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sw, Konstanz 17. Mai 2000

Hungerstreik in der Abschiebehaft Berlin-Koepenick

HUNGERSTREIK WIRD GEFÄNGNISALLTAG

ISOLIERSTATION FÜR PROTESTIERENDE IM KÖPENICKER KNAST ÜBERFÜLLT

Hungerstreiks, die es in den vergangenen Jahren vereinzelt und relativ selten in den Berliner Abschiebegefängnissen gab, sind jetzt eine ständige Begleiterscheinung des Gefängnisalltags. Während der wochenlangen Essensverweigerung mehrerer Ukrainerinnen in der Abschiebehaftanstalt Kruppstraße (Berlin-Moabit) war die Isolierstation in der Abschiebehaftanstalt Grünauer Straße (Berlin-Köpenick) für Hungerstreikende, die im zweiten Stock des Hauses 2 in diesem Männergefängnis eingerichtet ist, ständig überfüllt. Gegenwärtig sind dort 14 Häftlinge aus Russland, zwei Palästinenser, ein Algerier und ein Afrikaner untergebracht.

Sie erklären, dass sie entschlossen sind, den Hungerstreik, wenn es sein muss, bis zum Tod weiterzuführen. Sie fordern ihre sofortige Freilassung und sehen ihre manchmal monatelange Inhaftierung nur wegen fehlender Aufenthaltsgenehmigung als schreiendes Unrecht an. Ein Afrikaner und ein Russe sind seit mehr als 11 Monaten hinter Gittern. Mehrere auf der Isolierstation nehmen seit zwei oder drei Wochen, ein Palästinenser aus dem Libanon seit dem 11. März keine feste Nahrung zu sich. Fast alle Protestierenden haben zwischen zehn und zwanzig Kilo abgenommen. Der Polizeiärztliche Dienst beschränkt sich darauf, täglich ihr Gewicht festzustellen.

Ein hungerstreikender Russe versuchte am Freitag einen Suizid, indem er sich die Pulsadern aufschnitt.

In einem sehr kritischen Zustand befindet sich ein Algerier, seit 25 Tagen im Hungerstreik. Vor seiner Flucht aus seinem Land war er durch einen Granatsplitter am Bein verletzt worden. Der Splitter befand sich immer noch in seinem Bein, das angeschwollen war und blau anlief. Vom Polizeiärztlichen Dienst wurde ihm erklärt, die Gewahrsamsbehörde (= der Polizeipräsident des Landes Berlin) verfüge nicht über die finanziellen Mittel, um ihn durch einen Eingriff von dem Splitter zu befreien.

Der anwaltlich nicht vertretene Algerier versuchte darauf am Freitag in seiner Verzweiflung, den Splitter selbst herauszuoperieren. Schwer verletzt musste er in ein Krankenhaus eingeliefert werden.

Es gibt noch weitere Verzweiflungsakte im Abschiebegefängnis in der Grünauer Straße. Mitte April steckte ein Häftling im Haus 2 die Decke in seiner Zelle in Brand. Er wollte damit auf die Willkür seiner Inhaftierung aufmerksam machen. Das Feuer konnte von den anderen Zelleninsassen und den herbeigerufenen Beamten gelöscht werden. Allen Bewohnern dieser Zelle wurde drei Tage lang der tägliche Hofgang verweigert.

Berlin, 9. Mai 2000

Nachfragen bitte an:


FLÜCHTLINGSRAT BERLIN
Fennstr. 31, D-12439 Berlin
Tel. 030-6317873, FAX 030-6361198
E-mail: fluechtlingsrat@snafu.de


Anmerkungen von Georg Classen

In Berlin ist die Zahl der regelmäßig belegten Haftplätze für wegen fehlender bzw. abgelaufener Aufenthaltsgenehmigung bzw. Pässe festgehaltene Nichtdeutsche von ca. 50 (Mitte der 80erJahre) über ca. 150 (Anfang der 90erJahre) auf 700 (Frühjahr 2000) gestiegen.

Die Mehrzahl der inhaftierten Ausländer ist nicht anwaltlich vertreten. Die Betroffenen sind der Willkür von Polizei und Ausländerbehörde bei der Festsetzung ihrer Haft zumeist hilflos ausgeliefert, ebenso ggf. unmenschlicher Behandlung in der Haft und unterlassener Hilfeleistung durch den polizeiärtzlichen Dienst. In der Haftanstalt wird für die über 400 inhaftierten zwar einmal wöchentlich einen halben Tag eine Beratungssprechstunde vom Republikanischen Anwaltsverein angeboten. Die anwaltliche Vertretung in den erforderlichen, juristisch zumeist hochkomplizierten Verfahren bei Behörden und Gerichten kann diese Beratung naturgemäß in keiner Weise ersetzen. Die für die Haftprüfung zuständigen Amtsgerichte haben ohnehin nur sehr eingeschränkte Kompetenzen, sie sind weitgehend an die Feststellungen der Ausländerbehörden gebunden. Ggf. muss der Betroffene daher weitere Verfahren beim Verwaltungsgericht einleiten und entsprechende schriftliche Anträge bei Ausländer- und Asylbehörden stellen. Noch weitere schriftliche Anträge bei Behörden sowie Gerichtsverfahren wären etwa im Falle verweigerter medizinischer Versorgung erforderlich. Da trotz Mittellosigkeit Prozesskostenhilfe von den Gerichten in der Praxis regelmäßig verweigert wird, ist eine anwaltliche Vertretung nur möglich, wenn die Betroffenen Geld für Vorschusszahlungen an einen Anwalt zur Verfügung haben.

Es wird Zeit, dass sich die Bundesregierung entsprechend der Koalitionsvereinbarung endlich mit dem Skandal Abschiebehaft befasst, anstatt die Inhaftierung immer größerer Gruppen von Ausländern zum zentralen Bestandteil ihrer Ausländerpolitik zu machen.