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Rückblick: Arbeitskampf der Selecta-Angestellten

08.05.2002, 04:20, Wuhrer, Pit

Arbeitskampf | Singen | Hilzingen | Selecta | IG Metall | Streik

3-teilige Artikelserie in der WOZ von Anfang letzten Jahres über den erfolgreichen Streik der Selecta-Angestellten der Niederlassung Hilzingen


1. Teil vom 11.01.2001

Seit fünf Wochen wehren sich süddeutsche Beschäftigte gegen die Frechheiten des schweizerischen Verpflegungsmultis Selecta. Die Belegschaft ruft zum Boykott auf.

Automatisch schlecht entlohnt.

Pit Wuhrer, Singen


Mehr als 27 Jahre sei er nun bei der Gewerkschaft, sagt Karl-Heinz Müller, aber einen solchen Arbeitgeber habe er noch nie erlebt. Müller, Geschäftsführer der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) in der südbadischen Stadt Singen, schüttelt den Kopf. Er habe schon viele komplizierte Verhandlungen führen müssen, noch nie aber sei es vorgekommen, dass sich ein Unternehmen aufspiele wie ein beleidigter Vater, der trotzt, nur weil ihm das Kind nicht so folgt, wie er es gern möchte.

Mehr Freude machen Müller da die Beschäftigten, die sich an diesem Montag wieder einmal im Singener Gewerkschaftshaus versammeln, um über die Fortsetzung ihres Streiks zu beraten, der seit fünf Wochen andauert: «Die stehen prima zusammen, ich bin ganz begeistert.» Und tatsächlich: Die Stimmung ist ausgezeichnet. Die Versammelten wünschen sich fröhlich ein gutes neues Jahr, lachen über Witze und beklatschen die Solidaritätsresolutionen, die Betriebsräte einiger regionaler Grossunternehmen an die Unternehmensleitung geschickt hatten. In einem dieser Schreiben erklärt beispielsweise der Betriebsrat des Singener Aluminiumwerkes Lawson-Mardon, dass für ihn eine Firma nicht mehr akzeptabel sei, die «ihre Beschäftigten in einer Art und Weise behandelt, die an die Feudalherrschaft des frühen 19. Jahrhunderts erinnert». Für die sechzehn Männer und eine Frau im Raum trifft diese Charakterisierung ziemlich genau den Umgang, den die Schweizer Firma Selecta seit Jahren an den Tag legt; mit ihrem Streik wollen sie dafür sorgen, dass dies nun endlich anders wird.

Begonnen hatte der Konflikt schon 1995. In diesem Jahr kündigte die Selecta Deutschland GmbH den bis dahin geltenden kollektiven Tarifvertrag und setzte die Beschäftigten der Niederlassung Hilzingen (ein kleiner Ort in der Nähe von Singen) so lange unter Druck, bis diese Einzelarbeitsverträge unterschrieben. Bis dahin hatten die Beschäftigten für eine 38-Stunden-Woche einen Monatslohn von 3857 Mark brutto (rund 3100 Franken) erhalten; nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben blieben ihnen netto etwa 2000 Franken – kein üppiger Lohn, auch für deutsche Verhältnisse nicht. In den Einzelverträgen wurde auch dieses Entgelt festgeschrieben, gleichzeitig aber die Wochenarbeitszeit um zwei auf 40 Stunden erhöht und die Ferien um einen Tag gekürzt. In den folgenden fünf Jahren lehnte es die Firma kategorisch ab, den Lohn auch nur um eine Mark anzuheben.

