Seeblättle  <<  >>  Quelle:  Seeblättle  Jg. 2000  Nr. 2 

Michael Venedey: Übrigens bin ich der Meinung ...

Einige Überlegungen zum Nationalismus

Ich hatte Anfang der 90-er Jahre in Berlin eine Begegnung mit einem Journalisten, der sich durch eine pointiert "antinationalistische" Haltung einen gewissen Namen gemacht hatte. Da ich in dieser Zeit die Vorstellung hatte (und sie noch habe), dass durch die Entwicklung eines "Großdeutschland", als der entscheidenden hegemonialen Macht in Europa, der Weltfrieden bedroht sein wird, verband uns die Vorstellung, dass dem in erster Linie durch den Hinweis auf die unheilvolle deutsche Geschichte begegnet werden müsste. Es war unser wichtigstes Anliegen, der aufkeimenden Stimmung, dass die "Normalität" ("es ist erreicht") die Deutschen nun auch endlich von der Rolle der "Täter" befreien würde, Paroli zu bieten. Unsere Beziehung erlitt einen Bruch, als ich - bei irgendeiner Gelegenheit - von meinem Anti-US-Amerikanismus sprach. Der Journalist warf mir vor, mit meinem Hinweis gewissermaßen die Hauptschuld an einer zu erwartende, unheilvolle Entwicklung von den deutschen Schultern auf die amerikanischen abzuladen. Er konstruierte eine Nähe zu Leuten wie Mechtersheimer, die nun tatsächlich dieser Tendenz huldigen. Wie auch ein nicht unerheblicher Teil der chauvinistischen alten Nazis es taten, die ihre Niederlage von 1945 am Stammtisch "verarbeiteten" und auf die "Feigheit der Amis" verwiesen, die nur dank ihrer enormen technischen Überlegenheit militärische Erfolge errangen.

Ich versuchte damals mit folgenden Argumenten meine Position zu erklären:

  1. Mit einer, durch meine Entwicklung angelegten, tiefen Abneigung gegenüber dem, was inzwischen als wahrhaft globale Überschwemmung mit us-amerikanischer "Kultur" alle Kontinente heimsucht. Eine der Bemerkungen in diesem Zusammenhang, die ich eigentlich für entbehrlich halte, weil für selbstverständlich (wie wenig müsste geschrieben werden, wenn diese Überlegung allgemein beherzigt würde), erscheint mir nun doch notwendig: natürlich erfreut mich Musik von Gershwin oder Bücher von Sinclair Lewis, um nur zwei Beispiele zu nennen. Aber deren Erzeugnisse kommen bei der Masse (weder dort noch sonstwo) kaum an. Sie sind irrelevant in Bezug auf den american way of life.
  2. Eine der Gefahren für die menschliche Entwicklung geht von der Hirnrissigkeit einer "Musik" aus, deren Unterscheidbarkeit nur noch in Dezibel zu messen ist. Aber die gößte Gefahr, nicht nur zu frühzeitiger Schwerhörigkeit (..) zu führen, geht von einerabsolut beherrschenden Filmindustrie aus, für die es nur einen Maßstab gibt, nämlich unter allen Umständen Profit zu machen. Und da sind sex & crime die zugkräftigsten Nummern.

Man könnte einwenden, dass dies Elaborate eines typischen Bildungsbürgers sind, der mehr im 18. Und 19. Jahrhundert zu Hause ist. Aber es sind ja nicht nur - nicht einmal in 1. Linie - diese "kulturellen" Unterwanderungen und Zerstörungen, die mich aufregen. Wie kann man angesichts der US-amerikanischen Geschichte der letzten 100 Jahre (seit ihrem dominanten Eintritt in die Weltgeschichte) mit beruhigender Zuversicht in die Zukunft blicken? Was denken z.B. Menschen, die in der "Weltwoche" vom 17.02.00 eine Kolumne einer Afro-Amerikanerin lesen, die von einer Fotoausstellung über die "Geschichte des Lynchens in den USA" berichtet. Die Überschrift lautet: "Tödliche Parties". Diese Lynchakte (die Dokumentation reicht von 1860-1969) liefen ab "wie ein Jahrmarkt, der aus den Nachbarbezirken Hunderte von weißen Schaulustigen anzog ...(Sie) hoben ihre Kinder auf die Schultern, damit sie einen besseren Ausblick auf das Spektakel hatten."

Der zu erwartende Einwand auf die Südstaaten, in denen sich vorwiegend solche "Spektakel" (4742 sind bezeugt, die Dunkelziffer ist sicher größer) abspielten, überzeugt nicht. Das wäre ungefähr so, wie wenn die Deutschen sich vom Holocaust freisprächen, indem sie sich auf die überproportional hohe Beteiligung von Österreichern an KZ-Chargen beriefen. Und was ist mit Vietnam, mit dem Tod von 3 Millionen Vietnamesen, die dieser zutiefst verbrecherische Krieg der USA gefordert hat? Oder mit den Millionen an toten Kindern, die die US-hörige UNO mit ihren Sanktionen (der Gerechtigkeit halber muss erwähnt werden, dass der deutsche UNO-Beauftragte von Sponeck mit seinem Rücktritt spät zwar, aber immerhin die Konsequenzen aus diesen Morden zog) verursachte? Ganz zu schweigen von dem völkerrechtswidrigen Überfall auf Jugoslawien mit den Tausenden toter Zivilisten.

