|
|
http://www.free.de/Zope/linksrhein/News/1020824416/index_html |
| letzte Änderung: 08/05/02 04:35 |
Arbeitskampf
3-teilige Artikelserie in der WOZ von Anfang letzten Jahres über den erfolgreichen Streik der Selecta-Angestellten der Niederlassung Hilzingen
2. Teil vom 25.1.2001
Europa mal anders: Schweizer Streikbrecher in Süddeutschland.
Sieben Wochen lang haben sie gestreikt, und sie hätten problemlos noch viel länger durchgehalten, denn die Stimmung war gut und die Solidarität lief gerade erst an – aber als die Firmenleitung nachgab und «einen Grossteil unserer Forderungen erfüllte», konnten sie schlecht Nein sagen. Und so votierten am Montag dieser Woche die 19 süddeutschen Beschäftigten des Schweizer Verpflegungsunternehmens Selecta einstimmig für ein Ende ihres Ausstandes, den sie Anfang Dezember begonnen hatten. Grund des Streiks war die Weigerung der deutschen Selecta-Tochter gewesen, mit den Beschäftigten ihrer Niederlassung Hilzingen (bei Singen am Hohentwiel) einen Tarifvertrag abzuschliessen und Lohnverhandlungen zu führen. Seit 1995 hatten die AutomatenbefüllerInnen das gleiche Entgelt erhalten (umgerechnet etwa zweitausend Franken netto), dafür aber zwei Wochenstunden länger arbeiten müssen (siehe WoZ Nr. 2/01). Jahrelang nahmen die Beschäftigten, welche die Snack- und Getränke-automaten warten und auffüllen, die Ver- schlechterung der Arbeitsbedingungen hin; als dann aber neu angestellte Kollegen noch miserabler entlohnt wurden, riss der Geduldsfaden.
Ihr Streik fand in der Region grosse Beachtung. Vor allem die Betriebsräte einiger Singener Grossunternehmen, die von Selecta versorgt werden, forderten ihre Werksleitungen auf, die Geschäftsbeziehungen mit dem Zuger Unternehmen abzubrechen. Aus der ganzen Bundesrepublik seien Solidaritätsbekundungen eingetroffen, sagt Karl-Heinz Müller von der Singener Geschäftsstelle der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG); die grosse IG Metall habe jetzt sogar sämtliche Bezirke aufgefordert, Selecta unter Druck zu setzen. Auch in der Schweiz hat der Boykottaufruf der Streikenden immer mehr Beachtung gefunden. Die zunehmende Publizität des Konflikts verfehlte ihre Wirkung nicht: Mitte letzter Woche nahm die Geschäftsleitung der Selecta Deutschland GmbH Verhandlungen mit der NGG auf, und schon am Freitag waren sich beide Seiten einig: Selecta stimmt einer bundesweiten Vereinbarung zu (akzeptiert also einen Tarifvertrag), erhöht die Löhne ab 1. April um drei Prozent und zahlt eine Einmalprämie in Höhe von 400 Mark. Nutzniesser des Konflikts, so Müller, seien damit auch die übrigen 700 Beschäftigten der deutschen Selecta-Tochter, die am Arbeitskampf gar nicht beteiligt waren.
Zumindest in der Lohnfrage hat sich der Widerstand der südbadischen Selecta-Belegschaft bezahlt gemacht – obwohl das Unternehmen (und das ist möglicherweise ein Novum in der süddeutschen Gewerkschaftsgeschichte) Streikbrecher aus der Schweiz einsetzte. Etwa ab Neujahr, sagt der Hilzinger Betriebsratsvorsitzende Siegfried Badent, seien in den Singener Grossbetrieben wie dem Aluminiumwerk von Alusuisse Schweizer Selecta-Beschäftigte aufgetaucht, um die Automaten zu füllen.