Lohnabbau für Motivierte

Die Selecta AG mit Sitz in Zug ist nach eigenen Angaben Europas grösstes Unternehmen im Bereich der Automatenbewirtschaftung. Rund 3400 «hervorragend motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter» (Selecta) in 14 Ländern warten und befüllen in regelmässigen Abständen 65 000 Automaten mit Getränken und Snacks; der Jahresumsatz beträgt derzeit knapp 800 Millionen Franken. 1999 verzeichnete das Unternehmen einen Gewinnzuwachs in Höhe von über 10 Prozent und erhöhte die Dividende seiner Aktien um 15 Prozent. Während der Gesamtkonzern im letzten Rechnungsjahr den Umsatz um 6 Prozent steigerte, konnte die deutsche Selecta-Tochter einen Anstieg um 7,5 Prozent erwirtschaften. Anders als in der Schweiz, wo Selecta-Automaten mit Getränken, Süssigkeiten, Snacks und Zigaretten auch an Tramhaltestellen zu finden sind, beliefert Selecta Deutschland im südbadischen Raum vor allem Grossbetriebe. Die in Pausenräumen stationierten Automaten werden von dezentral operierenden «Befüllern» gewartet und bedient, die Ware nachfüllen, Geldschächte leeren, abrechnen und im Bedarfsfall die Kollegen von der Technik rufen. Die Beschäftigten der Niederlassung Hilzingen zum Beispiel betreuen ein Gebiet, das vom Breisgau bis zum Bodensee reicht.
Die 1995 erzwungenen Arbeitsverträge bescherten dem «Service-Team» Hilzingen einen rapiden Reallohnabbau, da die Firmenleitung selbst einen Teuerungsausgleich ablehnte und auch Überstunden nur teilweise honorierte – dennoch ging es ihnen besser als den meisten der übrigen 700 Selecta-Deutschland-Beschäftigten, denen das Unternehmen ebenfalls einen Tarifvertrag verwehrte und die mit Löhnen zwischen 3300 und 3600 Mark abgespeist werden. Das hat mit ihrer Geschichte zu tun: Die Automatenbefüllung im südbadischen Raum war einst das Geschäft örtlicher Brauereien gewesen, die Tarifverträge und Betriebsräte respektierten. Berthold Armbruster zum Beispiel, einer der Streikenden, erledigt seit vierzig Jahren den gleichen Job – erst im Auftrag der Bilger-Brauerei, dann für die Fürstenberg-Brauerei, seit einem Dutzend Jahren nun für Selecta. Die «Betriebszugehörigkeit» der Streikenden liegt im Schnitt bei zwanzig Jahren.

Im Laufe der Jahre «hat sich der Konflikt hochgeschaukelt», sagt Siegfried Badent, Betriebsratsvorsitzender der Niederlassung Hilzingen: Keine Lohnanpassung, nachteilige Provisionsregelung, Kürzung von Feriengeld und Jahressondervergütung um bis zu 900 Mark. Das Fass zum Überlaufen brachte die Behandlung eines neuen Angestellten, der in der Probezeit 3300 Mark verdiente und dem nach Ablauf der sechs Monate hundert Mark mehr angeboten worden seien beziehungsweise ein Entgelt von 3600 Mark ab sofort, sofern er auf die Bezahlung respektive einen Freizeitausgleich seiner bis dahin geleisteten 106 Überstunden verzichte. «Der Mann war als Springer eingesetzt und überaus kompetent», sagt Badent. Gute «Springer» braucht es, damit die anderen auch mal Ferien nehmen können. Nach diesem frechen Angebot der Firmenleitung kündigte der Neue sofort, woraufhin die übrigen 23 Beschäftigten der Selecta-Service-Stelle Hilzingen Lohnverhandlungen und einen Tarifvertrag verlangten, um endlich die Willkür zu beenden. Doch niemand reagierte.

Das war im November 2000. Am 1. Dezember legten alle BefüllerInnen der Niederlassung Hilzingen für drei Stunden die Arbeit nieder, doch auch der Warnstreik verhallte ohne Echo. Und so votierten die gewerkschaftlich organisierten Selecta-Beschäftigten für eine unbefristete Arbeitsniederlegung.

