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sw, Konstanz 20. Januar 2000

Frauenspezifische Verfolgung in der deutschen Asylpraxis

(aus dem "Handbuch der Asylarbeit", 4. Lief. 3. Aufl., Stand Juli 1998, Hrsg. von Loeper Literaturverlag, Karlsruhe)

Die Esslinger Rechtsanwältin Ursula Mees-Asadollah analysiert im folgenden Beitrag die bundesdeutsche Rechtsprechung zu frauenspezifischer Verfolgung. Sie geht dabei der Frage nach, inwieweit frauenspezifische Verfolgung als''politische Verfolgung" im Sinne des Grundgesetzes betrachtet werden kann. Als typische Fälle frauenspezifischer Verfolgung untersucht sie die Anwendung sexueller Gewalt gegen Frauen, die Erzwingung von diskriminierenden Verhaltensnormen sowie die Auferlegung von Sippenhaft.
  1. Menschenrechtsverletzungen an Frauen
    1. Gezielte und systematische Anwendung sexueller Gewalt gegen Frauen
    2. Menschenrechtsverletzungen durch Erzwingen diskriminierender Verhaltensnormen
    3. Anwendung von Sippenhaft gegen Frauen
  2. Wird die deutsche Asylrechtspraxis diesen frauenspezifischen Verfolgungsmustern gerecht? Kann sie ihr gerecht werden?
    1. Der klassische Asylrechtsbegriff die klassische Sicht des Verfolgten
    2. Kann sexuelle Gewalt gegenüber Frauen als politische Verfolgung bewertet werden?
      1. Ist sexuelle Gewalt "Verfolgung" mit "ausreichender Eingriffsintensität"?
      2. Ist sexuelle Gewalt eine Privatangelegenheit oder Ausdruck staatlicher Verfolgung?
      3. Kann sexuelle Gewalt als asylrelevante politische Verfolgung bewertet werden?
      4. Zwischenergebnis
    3. Aufgezwungene geschlechtsdiskriminierende Verhaltensnormen
      1. Welche Eingriffe haben Verfolgungscharakter mit "ausreichender Eingriffsintensität"?
      2. Kann der Staat für das Aufzwingen diskriminierender Verhaltensnormen verantwortlich gemacht werden?
      3. Kann bei der Erzwingung diskriminierender Verhaltensnormen von politischer Verfolgung gesprochen werden?
      4. Zwischenergebnis
    4. Sippenhaft als Asylgrund
      1. Praktische Relevanz der sogenannten "Sippenhaft-Fälle"
      2. Höchstrichterliche Rechtsprechung zur Sippenhaft und ihre Umsetzung
      3. Aushöhlung des Rechts auf Asyl wegen Sippenhaft
      4. Zwischenergebnis
  3. Zusammenfassung

I. Menschenrechtsverletzungen an Frauen

Frauen werden nicht nur Opfer von politischer Verfolgung. Menschenrechtsverletzungen an Frauen nehmen Formen und Ausmaße an, die sich von dem unterscheiden, was Männern an Leid zugefügt wird. Zwei Faktoren bedingen diese Unterschiede: zum einen unterliegen Frauen einer besonderen körperlichen und seelischen Verletzbarkeit etwa durch sexuelle Übergriffe, Möglichkeit einer erzwungenen Schwangerschaft bzw. Gefahr der Einwirkung auf eine bereits bestehende Schwangerschaft. Zum anderen ist die rechtliche, soziale und wirtschaftliche Situation von Frauen weltweit geprägt durch Diskriminierung und Unterdrückung in vielen Bereichen bis hin zur völligen Rechtlosigkeit, von der Verweisung auf den häuslichen Bereich bis hin zur Geschlechterapartheid, von der Abhängikeit von männlichen Familienangehörigen bis hin zur Unterwerfung unter deren "absolute Gewalt".

Frauenspezifische Verfolgung äußert sich in drei typischen Konstellationen:

  • Frauen werden systematisch zu Opfern sexueller Gewalt.
  • Frauen werden in vielen Gesellschaften durch Verhaltensnormen in einen untergeordneten Status hinein gezwungen.
  • Frauen werden mit Sippenhaft verfolgt, weil die Verfolger die eigentlich Verfolgten nicht fassen können.

l. Gezielte und systematische Anwendung sexueller Gewalt gegen Frauen

Ein Mann muß mit Mißhandlungen bis hin zur Folter rechnen, wenn er in einem Staat festgenommen wird, der mit Terrormethoden gegen Oppositionelle vorgeht. Eine Frau muß die gleichen Befürchtungen hegen. Hinzu kommt die Gefahr, daß sie fast grundsätzlich bis hin zur Vergewaltigung sexuell genötigt und mißhandelt wird, daß sie durch Schläge ihr Kind verliert, daß sie durch Vergewaltigung schwanger wird.

Sexuelle Gewalt wird in allen Situationen, in denen politische Unterdrückung stattfindet, systematisch und gezielt als Foltermethode gegen Frauen eingesetzt, nicht nur, um die betroffene Frau in ihrer Würde und seelischen Integrität zu treffen. Es geht auch darum, die in vielen Kulturen sehr stark über das Sexualverhalten der Frau definierte Ehre der Verwandten bzw. Ehemänner anzugreifen oder gar ein ganzes Volk in seinem ethnischen Selbstbewußtsein zu treffen und seinen Widerstandswillen zu brechen. Fast scheint es so, als sei diese systematische Anwendung sexueller Gewalt gegen Frauen erst im Zuge der Besetzung Kuweits und im Zusammenhang mit dem Krieg in Bosnien ins hiesige öffentliche Bewußtsein gelangt.

Die sexuell mißhandelte Frau muß häufig damit rechnen, daß sie deshalb von dem eigenen Volksstamm oder der eigenen Familie verstoßen und/ oder umgebracht wird. Sie muß unter Umständen fürchten, daß sich sogar der eigene Mann von ihr abwendet, da er die "Familienehre" als "befleckt" betrachtet. Sie ist daher doppelt verfolgt, zum einen in grausamer Form durch den staatlichen Verfolger, zum anderen durch das patriarchalischen Denkmustern folgende grausame Reaktionsverhalten der eigenen Familie. Dies ist vom Verfolger gewollt. Amnesty international beschreibt dies so:

" Vergewaltigung ist eine Form der Folter, der weibliche Häftlinge in allen Teilen der Welt ausgesetzt sind. Oftmals werden Frauen während der Verhöre vergewaltigt oder mit sexueller Gewalt bedroht, um ihnen Informationen oder Geständnisse abzupressen. In anderen Fällen steckt die Absicht dahinter, Frauen zu demütigen und einzuschüchtern, um ihren Widerstand zu brechen. Nicht zuletzt wird sexueller Mißbrauch von Frauen als Strafsanktion angewandt." und "Die soziale Stigmatisierung der Opfer von Vergewaltigungen und sexuellem Mißbrauch wirkt sich in vielen Staaten dahingehend aus, daß die Täter unbehelligt bleiben. Von den Sicherheitskräften begangene Vergewaltigungen stellen eine zutiefst unterdrückerische Form der Folter dar, weil viele Frauen es aus Angst oder Scham nicht wagen, über das Erlebte zu sprechen. " (in "Frauen in Aktion, Frauen in Gefahr", 1995, Seite 136 und Seite 137.)

2. Menschenrechtsverletzungen durch Erzwingen diskriminierender Verhaltensnormen

Frauen, die gegen ihre Unterdrückung aufbegehren, die sich mit dem ihnen zugedachten Status nicht abfinden, sich politisch wehren, werden Opfer von Menschenrechtsverletzungen, z.T. brutalster Form. Eine Frau im Iran z.B., die ausgepeitscht wird, wenn sie den ihr durch staatliche Normen auferlegten Schleierzwang nicht befolgt, wird ganz eindeutig in ihrem Menschenrecht verletzt. Nach Art. 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sind Folter, grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen bzw. Strafen verboten. Menschenrechtsverletzungen liegen auch vor beim grausamen Ritus der genitalen Verstümmelung von Mädchen, bei der "Tradition" gezielter Unterernährung von Mädchen und bei Mißhandlungen aufgrund eines angemaßten "Züchtigungsrechts" der Männer, soweit der jeweilige Staat seine Bürgerinnen vor solchen Praktiken nicht ausreichend schützt.

Wenn einer Frau, nur weil sie Frau ist, verboten wird, berufstätig zu sein, wie z.B. derzeit in dem von den Taliban dominierten Afghanistan, bedeutet dies eine Verletzung ihres Menschenrechts auf Arbeit, wie es im Art. 23 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung verbürgt ist. Dieses Menschenrecht ist auch dann verletzt, wenn ein Mann seiner Frau mit staatlicher Billigung die berufliche Tätigkeit verbieten darf. Die genannten Diskriminierungen von Frauen verstoßen ebenso gegen Art. 7 der Allgemeinen Menschenrechtserklärung, der ausdrücklich die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz postuliert sowie gegen zahlreiche völkerrechtlich verbindliche Menschenrechtsabkommen, die für die meisten Staaten Gültigkeit besitzen. Zuletzt wurde die universelle Geltung der Menschenrechte von Frauen und Mädchen als "unveräußerlicher, integraler und unabtrennbarer Bestandteil der allgemeinen Menschenrechte" nochmals auf der Weltmenschenrechtskonferenz 1993 in Wien sowie auf der Welt-Frauen-Konferenz in Peking 1995 beschlossen.

3. Anwendung von Sippenhaft gegen Frauen

In vielen Fällen müssen Frauen Verfolgung erleiden, weil die Verfolger auf den eigentlich Verfolgten nicht zugreifen können. Es ist ein geradezu typisches Szenario, daß der politisch aktive oder verdächtigte Mann fliehen kann, während die Frau, unter Umständen mit den Kindern, zurückbleibt und zum Opfer brutalster Übergriffe des Verfolgerstaates wird, um so den Mann unter Druck zu setzen, Informationen über ihn zu erlangen, z.B. über seinen Aufenhalt. Z.T. wird die Frau eines politisch Verfolgten auch einfach ihrerseits verdächtigt, "auf der gleichen Seite" wie ihr Mann zu stehen. Prinzipiell können auch Männer zu Opfern von sippenhaftender Verfolgung werden, in den allermeisten Fällen sind es jedoch Frauen. Gerade in diesen Fällen werden Frauen häufig auch zu Opfern sexueller Gewalt. Amnesty international schreibt dazu:

"Oftmals werden Frauen verhaftet, gefoltert, als Geiseln genommen und sogar getötet, nurweil ihre Familienangehörigen oder andere ihnen nahestehende Menschen von den Behörden der politischen Opposition verdächtigt oder per Haftbefehl gesucht werden. " ("Frauen in Aktion, Frauen in Gefahr", 1995, Seite 179):

II. Wird die deutsche Asylrechtspraxis diesen frauenspezifischen Verfolgungsmustern gerecht? Kann sie ihr gerecht werden?

