linksrhein Quelle: AZW Nummer 02, erschienen am 25.05.1995
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Abschiebung von KurdInnen

Der große Bluff: Die Einzelfallprüfung

Bis zum 12. Juni hätte Innenminister Birzele den Abschiebestopp für kurdische Flüchtlinge vom vergangenen Dezember auch ohne Zustimmung von Bundesinnenminister Kanther aufrechterhalten können. Aber schon Mitte März hob er diesen Erlaß offiziell wieder auf. Statt dessen präsentierte Birzele nun ein "Einzelfallverfahren", das "rückkehrpflichtigen Kurden ein Höchstmaß an Sicherheit gewährleisten" soll, so der Minister. Bei näherem Hinsehen ist bei diesem Verfahren lediglich sicher, daß die KurdInnen abgeschoben werden.

Wird in einem Staat eine Bevölkerungsgruppe allgemein, erheblich und konkret an Leib, Leben oder Freiheit gefährdet, so sieht das Ausländergesetz vor, daß der Landesinnenminister alle Abschiebungen in diesen Staat aussetzen kann. Bis Ende November letzten Jahres noch war Landesinnenminister Frieder Birzele (SPD) überzeugt, daß die Situation für KurdInnen in der Türkei diese Maßnahme erfordert. Allerdings lehnte er es ab, einen solchen Erlaß ohne das Einvernehmen mit seinen Kollegen aus den anderen Bundesländern auszusprechen. Immerhin versprach er, sich auf der Innenministerkonferenz am 24. November '94 für einen bundesweiten Abschiebestopp für KurdInnen einzusetzen.

Seit November hat sich die Lage in der Türkei für KurdInnen extrem verschärft. Die Verurteilungen von Leyla Zana und den kurdischen Abgeordneten des türkischen Parlaments zu langen Haftstrafen diente Bundesinnenminister Kanther als Anlaß, die Abschiebungen bis nach der Landtagswahl in Hessen auszusetzen. Der Bombenanschlag auf die Redaktionsräume der Özgür Ülke Anfang Dezember, das Verbot dieser prokurdischen Zeitung, Prozesse gegen Menschenrechtler und Literaten, Verhaftungen und Folter von Oppositionellen in den Gefängnissen, das "Verschwindenlassen" und Ermorden von Rechtsanwälten und Journalisten, die erneute Verwüstung der Region um die kurdische Stadt Tunceli, der Einfall der türkischen Armee in den Nordirak, die Zerstörung der Dörfer und die Verminung des Landes beim Rückzugøøø Eine Liste zusätzlicher Gründe, die jede Abschiebung in die Türkei erst recht verbieten müßte.

Birzele will abschieben

Dennoch hat das Innenministerium in Stuttgart angekündigt, daß es KurdInnen aus Baden Württemberg in die Türkei abschieben lassen will. Jetzt verbarrikadiert es sich nicht mehr hinter dem Argument, daß keine bundesweite Einigung für einen Abschiebestopp zu erreichen sei. Andere SPD- Landesregierungen scheren sich nicht um die Bundeseinheitlichkeit und haben Abschiebungen ausgesetzt. Auch die Behauptung, daß bei einem isolierten Abschiebestopp alle KurdInnen nach Baden-Württemberg kommen würden, kann Innenminister Birzele nicht aufrechterhalten: Das Ausländerrecht erlaubt es AsylbewerberInnen nicht, den Landkreis, in dem sie untergebracht sind, zu verlassen. Die Flucht in ein "abschiebesicheres Bundesland" hätte sofort die "Rücküberstellung" zur Folge.

Die Einzelfallprüfung

Jedesmal wenn Birzele in den vergangenen Jahren mit der Forderung nach einem Abschiebestopp bedrängt wurde, warf er schließlich das Stichwort "Einzelfallprüfung" in die Debatte, um die Geschlossenheit seiner KritikerInnen zu spalten. Dies ist ihm 1993 während der Aktion der "Dachauer Roma" gelungen und vor kurzem in bezug auf die algerischen Familien in Konstanz.

