linksrhein Quelle: AZW Nummer 12, erschienen am 26.10.1995
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"Zeitwohlstand statt materieller Wohlstand"

Spätestens seit sich der reale Kapitalismus als die überlegene Alternative erwiesen hat, müssen sich auch die Gewerkschaften verstärkt neu orientieren. Zwar spüren die Gewerkschaften die Mängel dieses Systems deutlicher als andere, können aber auch keine positive Utopie als Gegenentwurf setzen, die als Brücke zu den Tagessorgen gangbar erscheint. Daraus folgt die Notwendigkeit der intensiveren auch theoretischen Beschäftigung mit dem real verbliebenen System, in der Hoffnung, aus der Kritik des Bestehenden das Bessere entwickeln zu können. Ob und wieweit daraus ein Gegenmodell wird, ist dabei für Gewerkschaften, im Gegensatz etwa zu politischen Parteien, zunächst eine nur historisch interessante Frage.

Das DGB-Ortskartell Konstanz, ein Verbindungs- und Austauschgremium zwischen den Einzelgewerkschaften des DGB, bemüht sich seit einiger Zeit, seinen kleinen Teil dazu beizutragen. In diesem Rahmen referierte G. Stadelhofer von der IG Metall Singen zu dem, was unter dem Schlagwort "Standortdebatte" läuft.

Stadelhofer bezifferte die blossen Geldkosten der Arbeitslosigkeit im real rexistierenden Kapitlaismus der BRD auf DM 200 Milliarden jährlich: 130 Mrd. direkt und 70 Mrd. indirekt (für die Leute ohne Taschenrechner: 3.000 pro Jahr und Nase, oder 20 Millionen je ManagerIn). Die veröffentlichte Meinung in der "Standortdebatte" würde jedoch weitgehend konzentriert auf die Linie: "Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland erhöhen durch Lohnsenkungen". Und als lahmen Nachklapp: "Dann stellt die Wirtschaft auch mehr Leute ein."

Man merkte Stadelhofer die gezügelte Erbitterung an, mit der er dazu überging, das Argument "Kostensenkung durch Lohnsenkungen" sozusagen systemimmanent zu zerpflücken. In der BRD sei der durchschnittliche Anteil der Löhne an den Herstellungskosten einer der kleinsten Posten, darüber aber auch die Lohnstückkosten weltweit mit am niedrigsten. Überkapazitäten - also in erster Linie mangelnde Vorausschau, sprich schlechtes Management - seien in dieser Hinischt ein viel bedeutenderes Problem. Bei Autos beispielsweise sei weltweit eine Prduktionsüberkapazität von 9 Millionen Stück jährlich vorhanden (ganz ohne die Frage, wieviel Auto wir uns überhaupt leisten können).

Die Haupthandelspartner der deutschen Wirtschaft seien mit 71% die westeuropäischen Länder, und da spräche ja nun nichts für die Behauptung, mit sinkenden Löhnen würde die Wettbewerbsfähigkeit steigen und damit die Arbeitslosenzahl fallen: nahezu alle diese Länder hätten ja sowohl niedrige Löhne als auch höhere Arbeitslosenraten.

Wechselkursänderungen hätten einen weit höherem Einfluß auf die internationalen Wettbewerbsbedingungen: nach Berechnungen des einschlägigen Bundesministeriums lag die BRD in der Entwicklung der Lohnstückkosten seit 1960 weltweit am günstigsten. Zumindest für den europäischen Bereich hätten die Wechselkursänderungen dieser Zeit die BRD jedoch auf eine wesentlich ungünstigere Position gebracht. Diese Wechselkursänderungen seien jedoch wesentlich auch auf die (zu) hohen Aussenhandelsüberschüsse zurückzuführen. Um eine ausgeglichenere Handelsbilanz zu erreichen, sei jedoch auch mehr Kaufkraft erforderlich, also auch bessere Löhne.

Die Leib- und Magenparole der traditionellen Marktwirtschaftler: "Lasst uns nur tüchtig scheffeln, dann wirds euch gut gehen und ihr werdet Arbeit haben jetzt und immerdar ... " klänge angesichts der Einkommensentwiclung auch nicht sonderlich überzeugend: seit 1980 seien die Nettorealeinkommen der Unternehmer rund siebenfach stärker gestiegen als die der Lohnabhängigen. Mehreinstellungen seien aber dadurch nicht erfolgt.

Dafür, wie weniger Arbeitslosigkeit, weniger Ressourcenraubbau und generell eine humanere, sprich sozialere Gesellschaft zu erreichen sei, gebe es kein einfaches oder einzelnes Rezept. Die Gewerkschaften hätten eine Vielzahl von Vorschlägen entwickelt, und seien überhaupt in manchem weiter, als die veröffentlichte Meinung es widerspiegele. Aber nicht oder nur unzureichend durchgesetzte Vorschläge wie beispielweise Arbeitszeitverkürzungen oder aus vielen Details bestehende wie etwa Zeitarbeitsmodelle seien im öffentlichen Bewusstsein schwerer vermittelbar.

Als Beispiel für parolenhaft darstellbare Forderungen nannte Stadelhofer unter anderem "Wir brauchen qualitatives Wachstum statt quantitativem" und schloss als eine Konkretisierung an: "Zeitwohlstand statt materieller".

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