1. Der klassische Asylrechtsbegriff die klassische Sicht des Verfolgten

Wenn die Schöpfer/innen des Asylrechts zunächst weder auf internationaler Ebene (in der Genfer Flüchtlingskonvention), noch auf nationaler Ebene (im Asylgrundrecht des Grundgesetzes) Frauen im Blickfeld hatten, kann dies eigentlich nicht daran gelegen haben, daß es damals noch keine frauenspezifische Verfolgung gegeben hätte. Es bestand damals einfach kein Bewußtsein für Menschenrechtsverletzungen an Frauen.

Immerhin ist in den letzten Jahren auch in Deutschland ein Bewußtseinsprozeß hinsichtlich frauenspezifischer Asylgründe und der Behandlung von Frauen im Asylverfahren in Gang gekommen. Auslöser hierfür waren sicher u.a. der Beschluß des Exekutivkomittees des UNHCR von 1985 (Nr. 39, XXXVI), die weltweite Kampagne von amnesty international gegen Menschenrechtsverletzungen an Frauen im Jahre 1991 sowie der Entschließungsantrag der weiblichen Parlamentarierinnen des Bundestages vom 09.03.1989. Hier wurde u.a. gefordert: "eine ausdrückliche Klarstellung ins Asylverfahrensgeseti aufzunehmen, owonach auch wegen des Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung verfolgte Frauen Asyl genießen " (Drucksache 11/4160).

Die traditionelle Asylrechtsdiskussion, wie auch die klassische Menschenrechtsdiskussion, hatte zunächst immer nur den Bereich der sogenannten "Öffentlichkeit" im Auge. Die Väter des Asylrechts, und wohl auch dessen Mütter, hatten folgendes Bild eines politisch Verfolgten vor Augen: "ein typisches männliches Heldenbild" von einem "sich in der Öffentlichkeit politisch profilierenden Mann mit entsprechend theoretisch-politischem Wissen" (so z.B. Christina Hausamman, in Abhandlungen/Developpements, ASYL 1990/ 2, Seite 3). Sie grenzten damit sehr willkürlich einen ganz wesentlichen Bereich von Menschenrechtsverletzungen an Frauen aus, die häufig im "Bereich des Privaten" angesiedelt sind. Da wo langsam die "souveräne" Macht des Herrschers durch Menschenrechts- und Demokratieforderungen seiner Bürger/innen eingeschränkt wurde, durfte die (in vielen Ländern nicht weniger absolute) Macht des häuslichen Patriarchen über Frauen und Kinder weiterhin uneingeschränkt funktionieren!

Für die heutige Auslegung des Asylgrundrechts kann dieses, historisch bedingt, eingeengte Bild von einem Verfolgten nicht mehr maßgeblich sein. Es muß vielmehr auf den an der Menschenwürde und den Menschenrechten orientierten Grundgedanken, Menschen in existentieller Bedrohung Schutz und zwar sicheren Schutz zu gewähren, zurückgegriffen werden. Dieser Gedanke ist in der Asylrechtsprechung immer wieder durchgeschimmert. Einige aktuelle Entscheidungen geben sogar Anlaß zur Hoffnung. In vielen Asylrechtsentscheidungen wurde er allerdings durch z.T. nicht nachvollziehbare Einschränkungen und/ oder durch offensichtlich politisch-taktische Erwägungen verschüttet.

Die Verwaltungsgerichte und das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge haben Fälle frauenspezifischer Verfolgung sehr unterschiedlich entschieden. Im folgenden möchte ich dies an einigen Beispielen verdeutlichen. Eine Würdigung der gesamten Rechtsprechung in diesem Bereich würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Ich beschränke mich zudem auf das materielle Recht.

2. Kann sexuelle Gewalt gegenüber Frauen als politische Verfolgung bewertet werden?

Nach dem Asylgrundrecht des Grundgesetzes (Art 16 Abs. 2 Satz 2 GGa.F. = Art. 16a Abs. l n.F.) genießen "politisch Verfolgte" Asylrecht. Ich möchte daher im folgenden prüfen, inwieweit sexuelle Gewalt Verfolgung mit der erforderlichen "Eingriffsintensität" (a) bedeutet, die dem Staat zurechenbar (b) und damit als menschenrechtsverletzend zu bezeichnen ist und inwieweit eine derartige Verfolgung als "politisch " und damit als "asylrelevant" (c) zu qualifizieren ist. Ich kann in diesem Rahmen natürlich nicht auf sämtliche durch Gesetzgebung, Rechtsprechung und Rechtslehre erfolgten Auslegungen, Konkretisierungen bzw. Einschränkungen dieses Rechts eingehen.

a) Ist sexuelle Gewalt "Verfolgung" mit "ausreichender Eingriffsintensität"?

Am "Verfolgungscharakter" oder gar der "Eingriffsintensität" im Falle von Vergewaltigungen und auch sonstiger sexueller Gewalt kann m. E. aufgrund der herrschenden Rechtsprechung zum Asylrecht kein ernsthafter Zweifel bestehen. Trotzdem ist zu dieser Frage erstaunlicherweise schon ganz anderes vertreten worden.

Eine kurdische Volkszugehörige war in der Türkei in Militärhaft brutal sexuell mißbraucht worden, indem sie ausgezogen und überall am Körper angefaßt wurde. Nach ihrer Freilassung beging sie einen Selbstmordversuch. Ihr Mann darf von dieser Angelegenheit allerdings nichts erfahren. Vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge wurde die Frau mit Bescheid vom 17.01.1996 anerkannt (Gesch.Z: C 2055 476-163). Der Bundesbeauftragte erhob Klage gegen den Anerkennungsbescheid, die u.a. damit begründet wurde, daß eine "asylerhebliche Intensität" nicht erreichtd) worden sei, außerdem habe es sich um einen "Einzelfall" gehandelt.

Das Bundesverfassungsgericht geht in seiner Grundsatzentscheidung vom 02.07.1980 richtigerweise von der Tatsache aus, daß Eingriffe in die körperliche Integrität immer und per se die Menschenwürde verletzen und daß diese auch in einem Land mit einer menschenrechtsverachtenden Vorgehensweise nie hinzunehmen sind! Es hat dazu ausgeführt:

"Asylrechtlichen Schutz genießt vielmehr jeder, der aus politischen Gründen Verfolgungsmaßnahmen mit Gefahr für Leib und Leben oder Beschränkungen seiner persönlichen Freiheit ausgesetzt wäre ... Soweit nicht eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben oder persönliche Freiheit besteht, können Beeinträchtigungen der bezeichneten Rechtsgüter (freie Religionsausübung, ungehinderte berufliche und wirtschaftliche Betätigung) allerdings ein Asylrecht nur dann begründen, wenn sie nach ihrer Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was die Bewohner des Heimatstaats aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen haben" (meine Hervorhebungen, BVerfG 54,341,357).

Diese Rechtsprechung ist später in Bezug auf die "weiteren Rechtsgüter" konkretisiert worden. Nicht in Frage gestellt werden kann die Feststellung, daß Gefahren bzw. Übergriffe auf Leib und Leben Verfolgungscharakter besitzen und zwar ohne Anlegung einer zusätzlichen Meßlatte in Bezug auf das generell in einem Land Hinzunehmende. In späteren Entscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht zwar betont, daß die zugefügte Rechtsverletzung von einer Intensität sein müsse, die sich nicht nur als Beeinträchtigung, sondern als ausgrenzende Verfolgung darstelle, hat aber hierbei ausdrücklich auf die o.g. Entscheidung vom 02.07.1980 Bezug genommen (BVerfG v. 10.07.1989, E 80,315,335; 28.01.1993, E 142, 145).

Insofern kann überhaupt nicht in Frage gestellt werden, daß eine Vergewaltigung oder sonstige sexuelle Nötigungen Übergriffe mit Verfolgungscharakter darstellen. Es reicht übrigens auch aus, daß hiermit "nur" gedroht wird: In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, z.B. im Urteil vom 11.05.1992, ist anerkannt: "daß schon die unter Hinweis auf eine politische Betätigung ausgesprochene ernsthafte Drohung mit einem Übel, das bei seiner Verwirklichung asylerheblichen Charakter hat, die von staatlichen Stellen ausgeht, eine drohende Gefahr politischer Verfolgung darstellt" (InfAusIR 1992,294).

Im Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 02.12.1991 heißt es dementsprechend in Bezug auf die Vergewaltigung einer Jezidin durch türkische Soldaten: "Im Hinblick auf die Schwere und Intensität stellt dieser Übergriff der Soldaten einen asylrechtlich erheblichen Eingriff dar. Es handelt sich um einen besonders verabscheuungswürdigen Verstoß gegen die Menschenwürde" (STREIT 1992, 161, meine Hervorhebung).

In Bezug auf die Vergewaltigungen an Bosnierinnen durch serbische Soldaten wird in einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ebenfalls davon ausgegangen, daß diese Übergriffe Verfolgungscharakter besitzen (vgl. Urteil vom 06.08.1996, AZ: BVerwG 9 C 172, 95, Seite 5f). Das Asylrecht wird nur deshalb nicht gewährt, da eine sichere Rückkehr in das heutige Bosnien möglich sei. Dazu muß man allerdings wissen, daß die Asylanträge dieser durch sexuelle Gewalt schwer traumatisierten Bosnierinnen jahrelang nicht entschieden wurden. Entsprechend vertritt z.B. der UNHCR die Auffassung, daß auch heute noch eine vergewaltigte Bosnierin als Flüchtling i.S.v. Artikel IA Abs. 2 Genfer Flüchtlingskonvention anzusehen ist. Eine Änderung der Verhältnisse sollte nicht zum Nachteil der Betroffenen ausgelegt werden (vgl. Schreiben vom 18.04.1997 an das VG Stuttgart, AZ: A 16 K 18392/94).

b) Ist sexuelle Gewalt eine Privatangelegenheit oder Ausdruck staatlicher Verfolgung?

Bei sexueller Gewalt gegenüber Frauen stellt sich immer wieder die Frage, ob von einer staatlich zurechenbaren Verfolgung ausgegangen werden kann. Es herrschte lange ziemlich unreflektiert die Auffassung, daß es sich hierbei um Übergriffe "im Privatbereich" handle, für die der Staat nicht verantwortlich sei, sogar wenn die Gewalt durch staatliche Organe, also Polizei oder Soldaten, verübt wurde.

Noch schwerer tut sich die Rechtsprechung mit den Fällen, in denen die Täter zwar tatsächlich Privatpersonen sind, die sexuelle Gewalt aber ein strukturelles gesellschaftliches Phänomen darstellt und der erforderliche staatliche Schutz nicht gewährt wird. Ich verweise hier exemplarisch auf die Rechtsprechung zu der Verfolgungsgefahr für alleinstehende syrisch-orthodoxe Christinnen in der Türkei. Nach den Feststellungen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes laufen sie Gefahr von muslimischen Männern entführt, vergewaltigt und zwangsbekehrt zu werden.

