Licht am Horizont
Annäherungen an die PKK
IV. Werte, Prinzipien und Methoden der PKK
IV.1.3. Sozialismus als Gesellschaftform
IV.1.4. Sozialismus als Prozeß
IV.1.5. Sozialismus als internationale Bewegung

IV.1.4. Sozialismus als Prozeß

Das Verständnis von Sozialismus als ein lebendiger Prozeß ist als Kern der Sozialismusauffassung der PKK zu betrachten. Dieser findet wesentlich in der Praxis des Kampfes, in den inneren Auseinandersetzungen der Partei sowie in der Bestimmung ihrer gesellschaftlichen, unter anderem internationalen Position statt: Die PKK „hat den Sozialismus in ihrem nationalen Befreiungskampf, basierend auf der Realität Kurdistans, zum Faktum einer sich entwickelnden Praxis gewandelt." (13) Innerhalb dieses Prozesses steht die Schaffung des 'neuen Menschen' an erster Stelle, das heißt die Schaffung einer sozialistischen Persönlichkeit.

„Seit ihrer Gründung hat die PKK immer gesagt, daß sie für den Sozialismus kämpft und daß die ihren Begriff davon immer in Verbindung mit der sozialistischen Persönlichkeit bestimmt hat. Damit hat sie sich als Bewegung gesehen, die einen neuen Menschen schaffen wollte. Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus erklärte die Partei, daß der einzelne Mensch sein Bewußtsein ändern muß, um überhaupt ein sozialistisches System schaffen zu können. Sie sagt: Wir können diesen Teil, den der Realsozialismus nicht bewältigte, verwirklichen."

Wichtigster Reibungs- und Bezugspunkt bei jeder Debatte um die Persönlichkeitsänderung ist die Klassenzugehörigkeit beziehungsweise --herkunft. Im Verlauf des III. Parteikongresses 1986 wurde dazu folgende Aussage geprägt: „Das, was wir heute hier analysieren, ist nicht der jetzige Moment, sondern die Geschichte. Und wir analysieren nicht den einzelnen Menschen, sondern die Klasse, die Gesellschaft."
„Der Bezug auf das Individuum ist also nur über seine soziale Zugehörigkeit und sein politisches Bewußtsein möglich und sinnvoll. Es geht niemals allein um psychologische Konstellationen bei der In-Frage-Stellung von Persönlichkeiten."
 „Die PKK vertritt die Vorstellung, daß der Einzelne nur durch einen Kampf zur Freiheit gelangen kann, daß er aber gleichzeitig Vertreter einer Klasse ist. Dabei muß er sich selber überwinden, z.B. sein eigenes Klassenbewußtsein. Eine Änderung seiner Persönlichkeit muß stattfinden. So wird innerhalb der PKK der Einzelne als Ausdruck einer bestimmten Klasse verstanden. Mit diesem Klassenbewußtsein handelt er und versucht, ein proletarisches Bewußtsein zu erreichen. Er macht sich die Realität, aus der er kommt, seine Klasse, seine Schicht bewußt und versucht so, dieses alte Klassenverständnis zu überwinden. So hat die PKK auch immer vertreten, daß der Imperialismus nicht nur die Arbeitskraft des Einzelnen ausbeutet, sondern genauso sein Bewußtsein beeinflußt und ausbeutet."

Im Wesen haben wir es also mit der Fortsetzung und Erweiterung des Prozesses zu tun, den Frantz Fanon als Dekolonisation beschreibt. „Die Dekolonisation ist wahrhaft eine Schöpfung neuer Menschen. Aber diese Schöpfung empfängt ihre Legitimität von keiner übernatürlichen Macht: das kolonisierte 'Ding' wird Mensch, gerade in dem Prozeß, durch den es sich befreit." (14)

Ausgangsbedingung für den Wandel der Persönlichkeit ist auch für die PKK der kolonialisierte und feudal geprägte Zustand, außerdem das menschliche oder vielleicht sogar revolutionäre Potential, das in jedem Individuum angelegt ist.

„Die PKK ist gleichzeitig der Kampf um den Beweis, daß dieser Mensch, der durch die Systeme - vor allem das letzte -so tief fallen gelassen wurde, auch wieder aufstehen kann. Mit Hilfe des sozialistischen Bewußtseins kann dieser Mensch den aufrechten Gang wieder lernen. Unsere Parteiführung hat von Anfang an gesagt, daß unsere Gesellschaft so aufgebaut bzw. so zurückgeblieben ist, daß wir noch keine sozialistische Persönlichkeit haben. Von diesen Bedingungen, von dieser Realität müssen wir ausgehen; wir haben eben keine anderen Bedingungen. Der Mensch wird gewonnen, indem versucht wird, seine positiven Eigenschaften - auch wenn es nur eine einzige geben sollte - zu entwickeln, zu entfalten und zu fördern und damit diesen Menschen insgesamt zu entwickeln.