Selectas Retourkutsche: Stilllegung
Ganz ungetrübt ist die Freude der Streikenden allerdings nicht. Denn kurz nach Beginn des Ausstandes hatte die Firmenleitung bekannt gegeben, dass sie die Niederlassung Hilzingen schliessen wolle – angeblich aus Kostengründen. «Dagegen können wir nichts unternehmen», sagt Badent: «Dem Gesetz nach kann jede Firma Betriebsteile stilllegen, egal ob sie Gewinne erwirtschaftet oder nicht – und Selecta macht Profit, das sagen die Manager selber.» Für den Betriebsratsvorsitzenden ist klar, dass der Konzern ganz gezielt vorgeht: «Die haben uns schon vor Streikbeginn gesagt, dass kein Stein auf dem anderen bleibe, wenn wir die Arbeit niederlegen.» Diese Drohung würde nun umgesetzt. Die Begründung der Selecta-Manager, Hilzingen habe seit Jahren nur Verluste eingefahren, lässt er nicht gelten: «Die Geschäftsleitung redet seit langem von einem Defizit, aber warum will sie ausgerechnet jetzt die Niederlassung zumachen?»
Der Singener NGG-Geschäftsführer Müller vermutet noch andere Motive. «Selecta gibt die Region ja nicht auf, sondern möchte hier weiter im Geschäft bleiben und die Kundschaft halten», sagt er. Deswegen biete das Unternehmen den Beschäftigten neue, mittelfristig aber wohl nachteilige Arbeitsverträge an, jedoch nur im Rahmen einer neuen Zuordnung – die Hilzinger sollen auf die Niederlassungen Kempten (im Allgäu) und Stuttgart verteilt werden. Der Trick dabei: Nach dem deutschen Betriebsverfassungsgesetz hat jede Betriebseinheit mit mehr als zwanzig Beschäftigten Anrecht auf einen Betriebsrat. In Hilzingen gibt es diese Interessenvertretung aber nicht (ausser den 19 Streikenden sind dort drei weitere Selecta- Beschäftigte angestellt). «Die wollen die Betriebsratsstruktur zerschlagen», sagt Müller.
Die Verhandlungen über den im Falle einer Betriebsschliessung gesetzlich vorgeschriebenen Interessenausgleich («Sozialplan») haben am Dienstag letzter Woche begonnen. Am nächsten Montag will der Hilzinger Betriebsrat – er ist bislang der einzige offiziell anerkannte Belegschaftsrat bei Selecta Deutschland – seine konkreten Forderungen auf den Tisch legen. Dass die lang gedienten Hilzinger (sie arbeiten im Schnitt seit zwanzig Jahren in dem Job und verfügen über beste Kundenkontakte) nebenbei mit grossem Interesse Stelleninserate lesen, ist angesichts ihrer Erfahrungen mit Selecta nicht weiter verwunderlich. Und dass Selectas Konkurrenten bessere Bedingungen bieten, eigentlich auch nicht.
WOZ 25.01.01
3. Teil vom 15.02.2001
Sozialplan und eine Übernahme
Wenige Tage nach einer Vereinbarung mit süddeutschen Streikenden wurde der Zuger Multi Selecta vom britischen Multi Compass geschluckt.
Man komme schon klar mit der Konzernleitung, die Gewerkschaft sei anerkannt, auch ordentliche Tarifverhandlungen würden geführt. Sicher, es gebe die üblichen Auseinandersetzungen, aber als Arbeitgeber sei das Unternehmen nicht viel schlimmer als andere. Das sagte, von der WoZ befragt, ein Sprecher der britischen Gewerkschaft Unison über die Compass Group, die am Montag dieser Woche bekannt gab, dass sie den Schweizer Verpflegungskonzern Selecta ganz übernehmen wolle. Solch freundliche Worte kann Karl-Heinz Müller über Selecta nicht sagen. Der Singener Geschäftsführer der deutschen Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) ist immer noch empört über die Art und Weise, wie die Zuger Firma mit ihren Beschäftigten umsprang.
Über fünf Jahre lang hatte das Unternehmen seiner Belegschaft im südbadischen Raum einen Tarifvertrag und Lohnerhöhungen verwehrt. Als die AutomatenbefüllerInnen schliesslich genug hatten und Anfang Dezember 2000 in Streik traten, drohte das deutsche Selecta-Management mit der Schliessung der Niederlassung Hilzingen (bei Singen). Die zwanzig Streikenden liessen sich davon nicht beirren – und hatten Erfolg (siehe die früheren Artikel). Selecta gab nach und akzeptierte eine Lohnerhöhung, gleichzeitig unterzeichnete die Geschäftsführung eine Vereinbarung über die Aufnahme von Kollektivverhandlungen mit allen 750 Beschäftigten in Deutschland (also nicht nur mit den Streikenden). Die Verhandlungen beginnen an diesem Freitag.