Das Bundesverwaltungsgericht hob in einer Grundsatzentscheidung das positive Urteil des Hessischen VGH auf, indem es Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit des türkischen Staates verneinte (Urteil vom 06.03.1990 BverwG 9 C 14.89). Obwohl der VGH seine Annahme eines gegen solche Übergriffe nicht ausreichenden staatlichen Sicherheitssystems auf zahlreiche Berichte über Entführungen junger Mädchen und Frauen, gegen die der Staat nicht zu schützen vermocht hatte, stützte, sieht das Bundesverwaltungsgericht den türkischen Staat nicht als verantwortlich. Er nehme die genannten Übergriffe nicht tatenlos hin. Es komme darauf an, ob der Staat mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln (?) im großen und ganzen Schutz gewähre. Kein Staat könne allgemeine Kriminalität (?) wie die naturgemäß (?) kaum zu verhindernde (?) und - in der Privatsphäre der Beteiligten (?) - nicht leicht aufklärbare Entführung junger, in wirtschaftlicher Not und ohne Obdach lebender Mädchen durchgängig von diesen abwenden. Daß die Polizei tatenlos zusehe, wenn sie Zeuge einer Entführung werde (?), oder keine Ermittlungen anstelle, wenn ihr ein solcher Vorfall gemeldet werde, habe das Berufungsgericht (VGH) nicht festzustellen vermocht.

Obwohl es sich hier um ein gesellschaftliches und auch religionspolitisches Phänomen handelt, spricht das Gericht von "allgemeiner Kriminalität" und von "Privatsphäre". Daß diese Form sexueller Gewalt "naturgemäß kaum zu verhindern" sei, etwa durch gezielte Schutzprogramme etc., leuchtet nicht ein. Inwieweit die Opfer überhaupt, physisch und psychisch, die Möglichkeit haben, sich an die staatlichen Behörden zu wenden, wird überhaupt nicht erörtert! Ebensowenig, inwieweit der türkische Staat überhaupt bemüht ist, dieses strukturelle gesellschaftspolitische Problem in den Griff zu bekommen. Es versteht sich von selbst, daß die allgemeine Verbrechensbekämpfung gerade aufgrund der Besonderheit derartiger Fälle gar nicht greifen kann!

Diese unbefriedigende, den Realitäten wenig gerecht werdende, Rechtsprechung ist z.T. sogar auch in solchen Fällen übernommen worden, in denen die Täter selbst Träger staatlicher Gewalt waren: Eine Kurdin aus der Türkei hatte vorgetragen, von den Militärangehörigen mit Vergewaltigung bedroht worden zu sein, weil man ihr unterstellte, die FKK unterstützt zu haben. Das Bundesamt führt in seinem Ablehnungsbescheid vom 11.10.1996 aus, daß zwar nicht verkannt werde, daß derartige Maßnahmen einen schweren Verstoß gegen die Menschenwürde darstellten; es handele sich dabei jedoch um Willkürmaßnahmen Einzelner (!), gegen die auch Bürger anderer Länder nicht gänzlich gefeit seien. Lückenloser staatlicher Schutz könne nicht gefordert werden (Geschäftszeichen: 2149129-163).

Aus derartigen Begründungen, von denen sich zahlreiche Beispiele finden lassen, spricht verblüffende Unkenntnis in Bezug auf frauenspezifische Verfolgungsschicksale. Es wird überhaupt nicht berücksichtigt, daß sexuelle Gewalt ein geradezu typisches und systematisches Folter- und Unterdrückungsinstrument in Polizei- und Militärhaft gegenüber Frauen darstellt. Von "Exzessen im Einzelfall" kann hier keine Rede sein. Sexuelle Gewalt türkischer staatlicher Stellen als "Willkürmaßnahmen Einzelner" zu bezeichnen, legt eine Denkweise bloß, die in Verkennung der Realitäten derartige Maßnahmen unbedingt in einen fiktiven "Privatbereich" verweisen möchte.

Ganz anders argumentiert ein Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 19.02.1992. Das Gericht hatte über den Fall einer Rumänin zu entscheiden, die vom Bürgermeister ihres Ortes sowie zwei weiteren Securisten zwei Wochen lang in einer konspirativen Wohnung der Securitate vergewaltigt, brutal mißhandelt und sexuell mißbraucht worden war. Der Frau war es unmöglich, Anzeige zu erstatten. Das Verwaltungsgericht stellt zunächst fest, daß die Übergriffe eine schwerwiegende Verletzung der Menschenwürde darstellten und bejaht dann auch die staatliche Zurechenbarkeit: "Da diese Funktionsträger den rumänischen Staat repräsentierten, handelte somit der Staat selbst. Entgegen der Auffassung des Bundesamtes kann hier nicht wischen dem Bürgermeister als Funktionsträger und als Privatperson unterschieden werden, zumal eine solche Unterscheidung kaum möglich ist" (STREIT 1993, 104 ff, meine Hervorhebungen).

Nach einem Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 30.10.1997, in dem über die asylrechtliche Bewertung der sexuellen Übergriffe gegenüber Kosovo-Albanerinnen durch serbische Polizisten zu befinden war, kann sich die staatliche Zurechenbarkeit gerade aus der für Frauen spezifischen Gefahrenlage ergeben: "Das Gericht ist ferner davon überzeugt, daß die sexuellen Übergriffe auf die Klägerin auch eine politische Verfolgung darstellen. Auch wenn es bei Hausdurchsuchungen und Festnahmen durch die Polizei immer wieder zu Exzessen kommt, von denen nicht nur albanische Volkszugehörige betroffen sind, kann dies - nach Überzeugung des Gerichts nicht bei sexuellen Übergriffen gegenüber albanischen Frauen gelten. Die serbischen Polizisten nutzen nämlich hierbei zum einen die Einschüchterungspolitik des Staates gegenüber der albanischen Bevölkerungsgruppe aus, zum anderen die besondere Situation der moslemischen Frauen, die bei Bekanntwerden derartiger Vorfälle auch noch erhebliche Schwierigkeiten von ihren Angehörigen bzw. ihren Ehemännern erhalten" (STREIT 1998, 132 ff., meine Hervorhebungen).

Der Hessische Verwaltungsgerichtshof führt in seiner o.g. Entscheidung vom 02.12.1991, wo es um die Vergewaltigung einer Jezidin durch türkische Soldaten ging, aus: "Der Annahme einer asylrelevanten Einzelverfolgung steht auch nicht die fehlende Anzeige dieses Vorfalls bei staatlichen Stellen entgegen. Im Hinblick auf die ebenso zahlreichen wie schwerwiegenden Übergriffe durch Soldaten, die die Dorfbewohner im allgemeinen und die Angehörigen der Sippe im besonderen erleben mußten, konnte die Klägerin mit Recht von der Sinnlosigkeit einer Anzeige dieses Vorfalles ausgehen." Das Gericht verlangt aufgrund der existierenden Gefahrenlage für die betroffenen Frauen dem türkischen Staat "in besonderem Maße präventive Vorkehrungen" ab, "bevor er von seiner diesbezüglichen Verantwortlichkeit entlassen werden kam." (a.a.O. Seite 162, meine Hervorhebung).

Es ist also festzuhalten: Wenn staatliche oder parastaatliche Funktionsträger die Täter sind, ist davon auszugehen, daß sexuelle Übergriffe als typisches und meist systematisches Mittel der Einschüchterung, Terrorisierung bzw. Verfolgung eingesetzt werden und daher dem Staat zurechenbar sind. Wenn Privatpersonen als Täter auftreten, kann die staatliche Verantwortung nicht pauschal damit in Frage gestellt werden, daß der Staat im großen und ganzen Verbrechensbekämpfung betreibt. Es ist vielmehr zu prüfen, inwieweit es sich um ein strukturelles gesellschaftliches Phänomen handelt und inwieweit der Staat zur Bekämpfung des Phänomens gezielte und geeignete Schutzbzw. Präventivmaßnahmen ergreift. Denn jedem Staat obliegt es, seine Bürger/innen vor jeder Form von Gewalt zu schützen, auch vor Gewalt im sogenannten Privatbereich. Ist er hierzu nicht bereit oder nicht in der Lage, liegt bei ihm auch die Verantwortung für die ausgeübte Gewalt.

Zudem müssen die realen, physischen und psychischen, Möglichkeiten der betroffenen Frauen, tatsächlich etwa durch eine Anzeige Schutz bei staatlichen Stellen T.U suchen, geprüft werden. Die Verweigerung staatlichen Schutzes kann nicht pauschal mit dem Argument entschuldigt werden, der Staat könne diesen ja nicht gewähren, weil die Betroffene/n nicht Anzeige erstattet hätten. Durfte die Frau überhaupt damit rechnen, daß eine solche Anzeige Sinn haben würde? Mußte sie unter Umständen mit schweren gesellschaftlichen Sanktionen rechnen?

In den kanadischen Richtlinien vom 09.03. 1993, die das kanadische "Immigration and Refugee Board Ottawa" zu "women refugee claimants fearing gender-related persecution" (frauenspezifische Verfolgung) erlassen hat, wird dieses Problem ebenfalls erörtert und versucht, der betroffenen Frau Beweiserleichterungen zuzugestehen (Seite 8): " Wo das Vorbringen geschlechtsspezifischer Verfolgung erlittene sexuelle Gewalt oder die Bedrohung hiermit durch staatliche Behörden (oder durch Privatbürger, die der Staat nicht kontollieren kann) beinhaltet, kann es für die Antragstellerin schwierig sein, ihren Antrag mit statistischem Material in Bezug auf die Praxis sexueller Gewalt in ihrem Heimatland zu untermauern. ... Entscheider sollten daher Anzeichen berücksichtigen, die für einen Mangel an staatlichem Schutz sprechen, etwa weil die staatlichen Stellen oder ihre Funktionsträger im Heimatland derAntragstellerin in Einzelfällen sexuelle Gewalt zugelassen haben, von der sie Kenntnis hatten oder weil sie nicht tätig wurden, um solche Fälle zu verhindern " (meine Übersetzung und Hervorhebungen).[ 1 ]

c) Kann sexuelle Gewalt als asylrelevante politische Verfolgung bewertet werden?

Auch wenn aufgrund der bisherigen Ausführungen geklärt sein dürfte, daß Übergriffe auf die sexuelle Integrität Verfolgungscharakter besitzen und daß sie in der Regel auch dem jeweiligen Staat zuzurechnen sind, so ist hiermit die Frage noch nicht abschließend beantwortet, ob diese Verfolgung auch als "politisch" i.S.v. Art. 16a Grundgesetz (bzw. § 51 Abs. l AusIG) und damit als asylrelevant einzustufen ist.