Auch der zuwanderungspolitische Sprecher der SPD Landtagsfraktion, Walter Heiler schreibt dazu: "Der Ruf nach einem Abschiebestopp ist schnell erhoben und populär. Bringt er jedoch die angestrebte Lösung? Gemäß §54 Ausländergesetz kann der Innenminister nur einmal und für die Dauer von sechs Monaten diese Maßnahme anordnen. Und was dann? Unverzügliche, ungeprüfte, undifferenzierte Abschiebung von 3000 Menschen aus Baden- Württemberg? Die SPD in Baden- Württemberg setzt seit Jahren auf das Konzept des differenzierten und gestuften Einzelfallverfahrens, denn nur eine Individualprüfung wird dem Interesse des einzelnen Menschen gerecht. Diese Praxis hat in der Vergangenheit dazu geführt, daß aus unserem Bundesland faktisch nicht abgeschoben wurde."

Das "differenzierte und gestufte Einzelfallverfahren", das Frieder Birzele am 21. März der Presse vorstellte, verspricht bei ausreisepflichtigen kurdischen Flüchtlingen, sofern sie nicht als "Straftäter" oder als "Straftäter mit PKK-Hintergrund" abgeschoben werden sollen, die Möglichkeit einer "erneuten Prüfung und Entscheidung" des Falles.

Unter welchen Bedingungen macht eine solche "erneute Prüfung und Entscheidung" Sinn? Offensichtlich nur, wenn die Behörde der ersten Prüfung der Asylgründe durch das Bundesamt für die Anerkennung von Asylbewerbern mißtraut und dessen Entscheidung korrigieren kann, oder wenn man neue Argumente, die noch nicht berücksichtigt worden waren, hinzuziehen will.

Keine (neue) Chance

Asylgruppen und -anwälte beklagen nun immer wieder, daß die Anhörungen der Asylsuchenden unvorbereitet und zu früh nach ihrer Einreise angesetzt werden, daß die Befragungen schlampig und die Entscheider inkompetent seien. Auch bei einer Überprüfung durch das Verwaltungsgericht werden Gründe, die das Bundesamt nicht berücksichtigt hat, als nachgeschoben und unglaubwürdig abgetan.

Aber auch in der nachträglichen Einzelfallprüfung von Frieder Birzele - übrigens ein glühender Verfechter von Schnellverfahren - kann die einmal getroffene Entscheidung nicht revidiert werden. Denn weder Landes- noch Bundesbehörden können sich über die Urteile hinwegsetzen, die das Verwaltungsgericht über die individuellen Asylanträge gesprochen hat.

Gegenstand eines Einzelfallverfahrens kann deshalb weder das Asylrecht sein, noch der Schutz vor politischer, rassistischer oder religiöser Verfolgung. Denn diese Gesuche hat das Bundesamt bei KurdInnen, die abgeschoben werden sollen, schon abgelehnt und das Verwaltungsgericht hat diese Entscheidung bestätigt. Gegenstand können lediglich sogenannte Abschiebehindernisse sein und wiederum nur dann, wenn die Argumente neu sind, also bisher noch nicht in das Verfahren eingebracht wurden.

Abschiebehindernissse sind z.B. akute Krankheiten oder die Gefahr von Folter oder Todesstrafe. Gefahren, die eine ganze Bevölkerungsgruppe, wie die KurdInnen in der Türkei betreffen, können zwar nach der Rechtsprechung auch als individuelle Abschiebehinternisse gewertet werden. Das Ausländerrecht verweist bei solchen allgemeinen Gefahren jedoch ausdrücklich auf den 54 und schlägt einen allgemeinen Abschiebestopp vor.