Diese Liste ließe sich fortsetzen (auch hier denke ich, das muss doch jeder halbwegs informierte und nicht mit der Blindheit der Nibelungentreue geschlagene selbst wissen) und ergänzen durch die Blutspur, die Organisationen wie der CIA durch die Welt gezogen haben. Aktuell ist die Veröffentlichung der Akten, die das mörderische (im wahren Sinne des Wortes) Treiben dieser Organisation im Zusammenhang mit der Liquidierung der demokratisch legitimierten Allende-Regierung in Chile betrifft. Und das ist wahrhaftig nur eine kleine Episode aus der Tätigkeit dieses "Arms zum Schutze der demokratischen freien Welt".

Zurück zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen: Ich halte die deutsche Politik im Grunde in ihren Intentionen für ebenso gefährlich wie die US-Außenpolitik. Den Beweis dafür hat die Junior-Partnerschaft im Krieg gegen Jugoslawien erbracht. Aber die ungeheure Macht, die uneingeschränkte Übermacht im militärischen Bereich macht die USA zu der Bedrohung des Weltfriedens.

Aber es gibt noch einen zweiten Punkt, der meine Bedenken verstärkt und meine Prognose für mich sicherer macht.

Die USA ist ein Land, das die Mitte (wenn sie diese je besessen hätte) verloren hat. Ich meine nicht die politische "Mitte", sondern das, was einem Volk eine Stabilität gibt. Vielleicht hätte aus diesem vielbeschworenen "Schmelztiegel" etwas Positives werden können, wenn der Lauf der Geschichte dieses ungefüge Konglomerat nicht mitten in seiner Entwicklung an die Spitze der Staaten gebracht hätte. Es gibt selbstverständlich unter den so heterogenen Teilen dieser Völkermischung fortschrittliche Bewegungen. Aber nicht einmal die Besinnung auf die fortschrittlichen Stränge ihrer Geschichte haben zu einem verlässlichen Gefüge geführt. Alles ist in Auflösung begrifen, alles kreist um das goldene Kalb der Gewinne der shareholder values. Die Sucht nach Selbstdarstellung (man denke nur an den unsäglichen Exibitionismus in den entsprechenden talk shows) kennt keine Grenzen. Der Nachbar dient nur noch als Projektionsfläche für das Angeben mit Macht und Reichtum. Und wenn das nicht reicht, mit dem "einmaligen" Kick irgendeiner einmaligen Schweinerei (z.B. Serienmorde und Massaker auf dem Schulhof).

Wir Linken haben ein ungeklärtes und unsicheres Verhältnis zur Frage des Nationalismus. Der uns eigene Internationalismus hatte seine historische Berechtigung. Und er hat sie noch. Aber es gilt auch (besonders heute), was Fidel Castro sagt: "Wir Sozialisten haben den Irrtum begangen, die Macht des Nationalismus und der Religion zu unterschätzen". Ein weites Feld, das noch eingehender Beackerung harrt.

Wie könnte der Geist der Befreiung Nahrung finden in einem Land, dessen "Finanzskandale" ja nicht die "Verfehlungen Einzelner" sind (so wie Johannes Paul II ja die "culpa" auch nur im Wirken einiger "Verirrter" sieht und nicht als die Schuld einer Institution, die über viele Jahrhunderte ihre ungeheure Macht missbrauchte), sondern Zeugnis ablegen von dem herrschenden consensus: make money! - koste es, was es wolle.

Selbst wenn es zunehmend Menschen geben sollte, die es - wie ich - unerträglich finden, diese Verhöhnung und Verbiegung aller Werte hinzunehmen, die einmal in der Morgenröte der Aufklärung und der Großen Französischen Revolution den Weg in eine glückliche Zukunft gewiesen haben: es werden sich noch für lange Zeit Genossen der Bosse finden, die die Völker an der Nase herumführen werden und damit den stauts quo zementieren.

Und die zweite Variante? Das ist die Erwartung, dass dieses kulturlose (gleichbedeutend mit: mörderisch) System eines Tages an seinen Widersprüchen und Möglichkeiten zerschellt. Die US-Amerikaner haben Hiroshima und Nagasaki in Schutt und Asche gebombt. Warum sollten sie das nicht wiederholen, wenn sie sich einmal in die Enge gedrängt fühlen sollten? Diese Vorstellung ist nicht so abwegig.

Einen nationalen Vorgeschmack auf die Reaktion einer "Bedrohung" brachte der "deutsche Herbst 1977". Damals bestand nicht im Entferntesten Gefahr für den Bestand der westdeutschen BRD. Die Angst vor dieser "Gefahr", die Hysterie wurde so geschürt, dass innerhalb kürzester (einmalig in der parlamentarischen Geschichte der BRD) Frist der Atom-Knüppel (in der Form der absoluten Ermächtigung der Notstandsgesetze) aus dem Sack geholt wurde.

Wenn es uns gelänge, unsere Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit, von gegenseitiger Respektierung, von der UNO als einer allgemein und bedingungslos anerkannten Instanz zur Gewinnung und Bewahrung von Frieden, von weltweit anerkannten und nicht mehr als Instrument zur Hegemonie missbrauchten Menschenrechten zu verbreiten ...

ja dann ... Aber das ist noch ein weiter Weg. Und einer der Stolpersteine ist der (weitgehend tabuisierte) Umgang mit dem schwierigen, ungeklärten (im allgemeinen, linken Verständnis) Problem des Nationalismus.

Sich zu einem Nationalismus zu bekennen, wäre mir erst möglich, wenn die Ideen, die in den misslungenen, niedergeschlaenen deutschen Revolutionen (mit und ohne Anführungezeichen) erweckt wurden, endlich das Bewusstsein der Deutschen bestimmten.


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Linksrheincm27.09.2000