Diese Frage ist rechtlich sehr bedeutsam. Denn an den Tatbestand der politischen Verfolgung knüpft sich der sichere mit der Vergabe des internationalen Flüchtlingspasses verbundene Status des großen Asylrechts nach Art. 16a Grundgesetz bzw. immerhin des kleinen Asylrechts nach § 51 Abs. l AusIG. Bei dessen Verneinung verbleibt i.d.R. nur ein minderer unsicherer Rechtsstatus der Duldung.

Das Merkmal "politisch" ist von der Rechtsprechung dahingehend ausgelegt worden, daß eine Verfolgung dann asylrelevant sei, wenn sie aufgrund von einem oder mehreren der Kriterien erfolge, die in der Genfer Flüchtlingskonvention zur Definition des Flüchtlingsbegriffs genannt sind (Art. l A Nr. 2 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.07.1951). Diese Kriterien sind: Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, politische Überzeugung (BVerwGE 49, 202, 204; 67, 184, 186). Während früher die Verfolgung durch eines dieser Kriterien "motiviert" sein mußte, spricht die heutige Rechtsprechung von der gezielten "Anknüpfung " an ein solches Kriterium bzw. von einer entsprechenden "erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme" (grundlegend: BVerfG, Beschluß vom 10.07.1989, BVerfG 80, 315,335).

In den allermeisten Fällen sexueller Gewalt durch staatliche oder parastaatliche Funktionsträger ist zumindest eines dieser fünf Anknüpfungskriterien gegeben, in den o.g. Fällen z.B. die christliche bzw. jezidische Religionszugehörigkeit bzw. die kurdische Volkszugehörigkeit. Hier soll jedoch auch für den Fall, daß keines der fünf genannten Kriterien einschlägig ist, der Frage nachgegangen werden, inwiefern die Asylrelevanz sexueller Gewalt zu bejahen ist. Dazu bedarf es im deutschen Asylrecht nicht des Umweges über die Genfer Flüchtlingskonvention. Das klassische Grundrechtsinstrumentarium bietet schon direkt die Möglichkeit, "frauenspezifischer Verfolgung" gerecht zu werden.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in einer Grundsatzentscheidung ausdrücklich darauf abgestellt, daß es bei der Schaffung des Asylrechts darum gegangen sei, daß "kein Staat das Recht hat, Leib, Leben oder die persönliche Freiheit des Einzelnen aus Gründen zu gefährden oder zu verletzen, die allein in seiner politischen Überzeugung oder religiösen Grundentscheidung oder in unverfügbaren, jedem Menschen von Geburt anhaftenden Merkmalen liegen. Diese allgemeine und erst recht in dem der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft soeben ledig gewordenen Deutschland lebendige Rechtsüberzeugung hat die Schaffung der grundgesetzlichen Asylverbürgung wesentlich bestimmt und ist für die Ermittlung ihres Inhalts und ihrer tatbestandlichen Voraussetzungen maßgebend. Für den Bereich der innerstaatlichen Rechtsordnung hat diese Rechtsüberzeugung in entsprechender Weise zu dem Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz geführt. Wie das Diskriminierungsverbot im Inland Schutz vor Benachteiligung wegen des Geschlechtes, der Rasse, der Herkunft und der religiösen und politischen Anschauung gewährt, gewährt das Asylrecht bei einer wegen dieser Merkmale im Ausland erlittenen oder drohenden Verfolgung Schutz vor dem Zugriff des verfolgenden Staates. Insofern wird das Asylrecht getragen von dem Art. 3 Abs. 3 GG zugrundeliegenden Toleranzgebot" (BVerwG, Urteil vom 17.05.1983, E 67, 184, 187, meine Hervorhebungen).

Das Geschlecht ist zweifellos ein Merkmal, das der o.g. Definition der "unverfügbaren Merkmale" entspricht. Ganz unmißverständlich festgestellt wird dies im letzten Absatz des Zitats aus dem BVerwG-Urteil, wo das "Geschlecht" als in Art. 3 Abs. 3 GG genanntes Merkmal ebenfalls als asylrelevantes Merkmal im Sinne des Asylgrundrechts bezeichnet wird. Das Bundesverfassungsgericht nimmt in seiner Entscheidung vom 01.07.1987 ausdrücklich Bezug auf diese Argumentation (E 76,143,157f).

Aufgegriffen wurde diese Grundsatzrechtsprechung erneut im Homosexuellenurteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.03.1988. In ihm wird festgestellt, daß auch die Homosexualität Anknüpfüngsmerkmal für die Zuerkennung des verfassungsrechtlichen Asylrechts sein kann (veröffentlicht InfAusIR 1988, 230f). Zur Begründung führt das Gericht aus, daß die persönlichen Merkmale des Artikel l A Nr. 2 GFK die übergreifende Gemeinsamkeit aufweisen, Eigenschaften zu bezeichnen, "die dem Betroffenen ohne eigenes Zutun, sozusagen schicksalhaft zufallen", als "unabdingbare persönliche Merkmale" (Seite 232). Diese Beschreibung trifft auch auf das Geschlecht an sich zu. Das heißt, das Geschlecht ist schon lange Anknüpfungskriterium für die Gewährung des Asylrechts, nur wird dem häufig nicht Rechnung getragen.

Geradezu verblüffen müssen insofern die Ausführungen von Prof. Hailbronner, der im Auftrag der Bundesregierung 1993 schon die Demontage des Asylgrundrechts vor dem Bundesverfassungsgericht vertrat. Er lehnt die Annahme des Geschlechts als Anknüpfungsmerkmal für politische Verfolgung mit dem lapidaren Satz ab, auf Frauen lasse "sich diese (Homosexuellen-) Rechtsprechung schon deshalb nicht übertragen, weil Frauen nicht als solche wegen ihres Geschlechtes Verfolgungen ausgesetzt" seien.[ 2 ] Das weltweit gültige Muster der Anwendung sexueller Gewalt gegenüber Frauen in Haft beweist, daß diese als Frauen, d.h. in Anknüpfung an ihr Geschlecht (bzw. "erkennbar gerichtet gegen ihr Geschlecht") systematisch und gezielt sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind, wobei ausgenützt wird, daß derartige Übergriffe meist auch für sie als Frauen dramatische soziale und psychische Folgen haben können.

Richtig gesehen wird dies z.B. in dem bereits zitierten Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 19.02.1992, wo es um Verfolgung durch Entführung, Freiheitsberaubung, Vergewaltigung und sexuelle Mißhandlungen geht: "Denn selbst wenn die Maßnahmen die Klägerin lediglich in ihrer Eigenschaft als Frau getroffen hätten, wäre das (nicht näher bezeichnete) Merkmal der "politischen" Verfolgung gegeben. Dem Merkmal der "politischen Verfolgung" liegt nämlich, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom i .Juli 1987 (2 BvR 4 78, 962/86 -, BverfG 76, 143, 157f) ausgeführt hat, 'die von der Achtung der Unverletzlichkeit der Menschenwürde bestimmte Überzeugung zugrunde, daß kein Staat das Recht hat, Leib, Leben oder die persönliche Freiheit des Einzelnen aus Gründen zu gefährden oder zu verletzen, die allein in seiner politischen Überzeugung oder religiösen Grundentscheidung oder in unverfügbaren, jedem Menschen von Geburt an anhaftenden Merkmalen liegen. ' Insofern wird das Asylrecht von dem Diskriminierungsverbot getragen. Wie das Diskriminierungsverbot im Inland (vgl.. Art 3 Abs. 3 GG) Schutz vor Benachteiligung wegen des Geschlechts, der Abstammung, der Rasse usw. gewährt, gewährt das Asylrecht bei einer wegen dieser Merkmale im Ausland erlittenen oder drohenden Verfolgung Schutz vor dem Zugriff des verfolgenden Staates (so BVerwG, Urteil vom 17.05.1983 - 9 C 36.83, InfAuslR 1983, 228, 229,230). Somit gehört auch das Geschlecht eines Menschen zu den (unverfügbaren) Merkmalen, an die das Asylrecht anknüpft. "

Das Verwaltungsgericht Frankfurt hat mit Urteil vom 23.10.1996 alleinstehenden afghanischen Frauen das Asylrecht zuerkannt, weil diese Verfolgung durch Vergewaltigung in dem von den Taliban-Milizen dominierten Afghanistan zu gewärtigen haben. Das Gericht stellt fest: "Die ihr drohenden Mißhandlungen bis hin zur Vergewaltigung oder auch Steinigung stellten eine politische Verfolgung i.S.d. Art. 16a Abs. l GG dar. Sie zielten nämlich auf bestimmte persönliche Merkmale, die asylerheblich sind, nämlich auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, im Falle der Klägerin der sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen in Afghanistan, (...). Der Klägerin ... drohte somit eine asylerheblich geschlechtsspezifische Verfolgung als alleinstehende Frau. Daß eine auf das Geschlecht bzw. auf die geschlechtliche Orientierung bezogene Bestrafung und Mißhandlung im Einzelfall politische Verfolgung darstellen kann, ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anerkannt (!) ... und ergibt sich auch aus dem aktuellen Stand des Flüchtlingsvölkerrechts." (STREIT 1997,130; InfAusIR 1997,177ff)

d) Zwischenergebnis:

Durch öffentliche Funktionsträger verübte sexuelle Gewalt ist i.d.R. als den jeweiligen Staaten zurechenbare Verfolgung zu betrachten. Bei privater Täterschaft kann die staatliche Zurechenbarkeit je nach mangelnder Schutzbereitschaft und/ oder Fähigkeit der betroffenen Staaten evtl. bejaht werden. Das Bewußtsein, auch bei Bundesamt und Gerichten, in Bezug auf die staatliche Verantwortung für sexuelle Gewalt scheint sich in dem Maße zu entwickeln, in dem offenbar wird, daß sexuelle Gewalt überall vorkommt, insbesondere auch in ihrer Anwendung als gezieltes politisches Unterdrückungsinstrument. Die Asylrelevanz ist schon deshalb zu bejahen, weil sexuelle Gewalt gegenüber Frauen immer auch an ihr Geschlecht als asylrelevantes Merkmal anknüpft und für die betroffenen Frauen dramatische physische, psychische und soziale Folgen impliziert, wie sie nur Frauen treffen können. Es steht zu hoffen, daß sich auch diese Auffassung noch mehr durchsetzen wird.

3. Aufgezwungene geschlechtsdiskriminierende Verhaltensnormen

Die asylrechtliche Behandlung von Fällen, die unter diese Kategorie fallen, dürfte angesichts der Ausführungen zur gezielten und systematischen Anwendung sexueller Gewalt gegen Frauen (Punkt l.) keine rechtsgrundsätzlichen Probleme mehr bereiten. Allenfalls besteht noch Klärungsbedarf bei der Abgrenzung zwischen noch hinnehmbarer Diskriminierung und politischer Verfolgung. Auch hier möchte ich die Fragen der Eingriffsintensität (a), der staatlichen Zurechenbarkeit (b) sowie der asylrechtlichen Relevanz (c) prüfen:

a) Welche Eingriffe haben Verfolgungscharakter mit "ausreichender Eingriffsintensität"?

