linksrhein Quelle: Neue Rundschau vom 19.5.2000
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Nahrungsverweigerung im Asyllager: Flüchtlingskinder hungern für Menschenrechte

Beobachtungen von Neue-Rundschau-Redakteur Christof Baudrexel

Als schlichtweg inkompetent für ein die Öffentlichkeit wohl zunehmend beschäftigendes humanitäres Problem von Flüchtlingen erwiesen sich das Sozialdezernat und die Asylbehörde des Landkreises, was beide auch rundweg einräumen: Die zwanzig Frauen, Männer und Kinder, die sich in der Singener Sammelunterkunft in der Bohlingerstraße seit sieben Tagen in einem unbefristeten Hungerstreik befinden (wir berichteten), leiden schlicht an der mit den Jahren ihres Aufenthalts immer unerträglicher werdenden Kluft zwischen ihrer gefängnisartigen Verwahrung und der von Wohlstand und freier Lebensgestaltung geprägten wohlfeilen, auf sie herabsehenden bürgerlichen Umwelt. Sie empfinden schlicht ein Dauerklima der Ächtung durch die sie aufnehmende Wohlstandsgesellschaft. Das ist der Kern ihres Protestes.

Weder der Singener Bürgermeister Rüdiger Neef, der die in Scharen mit Plakaten und Kind und Kegel durch die Stadt ziehenden Flüchtlinge, darunter viele Familien, am Rathaus empfing. noch Sozialdezernentin Ursula Auchter und Ludwig Egenhofer von der Aufnahmebehörde konnten die Menschen, die seit letztem Freitag ohne feste Nahrung sind, bewegen, den Streik zu beenden. Die Kreisverwaltung drehte am Dienstag, begleitet von mehreren Polizeikräften, eine Art behördlicher Kontaktschleife im Flüchtlingslager. Ihr humanitäres Interesse galt Aspekten der Unterbringung, ob genügend Besen da sind, die Besendienste der Flüchtlinge funktionieren. welche Zeit Dienstpersonal für die Hausaufgabenbetreuung aufwendet wird, ob die Esskorbausgabe in Ordnung ist, aber nicht ihrem wirklichen Anliegen: der Wahrung ihrer individuellen Grundund Persönlichkeitsrechte, kurz, ihrer Menschenrechte.

Da sie die Nahrungszuteilung in Form von Esspaketen (wie schon einmal) verweigern, sind zwangsläufig Kinder vom Hungern ihrer Eltern mitbetroffen.

Auf unsere Sorge. dass den Kindern doch kein gesundheitlicher Schaden zugefügt werden dürfe, äußerten die befragten Eltern: "Wir werden unsere Kinder so gut wie möglich versorgen. Vielleicht gibt der eine oder andere Freund etwas. Aber da wir keine Lebensmittel annehmen, gibt es keinen anderen Weg, als dass unsere Kinder auch hungern müssen."

Der Protest der Menschen im Asylghetto, in dem eine denkbar triste Atmosphäre herrscht, richtet sich gegen eine offenkundige Menschenrechtsverletzung: Sie, die in vielen Fällen sozialen und beruflichen Bildungsstand mitbringen, werden dem Teufelskreis ausgesetzt, durch generelles Arbeitsverbot als ausländische Sozialparasiten gebrandmarkt zu werden: "Wir sind doch Menschen und wollen leben wie Menschen", protestieren sie. "Wir fö(o)rdern ein M(m)enschenwürdigeres Leben für Uns und Unsere Kinder. Ohne Diskrimin(i)e(r)k(u)on(g)!!!", schreit es aus tapfer integrierter. komplizierter Sprachwelt vom großen Lakentransparent an der Lagermauer.

In diesem moralischen menschenrechtlichen Zwiespalt zwischen ihrer sozial-abgesonderten Zwangsdeklassierung und dem Leben außerhalb des Ghettos empfinden sie eine vielfach einfallslose verordnete Nahrungsportionierung (Hähnchen und nochmal Hähnchen, Geizen mit Schokolade für Kinder), darunter oft beschädigte oder veraltete Lebensmittel - als "erniedrigende Naturalfütterung für "Sträflinge: "Gebt uns doch Gutscheine, dass wir entscheiden können, was wir heute essen wollen." Und: "Noch besser, lasst uns arbeiten. dann können wir für unseren Unterhalt selbst sorgen."

Freilich, in restriktiver Ordnungswelt zwischen auffälliger Polizeipräsenz und Ordnungsmacht. die Menschenrecht für alle möglichem Missbrauch einzelner erschreckend bereitwillig opfert (Egenhofer: "Roma-Vater rafft alles an sich und lässt seine fünf Kinder hungern") hat solch "dreistes Aufbegehren" keinen Platz. Egenhofer warnte mit kaum zu überbietender Sensibilität gegenüber der inneren Verfassung dieser Menschen: "Morgen gibt's Geld. Wer Essenpakete verweigert, kriegt auch kein Geld" nach dem Motto: Vogel friss oder stirb! Und die sozial-betreuerische Atmosphäre spiegelt die Antwort auf den Vorwurf wider, dass die einzige Amtsbetreuerin für 170 Flüchtlinge mit 30 Kindern um 16 Uhr die Dienstschotten dicht macht: "Und wenn danach die Alarmanlage runtergeht, kommt die Polizei."

Nur Politiker können in Singen helfen

Was sich schliesslich Ursula Auchter gedacht haben mag, als sie die Presseleute von den Gesprächen ausschloss, die sie mit Bevollmächtigten der Hungernden über ihre Sorgen und Nöte hinter den Kulissen führte, hat wohl viel mit Angst (vor Öffentlichkeit), aber kaum etwas mit sozialer Kompetenz für diese neue Herausforderung einer Kultur des Umgangs mit Flüchtlingen in einer reizüberfluteten Überflußgesellschaft zu tun. Behörden, so zeigt sich in Singen, sind da restlos überfordert.

Wenn ihnen kein psychologisch erfahrener, couragierter Politiker zu Hilfe kommt und ihren Hungerstreik ernst nimmt. was Außenstehende kaum tun, ist ihr Protest Propaganda der Ohnmacht wohl auch dann, wenn Kinder erkranken und sich der eine oder andere zu Tode hungern will: "Wir Zwanzig haben beschlossen, bis zur letzten Konsequenz zu gehen."

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