Den wenigsten KurdInnen wird es gelingen, "neue" Abschiebehinternisse vorzubringen, die sich aus ihrer Heimat für sie individuell ergeben haben müssen. Die ständige, allgemeine Verschlimmerung der Lage in der Türkei wird bisher nicht als individueller Grund anerkannt. Daher bleibt von dem "differenzierten und gestuften Einzelfallverfahren" nichts als leere Luft übrig, und an seinem Ende steht - wie schon Ende 1994 bei den "Dachauer Roma" - unausweichlich die Abschiebung.

Verträge mit dem Verfolgerstaat

Daher verwundert es wenig, daß Birzele auch viel Aufmerksamkeit der Organisation der Abschiebungen gewidmet hat. Dazu hat er nach dem Vorbild des Abschiebevertrags von Bundesinnenminister Kanther mit den türkischen Behörden Vereinbarungen getroffen. Kanther hatte vereinbart, alle AsylbewerberInnen "mit PKK-Hintergrund" den türkischen Sicherheitskräften mitzuteilen, um zu erfahren, ob nach ihnen (noch) nicht gesucht wird. amnesty international kritisierte das Verfahren über die "Rückführung von PKK- Straftätern" scharf und forderte, daß "die Absichtserklärungen von Verfolgerstaaten in keinem Fall zum Maßstab Asyl- und Ausländerechtlicher Entscheidungen" gemacht werden dürften. (asyl-info 4/95)

Weiter sollen die Abgeschobenen bei den Verhören und Inhaftierungen nach der Abschiebung - von denen der Bundesinnenminister offenbar also selbst ausgeht - Anwälte und Ärzte hinzuziehen können. Diese Vereinbarung ist nur noch zynisch vor dem Hintergrund, daß ein vertraulicher Untersuchungsbericht einer türkischen Parlamentskommission bestätigt, daß Teile der Sicherheitskräfte außer Kontrolle geraten seien. Und selbst der türkische Justizminister gibt zu, daß "Exekutionen ohne Urteil in der Türkei alltäglich geworden seien." (TAZ 11.5.95)

Eine Abfuhr vom Menschenrechtsverein

Ergänzend zu Kanthers Konzept strebte Birzele eine Abmachung mit türkischen Menschenrechtsorganisationen unter Einschaltung von Anwälten an. Der Vorsitzende Ercan Kanar des Istambuler Menschenrechtsvereins wies dies zurück: Wichtige Rahmenbedingungen für eine angemessene Betreuung der Abgeschobenen in der Türkei seien nicht gegeben. Dazu müßten zunächst die türkische Strafprozeßordnung geändert und die Todesstrafe endgültig abgeschafft werden. Auch sei seine Organisation gar nicht in der Lage, Abgeschobenen Schutz zu bieten. Sie sei selber Opfer von Verfolgungen. Schließlich stellte sich lediglich der türkische Anwaltsverein für Birzeles Plan zur Verfügung - und einzelne Anwälte, die auch im Menschenrechtsverein organisiert sind.

Die Basis glaubt Birzele nicht

Während das Einzelfallverfahren laut MdL Walter Heiler "inzwischen auch die Zustimmung der Innenpolitiker der SPD-Bundestagsfraktion sowie vieler SPD-Landesinnenminister" erfährt, reagieren die GenossInnen vor Ort zunehmend frustriert und resigniert über die Verrenkungen und Ausflüchte ihres Innenministers. In einem Brief wendet sich der Konstanzer SPD-Vorstand und die Gemeinderatsfraktion an den Landesvorstand: "Es kann nicht sein, daß sich die SPD in einer solchen Situation hinter einer 'Einzelfallprüfung' verschanzt. In Konstanz sind jetzt bsp. Kurden von einer Abschiebung betroffen, die schon über 6 Jahre hier leben, der Folgeantrag als beachtlich eingestuft wurde und die jetzt ohne weitere Begründung abgeschoben werden sollen. Einzelfallgerechtigkeit? Wir glauben nicht."

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