Diese Frage steht in Fällen aufgezwungener geschlechtsdiskriminierender Verhaltensnormen stärker im Vordergrund. Wenn Übergriffe auf Leib und Leben zur Diskussion stehen, kann der Verfolgungscharakter sicher nicht verneint werden. So hat z.B. das Verwaltungsgericht Magdeburg mit Urteil vom 20.06.1996 einer Frau wegen drohender Genitalverstümmelung Asyl gewährt, allerdings ohne eingehende rechtsgrundsätzliche Überlegungen (STREIT 1997, 127 ff.). Entsprechendes muß gelten für Übergriffe auf Leib und Leben der Frauen durch ihre Ehemänner, wenn der Staat keinen ausreichenden Schutz gewährt, etwa weil Männern durch Gesetz oder aber auch durch von den staatlichen Stellen beachtete Traditionen ein eheliches Züchtigungsrecht o.a. zugestanden wird.

Problematischer ist die Bewertung bei der Verletzung anderer Rechtsgüter, z.B. das der ungehinderten beruflichen und wirtschaftlichen Betätigung. Hier ist zunächst erneut auf die Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 02.07.1980 zu verweisen, wo es in Bezug auf Beeinträchtigungen der weiteren Rechtsgüter (also nicht Gefahr für Leib und Leben) heißt, daß diese allerdings ein Asylrecht nur dann begründen, wenn sie nach ihrer Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was die Bewohner des Heimatstaats aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen haben. " (BVerfG 54, 341, 357)

Wohl vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung ist von Seiten des Bundesamtes immer wieder argumentiert worden, daß die Verfolgung wegen Verstoßes gegen den Schleierzwang im Iran nicht asylrelevant sei, da sich der sog. "Kleiderordnung alle im Iran lebenden Frauen zu unterwerfen hätten" (so z.B. die Stellungnahme des Bundesamtes, zitiert im Beschluß des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 19.08.1986, AZ: 15 D 172/86).

Hier liegt ein gravierender Denkfehler vor: Dasjenige, was nur von Frauen hinzunehmen ist, ist nicht identisch mit demjenigen, was "die Bewohner des Heimatstaates allgemein" hinzunehmen haben! Das Kriterium des "... allgemein Hinzunehmenden" kann daher in diesem Kontext keine Rolle spielen; denn es geht ja um Menschenrechtsverletzungen an Frauen, also Beeinträchtigungen, die nicht von den Männern und daher eben gerade nicht von allen "Bewohnern des Heimatstaates" hingenommen werden müssen. Es wäre auch nicht einsichtig, hier nur das von anderen Frauen Hinzunehmende zur Meßlatte zu machen, denn dadurch würde ja von der diskriminierenden Prämisse ausgegangen, daß Frauen mehr hinzunehmen hätten als Männer. Man stelle sich vor, der dunkelhäutige Bewohner eines Apartheidsstaates würde darauf verwiesen, er habe ja nicht mehr an Diskriminierung hinzunehmen als andere Schwarze auch! Meßlatte kann also nur das sein, was die Gesamtbevölkerung hinzunehmen hat!

Zu prüfen ist nach der zitierten Rechtsprechung weiterhin die Frage, ob die Maßnahmen ihrer Intensität und Schwere nach die Menschenwürde verletzen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. l Grundgesetz (Schutz der Menschenwürde) darf der Mensch keiner Behandlung ausgesetzt werden, die ihn zum bloßen Objekt degradiert (z.B. BVerfG 16.07.1969, E 27, 1,6; 24.04.1985, E 69, l, 34) und seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt oder Ausdruck der Verachtung des Wertes ist, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt (BVerfG 15.12.1970, E 30, l, 26). Der Satz "Der Mensch muß immer Zweck an sich selbst bleiben " gilt uneingeschränkt; denn die unverlierbare Würde des Menschen besteht gerade darin, daß er als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt bleibt (BVerfG 21.06.1977, E 45, 187, 228). Art. l schützt die Würde des Menschen wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewußt wird; hierzu gehört, daß der Mensch über sich selbst verfügen und sein Schicksal verantwortlich gestalten kann (BVerfG 11.10.1978, E 49, 280, 298). Laut Bundesgerichtshofgeht der Begriff der Menschenwürde im Kern davon aus, daß der Mensch als geistig-sittliches Wesen darauf angelegt ist, in Freiheit und Selbstbewußtsein sich selbst zu bestimmen und auf die Umwelt einzuwirken (Urteil vom 22.03.1961, BGHZ 35, l, 8).

Es ist daher überhaupt nicht nachvollziehbar, wenn der bereits erwähnte Prof. Hailbronner in diesem Zusammenhang Frauen lediglich ein "Minimum an menschenwürdiger Entfaltung" zugestehen will (a.a.O., Seite 22, er setzt sich zur Begründung allerdings nicht mit der Menschenwürde von Frauen, sondern mit der Rechtsprechung zur Asylrelevanz von religiöser Unterdrückung auseinander.) Hier scheint wieder einmal unreflektiert von einer vermeintlich rechtlichen Minderwertigkeit der Frauen ausgegangen zu werden. Zur Verdeutlichung sei wiederum die hypothetische Parallele zu einem Apartheidsstaat aufgezeigt: Würde man einen Schwarzen angesichts der in einem solchen Staat praktizierten Rassenunterdrückung lediglich auf ein "Minimum an menschenwürdiger Entfaltung" verweisen, so würde dies wohl, zu Recht, einen Sturm von Entrüstung auslösen! Daß man(n) gegenüber Frauenunterdrückung eine derartige Haltung einnehmen darf, belegt wohl nur, daß auch in europäischen Köpfen, nicht nur männlichen, patriarchalisches Denken noch tief verankert ist! Auf der anderen Seite ist natürlich nicht zu verkennen, daß es sich bei dem Begriff der Menschenwürde um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt, der keinen absoluten Maßstab für jeden Einzelfall an die Hand gibt. Dennoch lassen sich z.B. anhand der oben zitierten Kriterien viele Fälle lösen: Es steht sicher außer Frage, daß die völlige Einschränkung der beruflichen Betätigungsfreiheit von Frauen (wie derzeit in Afghanistan) die Menschenwürde verletzt. Aber auch teilweise gravierende grundsätzliche geschlechtsspezifische Einschränkungen der Berufsfreiheit (z.B. für bestimmte Berufssparten) verwehren Frauen, "in Freiheit und Selbstbestimmung sich selbst zu bestimmen" bzw. "über sich selbst zu verfügen und ihr Schicksal verantwortlich zu gestalten". Sollte Ehemännern oder Vätern etc. mit staatlicher Billigung diesbezüglich ein Bestimmungsrecht eingeräumt sein, so ist die Menschenwürde der betreffenden Frauen ebenfalls verletzt, denn sie wären in einem ganz wesentlichen persönlichen Lebensbereich der Entscheidungsgewalt anderer Menschen unterworfen.

Dies entspricht auch im wesentlichen der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Asylrelevanz von Beeinträchtigungen der beruflichen Tätigkeit, nach der im allgemeinen "zu dem asylrechtlich geschützten Bereich der persönlichen Freiheit ... grundsätzlich auch das Recht auf ungehinderte berufliche und wirtschaftliche Betätigung (gehört).... In diesem Rahmen können auch Beeinträchtigungen der beruflichen Betätigung dann asylbegründend wirken, wenn die wirtschaftliche Existenz bedroht und damit jenes Existenzminimum nicht mehr gewährleistet ist, das ein menschenwürdiges Dasein erst ausmacht.... Es mag denkbar sein, daß neben der Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz auch schon andere Beeinträchtigungen der beruflichen Betätigung die Menschenwürde verletzen und damit asylrelevant werden können, etwa das Verbot einer die Persönlichkeit des Betroffenen in besonderem Maße prägenden beruflichen Betätigung oder die mit einer beruflichen Umsetzung verbundene gezielte Bloßstellung und Herabwürdigung des Einzelnen. " (z.B. BVerwG, Urteil vom 20.10.1987, InfAusIR 1988, 22 ff., meine Hervorhebungen, zu beachten: die Rede ist hier von wirtschaftlichem Existenzminimum und nicht von Minimum an menschenwürdiger Entfaltung!) Entsprechendes muß in Bezug auf andere wesentliche Lebensbereiche gelten, wenn z.B. Ehemännern bzw. männlichen Familienangehörigen ein Bestimmungsrecht über "ihre" Frauen eingeräumt ist, z.B. hinsichtlich der Freiheit der Partnerwahl oder etwa der Freiheit, von ihrer Gebährfähigkeit Gebrauch zu machen oder auch nicht oder der ganz "banalen" Freiheit, das Haus ohne Erlaubnis verlassen zu dürfen etc. etc.

b) Kann der Staat für das Aufzwingen diskriminierender Verhaltensnormen verantwortlich gemacht werden?

Festzuhalten ist natürlich auch für diese Fälle, daß von Menschenrechtsverletzungen und insofern Verfolgungsübergriffen nur dann gesprochen werden kann, wenn der Staat in irgendeiner Form hierfür verantwortlich gemacht werden kann. Sollte dies nicht der Fall sein, muß die Frau darauf verwiesen werden, in ihrem eigenen Land nach staatlichem Schutz zu suchen.

So hat ein jugoslawisches Mädchen albanischer Volkszugehörigkeit vorgetragen, daß sie zu Hause ständig unterdrückt worden sei, Zwangsarbeit habe leisten müssen, außerdem sei ihr ständig .mit dem Tode gedroht worden. Ihr sei verboten worden, in die Schule zu gehen und sie habe das Haus nicht verlassen dürfen. Die Drangsalierung durch Eltern und Brüder sei schließlich so groß geworden, daß sie es zu Hause nicht mehr ausgehalten habe und sich in ein Heim begeben habe. Durch die ständige Erniedrigung glaube sie selbst, daß sie keinen Wert habe.

Das Bundesamt hat mit Bescheid vom 16.06.1997 die Asylanerkennung mit dem Argument abgelehnt, daß es sich hier um die Übergriffe privater Dritter gehandelt habe (wobei die Frage nach asylrelevänten Merkmalen ausdrücklich offengelassen wird) und daß eine staatliche Zurechenbarkeit zu verneinen sei (Gesch.-Z.: 2208 654-138). Der Frage nach der effektiven Möglichkeit einer Inanspruchnahme staatlichen Schutzes hätte hier indes, gerade auch angesichts der Volkszugehörigkeit des Mädchens, näher nachgegangen werden müssen. Immerhin werden mit dem Bescheid Absöhiebungshindernisse bejaht (nach § 53 AusIG wegen Gefahren für Leib und Leben).