Natürlich handelt es sich bei dieser Persönlichkeitsentwicklung um einen komplexen, langwierigen und nicht schmerzfreien Prozeß. Allerdings erwartet die Partei dabei auch die subjektive Anstrengung des Einzelnen, sich der öffentlichen Auseinandersetzung mit sich selbst zu stellen und - auch entsprechend den Bedingungen und Anforderungen des Kampfes - darin ein eigenes Ziel zu benennen und zu verfolgen. Auch wenn durch die eigene Praxis im Kampf diese Entwicklung vorangetrieben wird, kommt es nicht zu einer Überbewertung dieses Faktors: die Bewußtwerdung des Individuums bleibt unverzichtbar. Für den entsprechenden Prozeß wurden bereits eine Reihe von Institutionen und Regeln geschaffen. (15)

Einschränkend stellte Abdullah Öcalan jedoch dazu fest, daß die Schaffung des 'neuen Menschen' durch zentralistische Methoden nicht möglich ist (Interview vom 6. August '95) und er als 'Lebensform' geschaffen werden muß.

Die Zielvorstellung vom 'neuen Menschen' erwies sich in einer weiteren Umfrage unter den Lehrgangsteilnehmerinnen als das Bild einer schöpferischen, aktiven, politisch bewußten Persönlichkeit, die sich entschieden gegen das System der Ausbeutung stellt und zutiefst menschlich und kollektiv denkt und handelt. Eine Freundin brachte ihre Vorstellung vom 'neuen Menschen' mit folgenden Worten zum Ausdruck: „Das ist ein Mensch, der richtig lieben, richtig hassen und richtig leben kann. So wie er sein will, soll er auch werden können."

Es ist jedoch nicht so, daß die Verwirklichung dieser hohen Ansprüche auf einen unbestimmten Zeitpunkt nach der Revolution, nach dem Sieg verschoben wird. Der gesellschaftliche Bereich, in dem die Umsetzung sozialistischer Prinzipien in die Praxis schon am weitesten fortgeschritten und wo dies auch am entschiedensten gefordert wird, ist die Guerilla. „Erstens ist die Armee der Schutz für alle geschaffenen Werte. Zweitens ist sie die Trägerin des sozialistischen Bewußtseins, des sozialistischen Verständnisses, das sie auch an die Gesellschaft weitergibt. Drittens ist die Armee diejenige Kraft, welche die in Kurdistan geschaffene Arbeit in Werte verwandelt und das entsprechende Bewußtsein von diesen Werten schafft. Viertens ist die Armee die Basis für die sozialistische Gesellschaft. Es ist der Anspruch von unserer Parteiführung an die Guerilla, daß sie eben nicht nur eine militärische Waffe ist." Sowohl in der Guerilla als auch in der Partei insgesamt werden sozialistische Organisationsprinzipien durchgesetzt, die im Abschnitt 'Prinzipien und Methoden' ausführlicher dargestellt sind. Wesentlich dabei ist das Prinzip der Kollektivität, das in keinem Bereich außer Kraft gesetzt werden kann, und auch mit der Konsequenz realisiert wird, daß das Wissen, das Handeln, die Arbeit des Einzelnen für alle offen, zugänglich und kritisierbar sein müssen. Aus den entsprechenden Institutionen und Regeln haben sich teilweise auch bereits neue Gewohnheiten entwickelt, wie z.B. eine große Hilfsbereitschaft und Aufmerksamkeit für die Situation der GenossInnen. Die Verankerung dieser Gewohnheiten in der Bevölkerung, die Erkenntnis von der Nützlichkeit sozialistischer, kollektiver Methoden allein kann diesen Prozeß unumkehrbar machen und die damit verbundenen Mühen akzeptabel.
 


(13) Kurdistan Report 6, 1990, 35.
(14) Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt, 1994, 30.
(15) vgl. den Abschnitt IV.6. 'Prinzipien und Methoden'; IV.6.4. Persönlichkeitsfrage;  IV.6.7. Kritik und Selbstkritik; IV.6.8.  Kollektivismus