Der lange Weg zum Automaten

Ihr Streik für einen Tarifvertrag begann am 4. Dezember. Die Geschäftsleitung in der Eschborner Deutschlandzentrale von Selecta, die bis dahin (Gewerkschaftsangaben zufolge) sämtliche Verhandlungsangebote ignoriert hatte, reagierte sofort und schickte Streikbrecher aus: «zumeist Geschäftsführer anderer Niederlassungen», so der NGG-Gewerkschafter Müller. Diese wurden jedoch nicht überall freundlich empfangen. Im Werk von Alusuisse Singen hätte der Betriebsrat vom unbekannten Service-Mann erst die Absolvierung einer Unterweisung in Arbeitssicherheit verlangt. Jeder Besucher des Betriebs müsse sich an die Regeln halten. «Keine Arbeitsschuhe? Dann müssen Sie sich eben welche besorgen!» Wo der honorige Streikbrecher die Schuhe gefunden hat, weiss Müller nicht, aber als der damit ankam, hätten ihm die KollegInnen von Alusuisse Singen erst hier und dann dort eine Schulung abverlangt. «Über zwei Stunden musste der durch den Betrieb rennen, bis er endlich zu den Automaten durfte.»

Dieser Solidarität war es möglicherweise zuzuschreiben, dass die Selecta-Leitung am 9. Dezember ihren Rechtsberater schickte, der sich die Forderungen der Selecta-Beschäftigten anhörte. Er schien – so die NGG Singen – verhandlungsbereit, liess aber am nächsten Tag mitteilen, dass die Firmenleitung nunmehr eine Schliessung der Niederlassung Hilzingen beabsichtige.

In der Region war von Erpressung die Rede, und auch die streikenden Beschäftigten empfanden es so. Sie liessen nicht locker, und so kam es am 20. Dezember in Frankfurt zu einem Treffen, an dem unter anderem ein Vertreter der Schweizer Selecta-Zentrale, Selecta-Deutschland-Chef Michael Wirth, der stellvertretende NGG-Bundesvorsitzende, Gewerkschafter Müller, und Betriebsrat Badent teilnahmen. «In der Sache waren wir uns praktisch einig», erinnert sich Siegfried Badent. «Wir waren zum Abschluss eines Tarifvertrags bereit», sagt Wirth, «und boten drei Prozent mehr.» Auch Karl-Heinz Müller von der NGG Singen glaubte alles geregelt. «Wir vereinbarten, die Sache am 9. Januar unter Dach und Fach zu bringen.» Am nächsten Tag jedoch kündigte die Firmenleitung, so Müller, die Zusammenarbeit auf.

Die Gewerkschaft, sagt Wirth, habe für die Hilzinger Extraforderungen erhoben. Doch daran können sich die Beschäftigten nicht erinnern. «Was wir wollten, war eine Unterschrift», sagt Badent, «und die schriftliche Zusicherung, dass die Streikenden nicht bestraft werden.» Die Unternehmensleitung hingegen verlangte ein sofortiges Streikende. Ohne Vertrag war die Belegschaft dazu aber nicht bereit. Und so herrscht nun Funkstille. Nur über den im Rahmen der angekündigten Schliessung von Hilzingen notwendigen Sozialplan soll nächste Woche verhandelt werden.

Derweil verbreitet sich der «Bazillus», wie Müller das nennt: Aufgemuntert vom Streik im Süden, haben sich auch andere Selecta-Beschäftigte zusammengetan, in einem Fall ist die gesamte Belegschaft einer Niederlassung geschlossen der NGG beigetreten. In der Region Singen haben mittlerweile eine Reihe von Betriebsräten ihre Firmenleitungen aufgefordert, ihre Geschäftsbeziehungen zu Selecta zu überprüfen; in vielen Unternehmen wird der Aufruf zum Boykott der Automaten bereits befolgt. Nun setzen die KollegInnen von Hilzingen noch eins drauf und fordern einen Boykott auch über die Grenze hinweg.


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