Unproblematisch ist die staatliche Zurechenbarkeit sicher dann, wenn es Gesetze gibt, die z.B. die Auspeitschung von Frauen wegen Nicht-Einhaltung des Schleierzwanges vorsehen oder z.B. den Zugang der Frau zu bestimmten Berufen bzw. zur Erwerbstätigkeit überhaupt versagen oder sie zwangsweise auf den häuslichen Bereich verweisen etc. Gleiches muß gelten, wenn es entsprechende Sozialnormen gibt, gegen die der Staat keinen ausreichenden Schutz gewährt, wobei sich natürlich auch hier wieder das Problem stellt, ob es der Frau möglich ist, im Einzelfall staatlichen Schutz überhaupt in Anspruch zu nehmen.

So wäre der Staat z.B. verantwortlich zu machen, wenn er den Ehemann oder männlichen Familienangehörigen, der zum "Schutz der Familienehre" (oder aus anderen Gründen) eine Frau umbringt, mißhandelt oder einsperrt, nicht strafrechtlieh verfolgt. Verweigerung staatlichen Schutzes ist auch da anzunehmen, wo der Staat einer Frau z.B. in Fällen von Übergriffen der oben genannten Art durch den Ehemann kein Trennungs- bzw. Scheidungsrecht einräumt.

Das Verwaltungsgericht Bayreuth hat mit Urteil vom 28.04.1997 einer Bengalin u.a. deshalb Asyl zuerkannt, weil sie wegen Heirat eines zum Christentum konvertierten Mannes mit Verfolgung durch private Dritte rechnen muß und "nach Auskunft von amnesty international nicht auf Schutz durch die Polizei vertraut werden könne. Es seien dort zwei Fälle bekannt, in denen prominenten Personen - teilweise trotz gerichtlicher Verpflichtungen dazu - ungeachtet ernster Morddrohungen kein polizeilicher Schutz gewährt worden sei. Der bangladeschische Staat sei nicht willens und fähig, Personen wie die Klägerin zu schützen" (STREIT 1997,179).

c) Kann bei der Erzwingung diskriminierender Verhaltensnormen von politischer Verfolgung gesprochen werden?

Die Rechtsprechung hat bei der Frage, ob die genannte Verfolgung politisch ist, z.T. versucht, derartige Fälle durch die Aufnahme des Kriteriums der "politischen Überzeugung " zu lösen, die bei einem Verhalten, das von frauenspezifischen Unterdrückungsnormen abweiche, unterstellt werden könne.

So hat der Verwaltungsgerichtshof Baden- Württemberg in Bezug auf einen - mit Auspeitschung zu ahndenden - Verstoß gegen den Schleierzwang im Iran ausgeführt: "Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts kann der politische Bezug eines solchen Verstoßes nicht mit der Begründung verneint werden, von einem Verstoß gegen diese Vorschriften schließe der iranische Staat entgegen der allgemeinen Meinung in der Bevölkerung und der Presse nicht auf eine abweichende politische Überzeugung" (Urteil vom 20.09.1990, InfAusIR 1990,346, 347, meine Hervorhebung).

Diese Rechtsauffassung ist sicher zutreffend. Man kann auch argumentieren, daß ein Aufbegehren gegen frauenfeindliche Normen in vielen Fällen implizit eine politische Meinungsäußerung beinhaltet. Allerdings bedarf es dieser Annahme nicht unbedingt. In diesem Zusammenhang spielt der Beschluß des Exekutivkomitees des UNHCR Nr. 39 (XXXVI) von 1985 eine große Rolle, durch den den Vertragsstaaten de facto eine Empfehlung gegeben wird, Frauen als "soziale Gruppe" i.S.d. Konvention anzuerkennen. Es wird festgestellt, "daß es den Staaten freisteht, sich die Interpretation zu eigen zu machen, daß weibliche Asylsuchende, die harte oder unmenschliche Behandlung zu erwarten haben, weil sie gegen den sozialen Sittenkodex in der Gesellschaft, in der sie leben, verstoßen haben, eine besondere Gruppe i.S.v. Art l A Abs. 2 der UN-Flüchtlingskonvention von 1951 darstellen".

Diese Möglichkeit ist verschiedentlich aufgegriffen worden, z.B. im Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 08.05.1984, welches "westlich geprägte iranische Staatsangehörige " als soziale Gruppe i.S. der GFK betrachtet, welche im Iran der Verfolgung ausgesetzt ist ( AZ: Vl/l E 07897/ 81-0, veröffentlicht STREIT 1987, 51).

Obwohl diese Entscheidung sicher als großer Fortschritt zu werten ist, kann eine solche Sichtweise insofern auch problematisch sein, als auch nicht westlich geprägte (was immer darunter zu verstehen ist) Frauen, die z.B. den Schleierzwang nicht beachten o.a., der gleichen Verfolgung durch Auspeitschung unterliegen können. Gerade in Staaten, in denen Geschlechterapartheid verbunden mit starker Unterdrückung von Frauen herrscht, stellt sich die Frage, ob hier noch innerhalb der Frauen zu differenzieren ist. Für eine westlich geprägte afghanische Frau, die z.B. nicht mehr als Ärztin arbeiten darf, ist ein generelles Arbeitsverbot für Frauen und die Verweisung an den häuslichen Herd nicht anders existentiell bedrohlich als für eine ganz traditionell denkende Witwe, die aufgrund des Arbeitsverbotes ihre Kinder nicht mehr ernähren kann! Die Empfehlung des UNHCR ist uneingeschränkt zu begrüßen (sie wird z.B. auch in den kanadischen Richtlinien, Seite 3, aufgegriffen). Im deutschen Recht kann zusätzlich direkt auf das Geschlecht als Anknüpfungskriterium für die Annahme einer "politischen Verfolgung" zurückgegriffen werden. Das Geschlecht ist nämlich in Art, 3 Abs. 3 Grundgesetz ausdrücklich als "unverfügbares Merkmal" für das Inland benannt und insofern auch als Merkmal i.S.d. Asylgrundrechts für das Ausland anzusehen (ich habe auf diesen Gesichtspunkt bereits hingewiesen).

Frauen, die wegen Nicht-Beachtung des Schleierzwangs ausgepeitscht werden, werden gefoltert in Anknüpfung an ihre Geschlechtszugehörigkeit, denn als Frauen wird ihnen auferlegt, sich durch Tragen von Schleier, Tschador etc. für die Augen der Männer unsichtbar zu machen, und, nur weil sie Frauen sind, kann ein ganz alltägliches Verhalten wie die freie Wahl der Kleidung grausamste Folter implizieren.

In einem Bundesamtsbescheid vom 24.11.1988 wird mit seltener Klarheit und Präzision festgestellt: "Die Antragstellerin war darüber hinaus aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe als iranische Frau einer frauenspezifischen Verfolgung ausgesetzt. Die gesetzlich verankerten, Frauen diskriminierenden Verhaltensregeln, die einen schweren Eingriff in die persönliche Freiheit der Iranerinnen darstellen, werden mit totalitären Maßnahmen durchgesetzt. Durch die ideologisch begründete Macht von Männern über Frauenfindet eine allgemeine politische Unterdrückung der Frauen unter Mißachtung ihrer Individualrechte und ein Verstoß gegen Menschenrechte statt" (Gesch-Z.: 439-26428- 86).

Hier sind auch die Fälle der Verfolgung von Frauen wegen Geburt eines nichtehelichen Kindes einzufügen. Das Verwaltungsgericht Köln hat einer Iranerin Asyl zuerkannt, weil sie im Falle ihrer Rückkehr in den Iran wegen Geburt eines nichtehelichen Kindes mit Auspeitschung bis hin zur Todesstrafe durch Steinigung zu rechnen habe. (Urteil vom 24.09.1992, AZ: 7 K 12321/89, aiRechtsprechungsübersicht Index-Nr. 1/93/6, allerdings wohl ohne eingehende Begründung).

Anders hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof entschieden, da die Bestrafung unverheirateter Frauen wegen Schwangerschaft lediglich daran anknüpfe, daß sie sich nicht entsprechend den islamischen Moralvorstellungen verhalten hätten, aber nicht an eine ihnen zukommende und asylrelevante Eigenschaft, die sie persönlich und schicksalhaftpräge (Urteil vom 11.11.1992, AZ: 19 BZ 92.313853, ai-Rechtsprechungsübersicht Index-Nr. 5/93/6).

Eine derartige asylrelevante, sie persönlich und schicksalhaft prägende Eigenschaft ist jedoch auch in einem solchen Spezialfall das Geschlecht; denn als Frau wird die Betroffene in ihrem Grundrecht, über ihren Körper bzw. ihre Gebährfähigkeit zu verfügen, gezielt verletzt, und, weil sie Frau ist, wird ihr wegen Übertreten der auferlegten Norm eine solch unfaßbar brutale Behandlung zuteil. Die Verfolgung knüpft an ihr Geschlecht an.

Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, daß ja nicht unmittelbar das Geschlecht, sondern erst ein bestimmtes Verhalten die Verfolgung auslöse. Auch bei Verfolgung wegen politischer Überzeugung geht die herrschende Rechtsprechung davon aus, daß Anknüpfungsmerkmal für eine asylrelevante Verfolgung auch die Betätigung einerpolitischen Überzeugung sein kann (z.B: BVerfG 10.07.1989, a.a.O., Seite 337). Ebenso löst die Homosexualität (als Neigung) an sich nicht die Verfolgung aus, sondern erst ihre Betätigung in irgendeiner Form. Hier geht es entsprechend um die sexuelle Betätigung einer Frau in Bezug auf ihren eigenen Körper bzw. ihre eigene GebährFähigkeit, d.h. um die Betätigung unveräußerlicher ihr als Frau zustehender Rechte.