An der Stilllegung der Niederlassung Hilzingen hielt das Unternehmen allerdings fest – und das war den Streikenden mittlerweile auch recht. Man habe sowieso jede Lust verloren, für dieses Unternehmen zu arbeiten, sagte der Singener Selecta-Betriebsratsvorsitzende Siegfried Badent schon vor Wochen – damals aber hinter vorgehaltener Hand. Nach deutschem Recht müssen im Falle einer so einschneidenden betrieblichen Umstrukturierung Betriebsrat und Geschäftsleitung über einen Sozialplan verhandeln, um die sozialen Folgen betriebsbedingter Entlassungen abzufedern.
Der zu Beginn dieser Woche unterzeichnete Sozialplan sieht für die zwanzig Beschäftigten der Niederlassung Hilzingen Abfindungen in Höhe von insgesamt 740 000 Mark vor.
Unternehmensangaben zufolge entspricht diese Summe dem Jahresgewinn von Selecta Deutschland. Der Streik, so Müller von der NGG-Singen, «hat sich also gelohnt». Erstens sei eine Lohnerhöhung herausgesprungen, zweitens habe die Firma einen Tarifvertrag für alle akzeptieren müssen. Und drittens muss sie auf Basis der höheren Löhne auch höhere Abfindungen für eine Belegschaft zahlen, die aufgrund ihrer Erfahrungen mit diesem Arbeitgeber ohnehin kein Interesse an einer Weiterbeschäftigung hatte. Die Niederlassung Hilzingen wird Ende Juni geschlossen, der letzte Arbeitsvertrag läuft Ende September aus. Bis dahin dürften die meisten jedoch einen neuen Arbeitsplatz gefunden haben.
Doch damit ist die Geschichte nicht vorbei. Kurz nach Selectas Schliessungsdrohung hat die Verwaltungsstelle Singen der IG Metall alle Betriebsräte in der Region aufgerufen, die Geschäftsbeziehungen mit Selecta zu beenden. Da in den meisten Unternehmen der Betriebsrat für die Verpflegung der Beschäftigten zuständig ist («Betriebsräte haben in diesem Bereich eine grosse Gestaltungsbefugnis», sagt Wolfram Schöttle von der Singener IG Metall), darf Selecta demnächst Verpflegungsautomaten aus rund zwei Dutzend Betrieben einsammeln. Die Firma habe einen «Herr-im-Hause-Standpunkt an den Tag gelegt», der «ins vorletzte Jahrhundert» passe, schrieben Metall-Betriebsräte in einer Resolution an Selecta Deutschland.
Das Unternehmen wolle nun mit Arbeitskräften operieren, die 600 bis 700 Mark weniger verdienen als die bisher Beschäftigten, sagt Müller. Doch dieses Konzept könne kaum aufgehen – bisher waren im Schwarzwald und am Bodensee AutomatenbefüllerInnen am Werk, die zur Not auch ein Schweissgerät bedienen konnten, wenn dies erforderlich war. Und Reparaturen gab es genug. Ohne ein Standbein in den Betrieben dürfte es Selecta sowieso schwer fallen, in der Region präsent zu sein. Solche Details kümmerten die Börsenmakler freilich wenig, als sie das Kaufangebot der britischen Compass Group mit einem kräftigen Kurssprung feierten. Vielleicht glauben sie ja, dass die neue Konzernzentrale in Britannien etwas weniger verbohrt und dünkelhaft verbissen mit den Beschäftigten umgeht. Denn dort herrschen meist pragmatische Leute: Sie sind brutal, wenn es die Umstände erlauben, können aber auch moderat sein, wenn örtliche Gepflogenheiten und Widerstand von unten dies erfordern.
Die neue Compass-Führung wird aber kaum Veränderungen vornehmen. Schliesslich gehörten ihr auch bisher schon ein Drittel der Selecta-Aktien, zudem will sie am bisherigen Management festhalten. Wenn die hiesigen Selecta-Beschäftigten ihre Lage verbessern wollen, müssen sie schon selber aktiv werden – und sich vielleicht in Singen erkundigen. Dort wissen inzwischen einige, wie das geht.
WOZ, 15.2.2001