asylbewerber Lebensmittelgutscheine
erhalten könnten und ob man ihnen mehr Wahlrecht bei der Einlösung
von Bekleidungsgutscheinen lassen könne.
Dieter Karg