Nach den kanadischen Richtlinien zur frauenspezifischen Verfolgung vom 09.03.1993 sollten derartige Gründe zur Flüchtlingsanerkennung führen: Zu "Frauen, die Verfolgung als Folge von Nicht-Beachtung oder Überschreitung bestimmter geschlechtsspezifischer religiöser oder traditioneller Regelungen oder Bräuche in ihrem Heimatland befürchten müssen", wird ausgeführt: Solche Regelungen und Traditionen können, indem sie Frauen stigmatisieren und ihnen eine verwundbarere Rolle als Männern zuweisen, die Voraussetzungen für die Annahme einer über das Geschlecht definierten sozialen Gruppe schaffen. Die religiösen Vorschriften, gesellschaftlichen Traditionen oder kulturellen Normen, deren Verletzung Frauen vorgeworfen wird, können sich auf die Wahl eines eigenen Partners an Stelle der Einwilligung in eine arrangierte Ehe beziehen, bis hin zu solchen Angelegenheiten wie dem Tragen von " make-up ", der Sichtbarkeit oder Länge des Haares oder der Wahl der Kleidung " (Meine Übersetzung und Hervorhebung). [ 3 ]

d) Zwischenergebnis:

Geschlechtsdiskriminierende Verhaltensnormen politischer oder gesellschaftlicher Natur haben Verfolgungscharakter, wenn sie angesichts ihrer Eingriffsintensität und staatlichen Zurechenbarkeit menschenrechtsverletzenden Charakter haben. Das betrifft z.B. alle Übergriffe auf die körperliche Unversehrtheit, die Gebährfähigkeit oder die Freiheit der Partnerwahl sowie alle wesentlichen Eingriffe in die Berufsfreiheit. Die asylrechtliche Relevanz ergibt sich aus der Anknüpfung der Maßnahmen an das weibliche Geschlecht als "unverfügbares Merkmal" (auf nationaler Ebene) bzw. als "bestimmte soziale Gruppe " (auf internationaler Ebene). Obwohl die rechtlichen Grundlagen hierfür zweifelsfrei gegeben sind, fällt die diesbezügliche Entscheidungspraxis, je nach Bewußtseinsstand bzw. politischer Einstellung, sehr unterschiedlich aus.

4. Sippenhaft als Asylgrund

Fälle von Sippenhaft lassen sich nicht einfach nach den bereits entwickelten Kriterien entscheiden. Sippenhaft erfolgt nicht unmittelbar in Anknüpfung an das Geschlecht. Das gleiche Schicksal kann auch Männer treffen. Da es de facto aufgrund ihrer spezifischen Lebenssituation als "Zu-Hause-Gebliebene" immer wieder Frauen sind, die für die Aktivitäten ihrer Männer zu "büßen" haben, kann Sippenhaft im weiteren Sinne als geschlechtsspezifische Verfolgung aufgefaßt werden.

a) Praktische Relevanz der sogenannten "Sippenhaft-Fälle"

Häufig werden gerade bei Sippenhaft Frauen durch sexuelle Nötigung und Mißhandlungen bis hin zur Vergewaltigung verfolgt, da hierdurch auch auf den geflohenen Mann zugegriffen werden soll. Insofern liegt frauenspezifische Verfolgung vor, die als asylrechtlich relevant zu bewerten ist.

Es gibt jedoch Fälle, in denen die Verfolgung "nur" durch sonstige Mißhandlungen oder Übergriffe nicht-sexueller Natur erfolgt. Sehr häufig, m.E. sehr viel häufiger, sind folgende Fälle: Sexuelle Gewalt hat zwar auch stattgefunden, kann jedoch von den Frauen aus psychischen Gründen (Scham, Ekel, Angst vor der Reaktion des Mannes etc.) nicht zugestanden werden. Wenn daher auch Übergriffe nicht-sexueller Natur erfolgt sind, sprechen Frauen hierüber oft leichter. Insofern stellt sich auch hier die Frage nach der Asylrelevanz dieser Übergriffe.

Da viele Ehefrauen und Kinder nach der Verfassungsänderung vom 01.07.1993 (großer Parteienkompromiß) nicht mehr "automatisch" in den Genuß des Familienasyls gelangen, stellt sich die Frage nach der Asylrelevanz von Sippenhaft gegenüber Ehefrauen (und minderjährigen Kindern) in letzter Zeit auch aus rechtlichen Gründen wieder häufiger. Durch Schaffung des Familienasylrechts können mit oder nach ihren Männern geflohene Frauen als Asylberechtigte anerkannt werden (§ 26 AsylVerfG n.F., zuvor § 7a Abs. 3 AsylVerfG a.F. seit 1992). Voraussetzung ist jedoch, daß die jeweiligen Ehemänner als Asylberechtigte anerkannt werden. Diese Anerkennung kann nach der Verfassungsänderung jedoch jetzt nach Art. 16a Abs. 2 GG schon daran scheitern, daß diese auf dem Landweg und nicht mit dem Flugzeug eingereist sind. Die Betroffenen können so nur den minderen Rechtsstatus nach § 51 Abs. l AuslG (sog. kleines Asylrecht) erhalten, welcher keine Regelung zum Familienasylrecht enthält.

Es muß auch an diejenigen Frauen gedacht werden, deren Ehemänner in der BRD kein Asylverfahren betreiben, die insofern keinen abgeleiteten Asylstatus in Anspruch nehmen können. Oft werden die Asylbegehren von Männern auch abgelehnt. In diesen Fällen stellt sich die Frage nach der Asylgewährung wegen Sippenhaft für die nachgereiste Ehefrau besonders vordringlich.

b) Höchstrichterliche Rechtsprechung zur Sippenhaft und ihre Umsetzung

Wie schon in Bezug auf die geschlechtsspezifische Verfolgung im engeren Sinne liefert die höchstrichterliche Rechtsprechung durchaus brauchbare Anhaltspunkte, um der Problematik der Sippenhaft gerecht zu werden, nur ist dieser Rechtsprechung häufig nicht gefolgt worden.

Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 02.07.1985 zu der Verfolgung einer Ehefrau im Wege der "Sippenhaft" grundsätzlich folgendes festgestellt: "... Wegen der engen persönlichen und familiären Verbundenheit kann bei Eheleuten der hinsichtlich des einen Ehegatten bestehende politische Verfolgungsgrund auf den anderen Ehegatten in der Weise durchschlagen, daß er für ihn - ungeachtet einer bei ihm bestehenden oder vermuteten politischen Überzeugung und einer hierauf abzielenden Motivation des Verfolgenden - zum eigenen Verfolgungsgrund wird.... Dies ist dann anzunehmen, wenn der Verfolgerstaat den zurückbleibenden oder zurückkehrenden Ehegatten stellvertretend für den politisch verfolgten Ehegatten in Anspruch nimmt. Die politische Verfolgung des einen Ehegatten wird dann zur Verfolgung des anderen. " und " Wird eine Ehefrau in die politische Verfolgung des Ehemannes einbezogen, können gegen sie gerichtete Maßnahmen auch dann - zumindest teilweise - von der Absicht getragen sein, in der Ehefrau selbst eine politische Gegnerin zu treffen, wenn sich diese nie politisch betätigt hat oder überhaupt keine politische Überzeugung besitzt. Auch wenn nur eine vermeintliche politische Überzeugung getroffen werden soll, liegt politische Verfolgung vor "(InfAusIR 1985, 275, STEIT 1985,144,145f).

Das Gericht hat dann den Grundsatz der sog. Regelvermutung aufgestellt, die eigentlich als Erleichterung für die Betroffenen gedacht war, die nur leider derzeit oft ins Gegenteil umschlägt. So stellt das Bundesverwaltungsgericht a.a.O. fest: "Sind Fälle festgestellt worden, in denen der Verfolgerstaat Repressalien gegenüber Ehefrauen im Zusammenhang mit der politischen Verfolgung ihrer Ehegatten ergriffen hat, wird eine aus dem Schutzgedanken des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG folgende Vermutung dafür wirksam, daß auch derjenigen Ehefrau eines politisch Verfolgten, über deren Asylanspruch im konkreten Fall zu entscheiden ist, das gleiche Schicksal mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht". In einer späteren Entscheidung hat das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich klargestellt, daß zwar die Regelvermutung nur für Ehegatten und minderjährige Kinder des Verfolgten gelte, daß jedoch ungeachtet einer solchen Begrenzung der personellen Reichweite der Regelvermutung festgestellte Fälle einer politischen Verfolgung anderer Verwandter bei der Verfolgungsprognose zu würdigen sind (Urteil vom 26.04.1988, NVwZ'1988, 1033 ff.).

In der Praxis hat sich diese Rechtsprechung deshalb als problematisch erwiesen, weil sich oft nicht genug Referenzfälle finden lassen bzw. nach den meist beschönigenden Berichten des Auswärtigen Amtes in dem betroffenen Land angeblich keine Sippenhaft stattfindet. (Dies wird oft durch Berichte aus anderen Erkenntnisquellen, z.B. von amnesty international, widerlegt.) So wird meist Sippenhaft für ein bestimmtes Land bzw. für eine bestimmte Personengruppe pauschal verneint, auch wenn die Asylbewerberin effektiv bereits von Übergriffen aufgrund von Sippenhaft betroffen war und damit eine Wiederholung derartiger Übergriffe zu befürchten ist. Nach dem Motto, "daß nicht sein kann, was nicht sein darf", wird diesem Einzelvortrag dann oft gar nicht mehr nachgegangen. Gerade in den Fällen, in denen die Regelvermutung nicht greift, müßte der Individualvortrag der Verfolgten auch unter dem Aspekt der Sippenhaft geprüft werden.

Exemplarisch verweise ich auf ein Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 21.08.1997, in dem die Paradoxie der Einengung des Blickfeldes auf die sog. "Regelvermutung" besonders deutlich wird: Das Gericht verneint zunächst die Asylrelevanz einer zweitägigen mit unmenschlicher Behandlung verbundenen Haft u.a. mit dem Argument, daß die Verhöre "wohl eher politischen Aktivitäten des Vaters" gegolten hätten (Seite 10 des Urteils), um dann weiter unten die Gefahr einer Verfolgung im Wege der Sippenhaft mit der Begründung abzulehnen, daß "der Vater derzeit nicht rechtskräftig als Asylberechtiger anerkannt worden " sei (was überhaupt kein Argument sein dürfte) und aufgrund der allgemeinen Verhältnisse in der Türkei in einem Fall wie dem vorliegenden Sippenhaft nicht praktiziert werde (Seiten 16 ff). An dieser Stelle wird überhaupt nicht mehr erörtert, daß bereits Mißhandlungen erfolgten, gerade weil man nach dem politisch aktiven Vater forschte (AZ: A l K 14542/97).

c) Aushöhlung des Rechts auf Asyl wegen Sippenhaft

In manchen Fällen scheint die Tendenz dahin zu gehen, das Recht auf Asyl wegen erlittener bzw. zu befürchtender Sippenhaft ganz auszuhöhlen. Beim Bundesamt besteht zuweilen nicht einmal ein Bewußtsein für die Problematik der Sippenhaft: Eine Kurdin hatte dem Bundesamt gegenüber vorgetragen, immer wieder wegen ihres verschwundenen Mannes befragt worden zu sein, wobei sie auch einmal schwer geschlagen worden sei. Im Ablehnungsbescheid des Bundesamtes vom 24.06.1996 heißt es u.a.: "Dem Vorbringen der Antragstellern ist nicht zu entnehmen, daß sie sich in ihrer Heimat oppositionell engagiert hat. Politischen Verfolgungsmaßnahmen warsie dort nicht ausgesetzt" (Gesch-Z: E 2 104 026-163).

