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junge Welt, 08.07.2000

Wissen Flüchtlinge, was sie tun?
Interview mit Anja Treichel

Seit Montag streiken in Leipzig und Umgebung alle Flüchtlinge in den Asylbewerberheimen. Am Donnerstag zogen sie auf einer selbst organisierten Demo dureh die Leipziger Innenstadt Anja Treichel ist die Sprecherin von KAHINA e.V., einer antirassistischen Initiative von Deutschen und Ausländern, und begleitete die Demo im Lautsprecherwagen

Am Donnerstag fand in Leipzig eine Demonstration von Flüchtlingen statt, die Sie im Lautsprecherwagen begleiteten. Wie war die Stimmung im Lautsprecherwagen bei der Demo der Flüchtlinge?

Im Wagen wie auf der Demo war die Atmosphäre sehr gut und auch sehr kämpferisch. Nicht so langweilig wie auf den Demos, die man sonst so kennt. Menschen, die hierzulande keine Stimme haben und isoliert in Heimen leben müssen, meldeten sich zum ersten Mal selbst zu Wort und gingen auf die Straße.
Sie haben in ihren Heimen autonome Räte gewählt, die auf einer Versammlung die Demonstration und folgende Forderungen beschlossen haben: 1. die allgemeine Arbeitserlaubnis, 2. Sozialhilfe in bar für alle, die keine Arbeit finden, 3. bessere Wohnbedingungen und perspektivisch die Abschaffung der Heime, 4. Bewegungsfreiheit in der gesamten BRD, 5. freie Arztwahl und 6. kostenlose Deutschkurse. An der Demo beteiligten sich zirka 800 Menschen, überwiegend FIüchtlinge. Es hätten auch doppelt oder dreimal soviel sein können, wenn dies den Bewohnern der Asylbewerberheime außerhalb von Leipzig gestattet worden wäre. Damit ein Flüchtling sein Heim in einem Umkreis von 30 Kilometern verlassen kann, muß er einen sogenannten Antrag auf Urlaub stellen, der zu diesem Zweck natürlich nicht erteilt wurde.

Die Demo stoppte vor dem Regierungspräsidium, in das eine Delegation geschickt wurde. Was ist dabei herausgekommen?

Nichts. Die Delegation forderte die Zahlung von Bargeld an alle Flüchtlinge, eine Mitarbeiterin verkündete ihr, daß ab Juli wieder alle Heimbewohner Freßpakete bekommen werden. Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz können Asylbewerber nach 36 Monaten Aufenthalt monatlich 443 DM in bar statt Freßpakete oder Magazinzuteilungen bekommen. Darüber entscheiden sollen die Behörden, wobei aber nicht genau gesagt wird, welche. In Leipzig gibt es ein Kompetenzgerangel zwischen der Stadt und dem Regierungspräsidium. Die Stadt hat im Juni an 85 Flüchtlinge, die über drei Jahre hier sind, den Betrag gezahlt. Dieses Geld bekommt sie vom Regierungspräsidium, das dies aber künftig verweigert.

Warum nur an 85 Flüchtlinge?

Das waren deshalb so wenig, weil nur Menschen mit einer Aufenthaltsgestattung, nicht aber solche mit einer Duldung das Geld bekommen haben.

Wie ist die Situation in den Heimen nach der Demo?

Die Stimmung ist sehr aufgebracht. Man ist enttäuscht über das Verhalten des Regierungspräsidiums und denkt über eine Radikalisierung des Streiks nach. Vor dem Regierungspräsidium wurde ein Flüchtling von der Polizei verhaftet und erkennungsdienstlich behandelt, weil er durch das Lautsprecherwagenmikro zur Gewalt aufgerufen haben soll. In Wahrheit hat er nur seiner Frustration Luft gemacht und gesagt: Wenn das alles so weitergeht, dann werden vielleicht eines Tages die FIüchtlinge ihre Heime anzünden, weil man in ihnen nicht leben kann. Zudem gab es für fünf Flüchtlinge Vorladungen durch das Wohnungsamt und die Ausländerbehörde: Sie sollen sich einzeln bei ihrem Heimleiter melden und sich zu dem Vorwurf äußern, daß sie gegen die Wohnheimordnung verstoßen hätten. Die Vorladungen sind mit der kryptischen Drohung versehen: "Wir möchten Sie vorsorglich darauf hinweisen, daß es auch bei einem unentschuldigten Fehlen zu einer rechtlichen Entscheidung in ihrer Abwesenheit kommt." Im Asylbewerberheim in der Torgauer Straße kam die SPD-Landtagsabgeordnete Weihnert vorbei und versuchte, den Speisesaal zu öffnen. In Absprache mit den Streikenden hat ihn die Heimleitung abgeschlossen. Frau Weihnert behauptet, die Flüchtlinge wüßten nicht, was sie tun. Sie ließen sich von linken Gruppen und der PDS instrumentalisieren und verständen die auf Flugblättern in ihrem Namen abgegebenen Erklärungen nicht. Das Gegenteil ist der Fall: Spätestens auf der Demo hat man gemerkt, daß die Flüchtlinge für ihren Protest keine Deutschen brauchen.

Interview: Christof Meueler

Stellungnahme

Zum Artikel »Lebendig begraben« (jW 6.7.2000) erreichte uns eine Stellungnahme des sächsischen Ausländerbeauftragten Heiner Sandig. Darin erklärt er, daß weder er noch eine von ihm beauftragte Person, noch Mitarbeiter von ihm in den letzten Tagen im Asylbewerberheim in Taucha waren. Nach jW vorliegenden Informationen waren dort Herr Zebrowski, Pressesprecher des Landratsamtes Delitzsch, und Herr Greulich, Mitarbeiter beim Amt für Ausländereingliederung und Staatsangehörigkeit des Landratsamtes Delitzsch. Herr Greulich drohte mit Gefängnis.
Die Redaktion

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