Subtiler begründet, aber rechtlich nicht weniger bedenklich sind die Ausführungen in einem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 17.01.1995, wo es heißt: Es lasse sich nicht feststellen, daß bei einer möglichen Mißhandlung im Zuge einer Befragung nach den Angehörigen an asylrelevante Merkmale angeknüpft werde, nachdem die Befragung dem Zweck diene, Informationen über den oder die Gesuchten, über deren Verbleib, ihre Kontakte und ihr politisches Umfeld zu erhalten (AZ: A 12 S 64/92, Seite 69).

Diese Ausführungen können nur verwundern. Asylrelevante Sippenhaft ist doch gerade dann anzunehmen, wenn die Befragung dem Zweck dient, Informationen über den oder die Gesuchten und damit über deren Verbleib, ihre Kontakte und ihr politisches Umfeld zu erhalten. Gerade das sind die typischen Fragestellungen, denen die Opfer der Sippenhaft ausgesetzt sind. Sippenhaft ist nicht nur Geiselhaft, bei der versucht wird, auf den Gesuchten einzuwirken!

Das ergibt sich schon aus der zitierten Grundsatzentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 02.07.1985: Das Gericht hat sich hier leiten lassen von "einer stets in Betracht zu ziehenden besonderen potentiellen Gefährdungslage, der gerecht zu werden Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG gebietet" und spricht dann ganz allgemein von "Repressalien gegenüber Ehefrauen im Zusammenhang mit der politischen Verfolgung ihrer Ehegatten ". Ganz offensichtlich wird hier nicht nur von Geiselhaft ausgegangen! Die daheimgebliebenen nahen Anverwandten befinden sich ja auch gerade deshalb in der o.g. potentiellen Gefahrenlage, weil ihnen der Verfolgerstaat in Bezug auf den eigentlich Verfolgten wichtige Informationen unterstellt, die er häufig durch Verfolgungsmaßnahmen wie Folter etc. zu erpressen versucht.

Wollte man demgegenüber Fälle, in denen über Verbleib, Kontakte und politisches Umfeld des eigentlich Verfolgten geforscht wird, aus der Definition der Sippenhaft herausnehmen, so würde dies eine durch nichts gerechtfertigte Einschränkung bedeuten, bei der man gerade diejenigen Fallkonstellationen ausgrenzen würde, die für die Sippenhaft-Praxis geradezu typisch sind.

Dementsprechend heißt es z.B. in den kanadischen Richtlinien zur frauenspezifischen Verfolgung vom 09.03.1993 zu "Frauen, die Verfolgung aus Gründen befürchten, die sich nur auf ihre familiäre Zugehörigkeit beziehen, d.h. auf Status, Aktivitäten oder Ansichten ihrer Ehegatten, Eltern, Abkömmlinge oder auch andere Familienangehörige: Solche Fälle der 'Verfolgung wegen Sippenhaft' beinhalten typischerweise Gewalt oder andere Formen der Schikanen gegenüber Frauen, denen ihrerseits keine oppositionellen Meinungen oder politische Überzeugungen vorgeworfen werden, um ihnen Informationen über Aufenthaltsorte oder politische Aktivitäten der Familienangehörigen abzupressen. Frauen mögen auch aufgrund der Aktivitäten ihrer Familienangehörigen bestimmterpolitischer Meinungen bezichtigt werden" (Meine Übersetzung und Hervorhebungen). [ 4 ]

Auch das Bundesverfassungsgericht hat in Bezug aufverfolgungsmaßnahmen, die z.B. auf die Ausforschung der Verhältnisse des eigentlich Verfolgten, also auf dessen Verbleib, Kontakte und politisches Umfeld, abzielen, allerdings in anderem Kontext folgendes ausgeführt: "Im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann politische Verfolgung auch dann vorliegen, wenn staatliche Maßnahmen gegen - an sich unpolitische Personen ergriffen werden, weil sie dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet werden, die ihrerseits Objekt staatlicher Verfolgung ist.... Dienen diese Maßnahmen der Ausforschung der Verhältnisse des Dritten... so kann ihnen die Asylerheblichkeit nicht von vornherein mit dem Argument abgesprochen werden, sie seien nicht gegen die politische oder religiöse Überzeugung des Betroffenen ... gerichtet" (Urteil vom 28.01.1993, InfAusIR 1993, 142,145, meine Hervorhebungen).

Festzuhalten ist: Bei Verfolgung aufgrund von Sippenhaft, d.h. einer Inanspruchnahme durch den Verfolgerstaat, mit der eigentlich eine andere Person gemeint wird, ist nicht primär auf die politische Überzeugung, religiöse Grundentscheidung etc. des Opfers der Sippenhaft abzustellen, sondern auf die Gründe, aus denen der eigentlich Verfolgte verdächtig ist oder gesucht wird.

In dem o.g. Fall der Kurdin, die vom türkischen Militär geschlagen wurde, wäre also zu fragen, ob die Suche nach ihrem Ehemann (bzw. seine beabsichtigte Verfolgung) an asylrelevante Kriterien anknüpfte. Es darf dabei keine Rolle spielen, ob dieser ebenfalls in der BRD ein Asylverfahren betreibt oder u.U. als Asylberechtigter abgelehnt worden ist (da insofern keine Rechtskraftwirkung besteht).

In der Praxis kann man eine Verfolgung aus Gründen der Sippenhaft nicht immer eindeutig von einer anlaßgeprägten Direktverfolgung unterscheiden. Denn unter Umständen wird auch der nahe Verwandte des eigentlich Verfolgten verdächtigt, politisch oppositionell eingestellt bzw. aktiv zu sein (vgl. den letzten Satz der zitierten kanadischen Richtlinie). Eine exakte Abgrenzung ist hier jedoch in der Regel gar nicht erforderlich. Vielmehr ist bei einer Gesamtbetrachtung zu prüfen, inwiefern die Verfolgungsmaßnahmen (sei es in Bezug auf den eigentlich Gesuchten, sei es in Bezug auf das Opfer der Sippenhaft) politisch, d.h. an asylrelevante Kriterien anknüpfend, ausgerichtet sind. Wird z.B. das Opfer der Sippenhaft verdächtigt, eine oppositionelle Bewegung unterstützt zu haben, so kann, auch wenn eine solche Unterstützung niemals stattfand, eventuell darauf geschlossen werden, daß die Verfolgung des eigentlich Gesuchten aus politischen und damit asylrelevanten Gründen erfolgte.

d) Zwischenergebnis

Verfolgung im Wege der Sippenhaft, sei es durch sog. "Geiselhaft", sei es durch Verfolgung zur Erpressung von Informationen über den eigentlich Verdächtigen, ist als asylrelevant zu qualifizieren, wenn der geplante Zugriff gegenüber dem "eigentlich Verfolgten" an asylrelevante Kriterien anknüpft. Aufgrund des Verwandtschaftsverhältnisses ist auch die Entstehung eines direkt gegen die Betroffene gerichteten Verdachtes von Seiten des Verfolgerstaates denkbar.

Nach der Rechtsprechung soll bei Vorliegen von Referenzfällen für minderjährige Kinder und Ehegatten die sog. "Regelvermutung" für das Vorliegen von Sippenhaft greifen. Mangels derartiger Referenzfälle muß der Vortrag von erlittener Verfolgung wegen Sippenhaft im Einzelfall in Bezug auf seine Asylrelevanz gewürdigt werden. Es kann dann auch nicht auf die Nähe des Verwandtschaftsverhältnisses ankommen. Hier sind in der Rechtsprechung noch große Defizite zu verzeichnen.

III. Zusammenfassung:

Insgesamt bietet das Asylgrundrecht, insbesondere auch in der Prägung, die es durch die höchstrichterliche Rechtsprechung mit Hinblick auf den Grundsatz der Menschenwürde bzw. das Diskriminierungsverbot nach Art. 3 Abs. 3. GG erfahren hat, im wesentlichen die Voraussetzungen dafür, frauenspezifischer Verfolgung gerecht zu werden. (Auf die Verfassungsänderung von 1993 bzw. die äußerst restriktive Rechtsprechung z.B. zu Bürgerkriegsländern oder zu religiöser Verfolgung wird hier allerdings nicht eingegangen.)

Von diesem Instrumentarium wird in zahlreichen Einzelfällen nicht ausreichend Gebrauch gemacht. In vielerlei Hinsicht wird stattdessen sehr restriktiv und frauenfeindlich verfahren. Dem liegen offensichtlich zwei gegenläufige Tendenzen zugrunde. Zum einen ist die Neigung, das Asylrecht aus politisch-taktischen Erwägungen immer weiter einschränken zu wollen, nicht zu verkennen. Zum anderen ist der Prozeß der Bewußtseinsbildung bzgl. des Menschenrechts auf Gleichberechtigung der Geschlechter auch in den westlichen - traditionell patriarchalischen Denkmustern verhafteten - Ländern noch lange nicht abgeschlossen.

Ursula Mees-Asadollah

[ 1 ] Das Zitat lautet im englischen Original: " Where a gender-related claim involves threats of or actual sexual violence at thehands of authorities (or private citizens not susceptible to state control), the claimant may have difficulties in substantiating her claim with any 'statistical data ' on the incidence of sexual violence in her country of origin.... Decision-makers should consider evidence indicating a failure of state protection in that governing institutions and/or their agents in the claimant's country of origin may have condoned the instances of sexual violence if they had been aware of them or did nothing to prevent them " (meine Hervorhebungen).
[ 2 ] Kay Hailbronner: Geschlechtsspezifische Fluchtgründe, die Genfer Flüchtlingskonvention und das deutsche Asylrecht. In: Frauen auf der Flucht. Ihre Rechte im Asylverfahren. Dokumentation des juristischen Symposiums in Hamburg am 25.02.1997, Hrsg. Senatsamt für die Gleichstellung, Alter Steinweg 4,20459 Hamburg, S. 28.
[ 3 ] Das Zitat lautet im englischen Original: "Women who fear persecution as the consequence for failing to conform to, or for transgressing, certain gender-discriminating religious or customary laws and practices in their country of origin. Such laws and practices, by singling out women and placing them in a more vulnerable position than men, may create conditions precedent to a gender-defined social group. The religious precepts, social traditions or cultural norms which women may be accused of violating can range from choosing their own spouses instead of accepting an arranged marriage to such matters as the wearing of make-up, the visibility or length of hair or type of clothing a woman chooses to wear" (Seite 3, meine Hervorhebungen).
[ 4 ] Das Zitat lautet im englichen Original: "Women who fear persecution for reasons solely pertaining to kinship i.e. because of the Status activities or views of their spouses, parents, and siblings, or other family members. Such cases of 'persecution of kin' typically involve violence or other forms of harassment against women, who are not themselves accused of any antagonistic views orpolitical convictions, in order to pressure them into revealing information about the whereabouts or the political activities of their family members. Women may also have political opinions imputed to them based on the activities of members of their family" (meine Hervorhebung).